Michael Edinger
Fraktionsunterschiede wichtiger als
Ost-West-Unterschiede
Berliner Abgeordnete: Teilzeitparlamentarier mit
Vollzeitjob
Dass das Berliner Abgeordnetenhaus unter den deutschen
Landesparlamenten ein ganz besonderes ist, meinen nicht nur
eingefleischte Berliner. Hohe Frauenanteile, kurze Verweildauer und
ein eher geringer Professionalisierungsgrad etwa gelten seit
längerem als charakteristisch für das Abgeordnetenhaus.
Doch die Besonderheiten des Berliner Parlaments beschränken
sich zumal seit der "Wende" nicht auf diese Faktoren. Dies
unterstreichen Ergebnisse einer Abgeordnetenbefragung der
Universität Jena aus dem vergangenen Winter (vgl. "Das
Parlament" vom 16. Februar 2004), an der sich 116 von 141
Mitgliedern des Abgeordnetenhaus beteiligten.
Die Jenaer Studie bestätigt zunächst ein vertrautes,
gleichwohl gerne übersehenes Charakteristikum der Berliner
Abgeordneten: Sie sind Teilzeitparlamentarier mit einem
Full-Time-Job. Der Status als Teilzeitparlamentarier ist keine
rechtliche Fiktion. Tatsächlich geht jeder zweite Abgeordnete
neben dem Mandat noch einer (weiteren) beruflichen Tätigkeit
nach. 24 Stunden pro Woche werden im Schnitt dafür aufgewandt.
Dies erklärt zugleich, weshalb die Zeit, die die Berliner
Abgeordneten für die Ausübung ihres Mandats aufwenden, um
11 bis 13 Stunden niedriger liegt als im Schnitt der übrigen
untersuchten Landtage.
Zwei Abgeordnetentypen
Eine Teilzeitbeschäftigung ist das Mandat deswegen
mitnichten. Mit einem wöchentlichen Arbeitsaufwand von 46
Stunden während der Sitzungswochen wird sogar die tarifliche
Arbeitszeit übertroffen. Frappierend sind die Unterschiede
zwischen den Fraktionen (siehe Tabelle). Bündnisgrüne und
PDS-Abgeordnete wenden im Schnitt 15 bis 20 Stunden mehr auf als
die Mitglieder der übrigen Fraktionen. Dies bedeutet freilich
nicht, dass die Parlamentarier von SPD, CDU und FDP faul
wären. Im Unterschied zu fast allen Abgeordneten von PDS und
Bündnis 90/Die Grünen gehen sie jedoch mehrheitlich einer
Erwerbstätigkeit außerhalb des Parlaments nach.
Faktisch kristallisieren sich zwei Typen von Parlamentariern im
Abgeordnetenhaus heraus: Der erste Typ, dem vor allem Vertreter der
beiden größten Fraktionen zuzurechnen sind, betreibt das
Mandat zwar faktisch als Vollzeitjob, es dient ihm jedoch nur als
eine Quelle des Unterhalts. Der vorwiegend aus den Reihen von PDS
und Bündnisgrünen gespeiste zweite Typ lebt
demgegenüber gleichermaßen für die Politik wie er -
ausschließlich - von der Politik lebt. Dass dieser Typus im
Abgeordnetenhaus anders als in den Parlamenten der
Flächenstaaten (noch) in der Minderheit ist, liegt nicht
zuletzt in der vergleichsweise geringen Grundentschädigung
begründet.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass eine
bessere Sach- und Personalmittelausstattung ganz oben auf der
Agenda der Berliner Abgeordneten steht. Diese untypische
Priorität ist Ergebnis der Doppelbelastung, der sich die
meisten Abgeordneten als Teilzeitparlamentarier mit Vollzeitjob
ausgesetzt sehen. Entsprechend nachdrücklich wird die
Forderung von Mandatsträgern der Union und der SPD erhoben.
Womöglich drückt sich darin aber noch ein ganz anderer
Wunsch aus: der nach einem Vollzeitparlament.
Ost-West-Unterschiede
Im Vergleich von Ost- und Westberliner Abgeordneten ergeben sich
teils erhebliche Unterschiede. Allerdings sind viele davon - und
das ist ein zentrales Ergebnis der Studie - allein der ungleichen
politischen Zusammensetzung von Ost- und Westberliner
Mandatsträgern geschuldet. Letztlich bestimmt maßgeblich
die politische Farbenlehre die Einstellungen der Parlamentarier.
