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Frank Decker
Die EU ist gut vorangekommen
Jahrbuch zur europäischen
Integration
Das vergangene Jahr war für die EU in
doppelter Hinsicht epochal. Zum einen hat die Gemeinschaft zehn
neue Mitglieder aufgenommen und damit die bisher größte
Erweiterung ihrer Geschichte vollzogen; zum anderen wurde, nachdem
der erste Anlauf im Dezember 2003 an der Uneinigkeit über die
künftige Stimmengewichtung im Ministerrat gescheitert war, am
18. Juni der Europäische Verfassungsvertrag (EVV) von den
Staats- und Regierungschefs in Brüssel feierlich
unterzeichnet. Mit ihm bekommt die Union zum ersten Mal einen
zusammenfassenden konstitutionellen Rahmen, der ihren
quasi-staatlichen Charakter nach innen und außen
dokumentiert.
Parallel und ergänzend zur verbesserten
Handlungsfähigkeit hat die Verfassung die Legitimation der
europäischen Entscheidungsträger sowohl auf der
supranationalen als auch auf der intergouvernementalen Ebene
erhöht. Gewiss wird das Demokratiedefizit damit noch nicht
behoben - genauso wenig, wie die Gemeinschaft durch die
Osterweiterung bereits ihre endgültige territoriale Struktur
erreicht. Der doppelte Integrationssprung von 2004 hat sie aber auf
dem Weg zu ihrem finalen Zustand ein großes Stück
vorangebracht.
Es ist deshalb kein Wunder, dass sich beide
Themen wie ein roter Faden durch die Einzelbeiträge des jetzt
zum 24. Mal erschienenen "Jahrbuchs der Europäischen
Integration" ziehen. Das Periodikum ist längst zu einem
unentbehrlichen Nachschlagewerk in Sachen EU avanciert, das Verlauf
und Ergebnisse des Integrationsprozesses seit 1980 akribisch
nachzeichnet. An der bewährten Systematik wurde auch jetzt
festgehalten. Nach drei einleitenden Beiträgen werden
zunächst (in neun Einzelbeiträgen) die Institutionen der
EU und sodann (in 16 Beiträgen) ihre Politikbereiche unter die
Lupe genommen.
Es folgen ein längerer Block zu den
Außenbeziehungen der EU, in dem sachliche und regionale
Gliederungsgesichtspunkte verknüpft werden (elf
Beiträge), und ein kürzerer Block zur politischen
Infrastruktur (Parteien, Interessenverbände, Öffentliche
Meinung), der von der Systematik her eigentlich besser vor den
policy-bezogenen Kapiteln Platz gefunden hätte. Der
anschließende Block über die Europapolitik in den
Mitgliedstaaten umfasst 25 Beiträge, während der
Abschnitt über die künftig anstehenden Erweiterungen mit
einem Überblick und drei Länderbeiträgen (Bulgarien,
Rumänien, Türkei) entsprechend kürzer ausfällt.
Den Schluss setzt ein erstmals aufgenommener Block über die
Europapolitik in "anderen Organisationen" (Europarat und UN).
Abgerundet wird das Jahrbuch wie üblich durch
ausführliche Chronologie, umfangreiche Bibliographie und
Linksammlung.
Forschungsbericht
Einen genaueren Blick verdienen die drei
Einleitungsbeiträge, die ein gelungenes Gesamtpanaroma des
Integrationsprozesses im Berichtszeitraum zeichnen. Während
Weidenfeld mit leichtem Stil die Grundlinien zieht und dabei eher
im Kontext der Internationalen Politik verbleibt, analysiert sein
Ko-Herausgeber die EU bereits ganz aus der gouvernementalen
Perspektive eines politischen Systems. Sein Text ist in erster
Linie als politikwissenschaftlicher Forschungsbericht gedacht, der
den "state of the art" der Disziplin umreißt und Schneisen in
die inzwischen kaum noch überschaubare Literatur
schlägt.
Der dritte Beitrag vom Heidelberger
Staatsrechtler Peter-Christian Müller-Graff widmet sich dem
jetzt auf den Weg gebrachten Verfassungsvertrag. In der
präzisen wie ungelenken Sprache des Juristen werden dessen
Strukturmerkmale systematisch herausgearbeitet, wobei der Autor den
völkervertraglichen Charakter des Entwurfs ebenso betont wie
die grundsätzliche konzeptionelle Kontinuität zum
gegenwärtigen Primärrecht. Die Doppelnatur der
Gemeinschaft als supranationales und zugleich intergouvernementales
Gebilde, die Müller-Graff mit dem schwammigen Begriff
"föderationsartig" umschreibt, bleibe unter dem Vertrag
erhalten und werde durch ihn "mit einigen neuen Akzenten
systemrational fortgebildet. Eine Revolution im europäischen
Verfassungsraum findet nicht statt".
Etwas bedauerlich ist, dass andere
übergreifende Fragen des Integrationsprozesses im Jahrbuch nur
sporadisch aufgegriffen werden konnten. Dies gilt für die
Debatte um die kulturellen und geografischen Grenzen der EU aus
Anlass der Türkei-Frage oder den wachsenden Euroskeptizismus
in vielen Mitgliedstaaten, der zur gestärkten
verfassungsrechtlichen Legitimität der Union in
bemerkenswertem Kontrast steht. Eine eingehendere Betrachtung
hätte hier wohl aber den auf 500 Seiten begrenzten Umfang des
Werkes gesprengt, für dessen Gebrauchswert es ja gerade
wichtig ist, dass die Beiträge nicht ausufern. Die
Gratwanderung von analytischer Vertiefung und empirischer Breite
ist den Herausgebern und Autoren auch jetzt wieder geglückt.
Wer sich über das Fortschreiten der europäischen Einigung
wissenschaftlich aktuell auf dem Laufenden halten möchte, wird
deshalb am Jahrbuch weiterhin nicht vorbeikommen.
Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels
(Hrsg.)
Jahrbuch der Europäischen Integration
2003/2004.
Nomos Verlag, Baden-Baden 2004; 524 S.,
49,- Euro
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