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Jeannette Goddar
Wettlauf in den Abgrund
Weltweit werden mehr Menschen in Städten
leben als auf dem Land
Es ist wohl eine der meist gestellten Fragen der
Welt: Wie lange brauche ich, um von A nach B zu kommen? In Manila
erntet man dafür nur einen verständnislosen Blick. Zum
wiederholten Mal wischt sich Luis, der Taxifahrer, den Schweiß
von der Stirn. Und guckt einen etwa so an, als hätte man
gefragt, wie lange er zu leben gedächte. "Kann halbe Stunde
sein", sagt er, achselzuckend, "kann zwei Stunden sein. Sie sehen
doch."
Was man sieht, sind Gefährte
überall. Privatautos und Taxis, Mofas mit zwei und mit drei
Rädern, LKW?s und Busse. Stoßstange an Stoßstange
quält sich der Verkehr auf acht Spuren durch die
philippinische Hauptstadt. Die "Epifanio de los Santos", einfach
nur "Edsa" genannt, ist die stets vollgepumpte Hauptschlagader
Manilas. Wer von Nord nach Süd will, ist nicht selten vier
Stunden auf ihr unterwegs. Und obwohl die EDSA eine Autobahn ist,
sieht man auch tausende Fußgänger: Hunderte laufen in
jeder Minute die Ausfahrten rauf und runter. Bis ein Linienbus sie
oben abgesetzt und sich wieder zurückgestaut hätte,
würde es eine Ewigkeit dauern.
All das ist Normalfall in einer Stadt, in der
die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit bei zehn Kilometern
pro Stunde liegt und etwa der eines Eselskarren entspricht.
Fünf Millionen pendeln hier allein täglich zur Arbeit;
nicht mehr als 500.000 nutzen die einzige Bahnverbindung. Die
Genauigkeit dieser Angaben ist allerdings offen - schließlich
weiß nicht einmal jemand, wie viele Menschen überhaupt in
Manila leben. Zwölf Millionen, sagen die Vereinten Nationen.
15 Millionen, heißt es in Manila, vielleicht 18. Dabei hat
alles ganz harmlos angefangen, mit 150 Holzhütten, die die
Spanier im 16. Jahrhundert in die Nähe einer Meereinbuchtung
bauten. Auch 1900 lebten erst 200.000 Philippinos in der Stadt.
Weniger als 100 Jahre später waren es zehn Millionen. Heute
drängen sich 15.000 Menschen auf einem
Quadratkilometer.
Das rasende Wachstum ist ein Schicksal, das
die meisten Mega-Cities teilen. In der Definition der Vereinten
Nationen leben in einer Mega-Stadt mehr als zehn Millionen
Menschen. Im Jahre 1950 gab es eine - New York. Heute sind es 16.
Im Jahre 2015 werden es 23 sein. Manila wird bis dahin von Platz 16
auf Platz 12 rücken. Es gibt Städte, die noch viel
schneller wachsen: Das bengalische Dhaka, das erst vor 50 Jahren
die Halb-Millionen-Grenze überschritt, wird nach Berechnungen
der UN in zehn Jahren 22 Millionen beherbergen und die
zweitgrößte Stadt der Welt nach Tokio sein. Dagegen
verlief die Entwicklung einer Stadt wie London geradezu
beschaulich: Von 1800 bis heute hat sich deren Einwohnerzahl
verachtfacht - eine Entwicklung, von der Stadtplaner in Bombay,
Dhaka, Manila oder Shanghai nur träumen können. Nirgends
schreitet die Urbanisierung so schnell voran wie in Asien.
Über die Hälfte der Mega-Cities von morgen wird in Asien
liegen. Insgesamt ist in zehn Jahren jeder zweite Weltbürger
Asiate - vor 100 Jahren war es nicht einmal jeder
zehnte.
Der Run auf die urbanen Regionen ist nicht zu
stoppen. Was die Menschen in die Städte zieht, hat sich dabei
seit dem deutschen Mittelalter, als der Slogan "Stadtluft macht
frei" die Menschen aus der Fron trieb, erstaunlich wenig
verändert: Städte stehen für Bildung und Freiheit,
Reichtum und Glück, Aufbruch und Hoffnung. Für ein
besseres Leben, für sich selbst, oder doch zumindest für
die Kinder.