Anschauungsmaterial dafür bietet nicht zuletzt die
Mandatszufriedenheit. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Mehrheit
der Abgeordneten weitgehend oder sogar sehr zufrieden mit ihrer
Tätigkeit. Dass der Anteil unter den Osterberliner
Volksvertretern niedriger ist als unter den Westberlinern,
erklärt sich schlicht aus dem starken Anteil von
PDS-Abgeordneten. Die vergleichsweise geringe Mandatszufriedenheit
in den Reihen der kleineren Regierungsfraktion macht das
Abgeordnetenhaus zugleich zum einzigen Landesparlament, in dem sich
die Opposition zufriedener zeigt als die Regierungsmehrheit.
Auch der Problemhaushalt der PDS-Abgeordneten unterscheidet sich
von dem der politischen Konkurrenz: Mehr als die Hälfte von
ihnen sieht eine Kluft zwischen den eigenen politischen
Vorstellungen und dem, was sie im politischen Alltag vertreten
müssen. Ein derartiges Problem kennt beim Koalitionspartner
SPD nur jeder dritte Abgeordnete. Offensichtlich handelt es sich
hier um das spezifische Problem einer Partei, die erstmals in
Regierungsverantwortung steht und nunmehr die eigenen politischen
Ziele mit den Realitäten von Sparhaushalten in Einklang
bringen muss. Die Unterschiede zwischen den beiden
Regierungsfraktionen beschränken sich aber nicht auf die
Problemwahrnehmungen. Gerade hinsichtlich politischer Einstellungen
liegen mitunter Welten zwischen Sozialdemokraten und PDS. Nach der
Selbsteinstufung ihrer Abgeordneten auf der Links-Rechts-Skala etwa
weist die SPD eine größere Nähe zu Grünen und
FDP auf als zur PDS. Hinsichtlich der Bewertung politischer
Verfahren stehen sich SPD und Union näher als die beiden
Koalitionspartner. Schließlich findet sich die PDS bei den
wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen weitgehend isoliert.
Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei gesellschaftspolitischen
Themen. Ob nach der Zulässigkeit von
Grundrechtseinschränkungen zum Schutz vor Terrorismus gefragt
wird, nach schulischem Religionsunterricht oder nach
Zuwanderungsbeschränkungen: Jeweils nimmt die CDU eine
Sonderstellung im Fünf-Fraktionen-Parlament ein, während
sich SPD und PDS in der Ablehnung einig wissen. Gleichwohl scheint
das Reservoir an politischen Gemeinsamkeiten zwischen den
Regierungsfraktionen in einigen Politikfeldern eher begrenzt. Dies
dürfte freilich in den 90er-Jahren zu Zeiten der großen
Koalition nicht grundlegend anders gewesen sein.
Die Koalitionspräferenzen, die stark vom Status quo
beeinflusst sind, geben denn auch keine Hinweise auf Zweifel an der
rot-roten Koalition in den Reihen der Mehrheitsfraktionen. Im
Ländervergleich untypisch sind zwei andere Befunde. Erstens
sticht die Asymmetrie in den Beziehungen zwischen der SPD
einerseits und den beiden bürgerlichen Fraktionen andererseits
ins Auge. Während klare Mehrheiten bei FDP und CDU ein
Regierungsbündnis mit den Sozialdemokraten akzeptieren, finden
diese Koalitionsvarianten bei der SPD keine Zustimmung.
Bemerkenswert ist zweitens die Haltung der Christdemokraten
gegenüber Schwarz-Grün: Ein Drittel von ihnen
wünscht eine Koalition mit den Bündnisgrünen, fast
alle anderen halten es zumindest für akzeptabel.
Insgesamt wird die Wahrnehmungswelt der Berliner Abgeordneten
durch ihren prekären Status als Teilzeitparlamentarier ebenso
wie durch Unterschiede in der Wählerschaft, vor allem zwischen
Ost- und Westberlin, geprägt. Ob sich perspektivisch eine
(weitere) Angleichung der Stadtstaatsparlamentarier in Ost und West
ergeben wird, muss vorerst offen bleiben. Darüber mag eine
Umfrage nach der nächsten Wahl Aufschluss geben.
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