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Detlev Lücke
Frieden heißt, in Damaskus einzukaufen
Erinnerungen an eine Reise ins gelobte
Land
Gerade hat das israelische Parlament, die Knesseth, beschlossen,
keine Volksabstimmung über den geplanten Abzug israelischer
Truppen aus dem Gaza-Streifen zuzulassen. Wer einmal in Tel Aviv
und Jerusalem gewesen ist, verfolgt die Berichte mit Neugier,
Anteilnahme, aber auch mit Skepsis. Seit Jahrzehnten organisiert
die Bundeszentrale für politische Bildung Reisen für
deutsche Studenten, Journalisten, Künstler, Lehrer und viele
andere Berufsgruppen nach Israel. Die Teilnehmer kehren klüger
zurück, als sie hingefahren sind. Ein konkreter Beitrag zu den
deutsch-israelischen Beziehungen, ein Beitrag zur Normalität
eines noch immer aus historischen Imponderabilien unnormalen
Verhältnisses. Ich bin bisher dreimal in Israel gewesen, davon
1994 und 1996 zweimal mit Bundeszentrale. 1994 hat sich mir
besonders eingeprägt, weil es beim Betrachten der Fremde
Freundschaften mit den Kollegen aus der Nähe gab, mit Astrid
vom Deutschlandradio, Annette vom ORB, Marion vom Spiegel, Thomas
vom Akademie-Verlag, Gisela vom Südwestrundfunk und vielen
anderen. Wir kamen in ein Israel, das nach dem Oslo-Abkommen in
einer Aufbruchstimmung lebte, in der vieles möglich schien.
Aus meinem damaligen Reisetagebuch sollen einige Erinnerungen
dafür stehen.
Auf der Mole von Akko, der uralten Kreuzfahrerstadt, steht ein
Mann. Er hält eine fast zehn Meter lange Angel, die er von den
hohen Mauer aus immer wieder geduldig in die Brecher des
Mittelmeeres wirft. Fangen tut er nichts. Eine friedliche Stimmung.
Hinter dem Angler erheben sich zwei Kuppeln eines arabischen
Hauses, die eine wird von einem Halbmond bekränzt, die andere
von einer Fernsehantenne. In Akko, nahe bei Haifa, weißt du in
den Altstadtstraßen nicht, ob dir Araber oder Juden
entgegenkommen. Die jahrhundertealten Mauern sublimieren die
Unterschiede. Wer arm ist, sieht gleich aus. Könnte dieses
verträumte Akko Anfang sein von etwas, das Frieden und
Koexistenz bedeutet? In Akko wird seit Jahrtausenden Handel
getrieben, ich erinnere mich an ein Buch aus Kindheitszeiten "Das
Schiff aus Phönizien", die Geschichte eines Jungen, der das
Alphabet lernt, Aleph, Bet, Gimel, woraus später das
griechische Alpha, Beta, Gamma wird. Wiegen der Menschheitskultur,
in Israel stehen viele. Der Sultan Saladin kämpfte in Akko
gegen die Kreuzritter, die das Heilige Grab in Jerusalem retten
wollten. Was glaubten sie dort zu finden? Lessing hat uns mit der
Ringparabel ein Modell geliefert für das Zusammenleben von
drei Religionen. Ein schöner Traum. In Akko darf man ihn
träumen. Während der Sommermonate 1994 hat dort eine
Theatergruppe gespielt. Sie versuchte, das Trauma von Auschwitz
spielerisch zu verarbeiten. Akteure wie Zuschauer wurden
Mitwirkende im schlimmen Spiel, die Rollen von Tätern und
Opfern wurden vertauscht. Eine äußerst riskante Therapie.
Shmuel Huppert, Literaturkritiker und Schriftsteller in einem, der
als Jugendlicher das KZ Bergen-Belsen überlebte, wollte uns
damals den Konflikt zwischen Juden und Arabern über deren
unterschiedliches Wertesystem erklären. "Für die Juden
sind Recht und Unrecht die wichtigsten Begriffe, für die
Araber Stolz und Schande." Die Zeit scheint ihm leider Recht
gegeben zu haben.