Ein Mythos? Nein. Städte, ob mega oder
nicht, sind selbst im schlimmsten Fall nie nur finsterer Moloch,
sondern immer auch strahlende Metropole. Das Pro Kopf-Einkommen in
Manila ist sieben Mal höher als in Mindanao, der ärmsten
Region des Landes. Jeder dritte Peso wird in der Hauptstadt
erwirtschaftet. In der Hauptstadt sind die Banken, die großen
Firmen, die Universitäten, Kultur und Medien. Allerorten ist
die Verstädterung nicht nur Drama, sondern auch Motor der
Entwicklung.
Einerseits. Andererseits frisst das Tempo, in
dem die Menschen in ihr Zuflucht suchen, Städte nahezu auf.
Wie Kraken breiten sich Dhaka, Lagos oder Manila aus. Täglich
ziehen hier Hunderte, manchmal Tausende, zu. Weltweit sollen es
200.000 sein, die täglich in die Stadt ziehen - eine
Entwicklung, die dafür sorgen wird, dass an irgendeinem Tag
dieses Jahres zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem
Land leben werden.
Stadtplanung wird aber häufig nicht nur
durch Masse erschwert, sondern auch dadurch, dass viele Mega-Cities
im Verwaltungssinn gar nicht eine, sondern viele Städte sind.
Auch die City of Manila hat nur eine Million Einwohner - und ist
erst durch das Zusammenwachsen mit zwölf weiteren Städten
zur Megastadt "Metro Manila" geworden. Die mangelnde Mobilität
ist nach Ansicht vieler gar nicht das größte Problem.
Aber sie ist ein immenses und unübersehbares Defizit, nicht
zuletzt, weil Verkehrchaos, anders als Armut oder Krankheit,
demokratisch ist und auch die Reichen, die Unternehmer, die
Investoren und damit die wirtschaftliche Entwicklung trifft. Wer
investiert in eine Stadt, in der man sich kaum bewegen kann? Wer
entsendet Mitarbeiter an einen Ort, an dem der Flughafen nur nach
Stunden erreichbar ist?
Dennoch: Für das Leben und
Überleben der Mega-City-Bewohner wäre eine Verbesserung
der Lage in den Armenvierteln vordringlich. Fast eine Milliarde
Menschen leben weltweit in Slums - das ist jeder dritte
Stadtbewohner. Das UN-Siedlungsprogramm Habitat schätzt, dass
bis 2030 eine weitere Milliarde hinzukommt. Im jüngsten
Habitat-Report zur Lage der Städte wird das als "Wettlauf in
den Abgrund" beschrieben. Die Früchte der Globalisierung, so
die UN, kommen nicht den Vierteln der Armen an.
In Manila hat jeder Dritte keinen Zugang zu
Trinkwasser. Mehr als drei Millionen werden als Slumbewohner
gezählt. Sie drängen sich in Hütten aus Brettern,
Pappe oder Aluminium am Stadtrand. Sie bauen ihre Verschläge
an Bahndämmen, am Flussufer oder am Hafen. 150.000 sollen sich
allein in hängenden und extrem unsicheren Behausungen unter
den Brücken der Stadt eingerichtet haben. Noch mehr leben auf
den Müllbergen am Stadtrand. Auf einem dieser "Smokey
Mountains" ereignete sich im Sommer 2000 ein Alptraum, der einen
der wenigen Momente der Öffentlichkeit für das Drama des
Slums brachte: Tagelanger Regen brachte die steilen Hänge
eines bewohnten Müllbergs ins Rutschen und begrub 400 bis 800
Menschen in einer Lawine aus Dreck und Abfall.
Der Kampf gegen die Verslumung soll in den
kommenden Jahren im Zentrum der Städtepolitik stehen:
UN-Generalsekretär Kofi Annan hat das 21. zum Jahrtausend der
Städte erklärt. Seit der Gründung von "Habitat"
verfügt die UN über ein ständiges Forum zur Zukunft
der Städte. "Metropolis" ist ein Zusammenschluss von 80
Städten, von denen die meisten keine Mega-Cities sind. Doch
auch hier lautet der Titel der Auftaktveranstaltung des
Metropolis2005-Kongresses in Berlin: "Megacities und ihre Armen:
Krise oder Chance? Die Rolle der Städte für die
Millenium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen." Letztere sind
nicht ohne Ehrgeiz und noch in weiter Ferne: Bis 2015 will die
Weltgemeinschaft die Armut und den Anteil der Hungernden auf der
Welt halbieren sowie Bildung für alle schaffen.
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