Karl-Rudolf Korte
Soziale Allheilmittel gesucht
Suche nach der optimalen
Daseinsvorsorge
Der Staat soll die Daseinsvorsorge seiner Bürger
garantieren und Sicherheit gewähren. Doch was bedeutet das
konkret? Politisch-kulturell wünschen sich die meisten
Deutschen den Staat als Rundumversorger. Er soll möglichst
alles regeln und er bleibt Adressat für die Probleme des
Alltags. Welche Überforderung damit einhergeht, wird an der
Arbeitslosigkeit deutlich. Im Verständnis vieler Bürger
sollte der Bundeskanzler persönlich Arbeitsplätze
schaffen.
Das sich darin widerspiegelnde typisch deutsche
Staatsverständnis sieht sich seit den 80er-Jahren mit
materiellen Gegentrends konfrontiert, die Gegenstand der Analyse
der beiden Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Volker Schneider
und Marc Tenbrücken sind. Denn die Privatisierung einst
staatlicher Unternehmen ist in allen OECD-Ländern weit
fortgeschritten. Der Staat hat sich damit sichtbar elementarer
Aufgaben entledigt. Prominente Beispiele in Deutschland sind Bahn,
Post und Telekommunikation. Nationale Regulierungsbehörden
achten auf die Erfüllung von Bereitstellungspflichten und
steuern die vorsichtige Entmonopolisierung bestimmter Bereiche.
Die acht Autoren des Buches untersuchen diese Entwicklungen aus
staatstheoretischer und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Sie
beschreiben Privatisierungsprozesse in 26 OECD-Ländern und
drei Sektoren (Kommunikation, Energie, Verkehr) und fragen nach der
Rolle institutioneller, ökonomischer und politischer
Bedingungen im Zuge von Europäisierung und Globalisierung. So
entstand ein vergleichend angelegtes Kompendium, das methodisch und
analytisch einem Forschungsbericht gleicht.
Stringent und methodisch höchst reflektiert arbeiten die
Autoren drei Bereiche ab: Theorien und Konzepte, Strukturen und
Prozesse sowie Erklärungen und Interpretationen. Es ist sehr
interessant, hinter das Geheimnis der Regierungsstrategien zu
gelangen, warum bislang staatlich koordinierte
Infrastruktursektoren für den Wettbewerb geöffnet wurden.
Dass damit generell eine Transformation von Staatlichkeit einher
ging, haben viele Teilbereiche der Politik- und
Verwaltungswissenschaften mittlerweile hinreichend empirisch
belegt. Für die Wandlungsprozesse im Bereich der
Infrastrukturen schließen die Konstanzer mit dieser
Publikation eine wichtige Forschungslücke.
Natürlich gibt es keine einfachen Erklärungen für
den Transformationswettbewerb. Mal lässt sich der Rückzug
des Staates über institutionelle Faktoren belegen, mal
erklärt sich die Veränderung durch Veto-Spieler oder
parteipolitische Regierungsprofile. Parteien hatten in den
80er-Jahren, also in der Frühphase der Privatisierungen, einen
entscheidenden Einfluss, der sich auf die Kurzformel der Autoren
bringen lässt: "rechte Parteien haben privatisiert, linke
nicht". Allerdings lässt der Einfluss der Parteien in den
90er-Jahren deutlich nach. Unabhängig von der Parteifarbe wird
privatisiert; auch linke Regierungen stehen danach unter dem Druck
der Offenheit der Finanzmärkte.
Insgesamt können die Autoren nachweisen, dass die Wirkungen
politisch-institutioneller Arrangements sowie des Korporatismus im
untersuchten Transformationsprozess eine wesentlich geringere Rolle
spielen, als dies bislang erwartet wurde. Die Infrastrukturpolitik
betont Wettbewerb und Effizienz anstelle von Monopolstrukturen und
öffentlichem Interesses. Ob damit gleichermaßen auch die
allgemeinen Erwartungen befriedigt werden, steht nicht im
Untersuchungszentrum. Denn die Knappheits-Rhetorik der Politiker
konterkarieren die Bürger zunehmend mit immer neuen
Sicherheitsbedürfnissen. In Großbritannien sind schon
entsprechend umgekehrte Tendenzen einer erneuten Verstaatlichung im
Verkehrswesen zu beobachten. Erklärungen und Interpretationen
für beide Szenarien lassen sich auf Grund der Analysen im Buch
finden.
Volker Schneider / Marc Tenbrücken (Hrsg.)
Der Staat auf dem Rückzug.
Die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen.
Campus Verlag Frankfurt/M./New York 2004; 356 S., 39,90
Euro
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