Auf den Golanhöhen liegt der Kibbuz Merom. Er wurde 1967
nach dem Sechs-Tage-Krieg gegründet, als Israel Syrien dieses
strategisch wichtige Gebiet wegnahm. Von den kahlen, schwarzen
Bergen hatte syrische Artillerie die Dörfer in der Ebene bis
zum See Genezareth bestrichen. 450 Menschen leben und arbeiten in
Merom. Sie ernähren sich von Apfelanbau, Viehzucht,
Mangoplantagen und einer Elektromotorenfabrik. Drora Schenk war
damals 44 Jahre alt und Kibbuzvorsitzende. Gemeinsam mit Tatjana
Frankenthal, die ebenfalls in der Leitung der Gemeinde
mitarbeitete, erzählte sie uns die Lage an der ruhigsten Front
ihres Heimatlandes. Drora Schenk hatte einen 19tägigen
Hungerstreik hinter sich, mit dem sie demonstrieren wollte, dass
sie niemand vom Golan wegbekommt. "Meine Eltern sind aus Breslau
vertrieben worden. Uns wird hier niemand vertreiben. Wenn wir hier
nicht kämpfen, fällt Jerusalem." Am Golan bebt es
unterirdisch. Die Formel Land für Frieden verunsicherte damals
und verunsichert wohl auch heute die Kibbuzbewohner. "Golan ist ein
Spekulationsobjekt, aber wir haben nicht so viel Masse, um an der
Bank Weltpolitik zu spekulieren", sagte Tatjana Frankenthal, deren
Eltern ebenfalls aus Deutschland stammten und die bis Ende der
80-er Jahre in Argentinien lebten. Wir stiegen hinter dem Kibbuz
die steilen Höhen hinauf. In einer alten Panzerstellung,
umgeben von Stacheldrahtgestrüpp, ließen wir die Blicke
schweifen. Der fast 3.000 Meter hohe Berg Hermon lag mit seinem
ewigen Eis nicht weit. Damaskus war 40 Kilometer entfernt,
erreichbar für die israelische Fernartillerie. Im Tal
unterhalb des Golans waren UN-Posten stationiert, davor die
ausgestorbene syrische Stadt Kuneitra. Ihre Vorstellung sei es, in
Damaskus einkaufen zu gehen, sagte Tatjana Frankenthal
überraschend. Ein Wunsch, der in seinem Pragmatismus
weltenfern ist. 1981 hatte ich die Golan-Höhen von Damaskus
aus gesehen. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, in 13 Jahren
dort zu stehen und in die andere Richtunzu schauen... "Alles ist
möglich", sagte ich Tatjana.
An der Universität Haifa hat Professor Eugen Wiener,
Lehrstuhlinhaber für Soziologie, Koexistenzprojekte mit
jüdischen und arabischen Studenten ins Leben gerufen.
Über 50 Prozent der Studenten in Haifa sind Araber. Auch Nidal
Rafa, die Geschichte des Nahen Ostens studiert und in Haifa zu
Hause ist, wo ihrer Meinung nach Koexistenz am besten funktioniert.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass in der Hafenstadt genügend
Arbeitsplätze vorhanden sind. "Sie leben in ihrer
Realität, wir in unserer", sagt die schöne schwarzhaarige
Nidal und meint, dass man "face to face" miteinander reden soll.
Nidal gehört zu den israelischen Staatsbürgern arabischer
Nationalität. "Es gibt keine Alternative zur Koexistenz", sagt
Professor Wiener. "Ich kann die Hörsäle füllen mit
Arabern wie Nidal, aber auch mit Fundamentalisten."
In unser Jerusalemer Hotel kommt der weise, greise
Religionswissenschaftler und Schriftsteller Schalom Ben-Chorin. Wir
dürfen uns in der kleinen Synagoge des Hauses mit ihm treffen,
ein außerordentliches Entgegenkommen unserer auch sonst so
entgegenkommenden Gastgeber. Ben-Chorin hat eine Karaffe Wasser und
einen guten Kognak vor sich stehen, von beidem nimmt er
bedächtig. Er spricht über den jahrtausendealten
christlich-jüdischen Dialog, über die
Streitgespräche und Übereinstimmungen zwischen Jesus und
den Pharisäern, die ihn an Streitgespräche erinnern
zwischen Stalin und Trotzki. An Disputationen, wie sie den Juden
aufgezwungen wurden von den Christen zwecks Umstimmung. "Mission
ist Überredung, Dialog Unterredung", sagt Ben-Chorin. Er
bringt zusammen in ein Bild den Rauch von den "Wohnungen des Todes"
(Nelly Sachs) und von den ausgebombten deutschen Städten. Er
darf dieses Bild wählen. Schalom Ben-Chorin sieht das
christlich-jüdische Gespräch auf gutem Weg, er
würdigt Karl Barth, der dieses älteste Schisma der
Religion überwinden half. Einen jüdisch-moslemischen
Dialog kann er nicht erkennen. Es herrsche Monotheismus auf beiden
Seiten, das Gespräch sei blockiert. "Mit Fundamentalisten kann
man keinen Dialog führen", meint er resigniert und setzt sich
am Ende unseres Besuches entschieden für die Trennung zwischen
Religion und Staat in seinem Heimatland ein. "Ohne Religionsfriede
kein Weltfriede", lautet des Credo von Schalom Ben-Chorin.
Wie soll das gehen in einem Staat, dessen tägliche Gesetze
sich aus der Bibel herleiten? In der Jerusalemer Altstadt leben,
auf ein paar Quadratkilometern zusammengedrängt, jene drei
Religionen, deren Auseinandersetzungen über den ganzen Erdball
gehen. Sie sind vereint im Handel auf dem jüdischen,
christlichen und arabischen Basar. Den Touristen treffen die
gleichen Sätze: "Kommen Sie, gucken kost nix", "Heute
Sommerschlussverkauf." Mittags läuten die Glocken der
armenischen Kirche, der Muezzin ruft seine Leute zum Gebet, und vor
der Klagemauer beweinen orthodoxe Juden die Zerstörung des
jüdischen Tempels im Jahre 70 vor Christus durch die
Römer.
In Yad Vashem, der Mahnstätte für den Holocaust an
sechs Millionen europäischer Juden, dürfen wir über
unseren, den deutschen Beitrag zur Vertreibung und Vernichtung
unschuldiger Menschen nachdenken. Wir treten in einen schmalen Gang
rechts und links aufgetürmter Sandsteine. Sie sind gelb wie
die Wüstenfestung Massada, wo vor 2000 Jahren die von den
Römern belagerten jüdischen Verteidiger kollektiven
Selbstmord begingen. In der Gedenkstätte hat jede
untergegangene jüdische Gemeinde Europas ihren Namen erhalten.
Hinter jedem Ort stehen ungenannte Menschen, die Adolf Hitler nicht
kannten, und er sie nicht. Sie kamen durch seine Millionen
Handlanger ums Leben. In Yad Vashem schlucken Deutsche die Asche
der Erinnerung. Gerade zeigt man eine Sonderausstellung über
das Ghetto Lodz. Der deutsche Stadtkommandant hieß
Übelhör, auf dem Stadtplan von Litzmannstadt 1942 gibt es
auch eine Maler-Klecksel-Straße. Biederkeit, die das Sterben
Unschuldiger mitermöglicht hat. "In der Kunst kann man alles
überwinden, selbst das Lager", sagte der Hebraist Gershon
Shaked. "Wir haben einen Unsicherheitskomplex, obwohl wir es einen
Sicherheitskomplex nennen", meint er und wünscht sich, dass
Politiker Pferdehändler wären und keine Ideologen. "Das
Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis ist keine
äußere, sondern eine innere Angelegenheit."
Detlev Lücke ist Leitender Redakteur bei der Wochenzeitung
"Das Parlament".
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