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Alva Gehrmann
E wie elektronisch, E wie Estland
Die digitale Demokratie im Nordosten
Europas
Auf dem Tisch des Premierministers liegt ein
kleiner Holzhammer, wie man ihn aus Gerichtssälen kennt. Wenn
das estnische Kabinett etwas beschließt, schlägt
Premierminister Andrus Ansip damit auf den Tisch. Der Hammer ist
das letzte Relikt aus alten Zeiten. Ansonsten ist der Kabinettssaal
im Stenbock Haus - dem Sitz des Premiers - nüchtern und mit
neuester Technik ausgestattet. Seit August 2000 werden hier
Kabinettssitzungen online abgehalten. Estland ist das weltweit
erste Land, das mit einem vernetzten Dokumentationssystem arbeitet.
So sitzen die Minister heute an Sitzungstagen nicht mehr vor
Aktenbergen, sondern vor ihren Bildschirmen.
Tradition und Moderne liegen in dem Land im
Nordosten Europas dicht beieinander. Die Hauptstadt Tallinn ist
berühmt für ihr gut erhaltenes mittelalterliches Zentrum.
Gleichzeitig gehört Estland zu den modernsten Staaten Europas:
89 Prozent der Menschen hier besitzen ein Handy, die
Parkgebühren können per SMS beglichen werden. Jedem
Bürger wird per Gesetz der freie Zugang zum Internet
garantiert. Die meisten geben bereits ihre Steuererklärung
online ab, bestätigt wird das per digitaler Signatur. In
Estland ist Alltag, was es in Deutschland bisher nur in
Ansätzen gibt: E-Government gehört zum täglichen
Leben. E-Government bezeichnet die elektronische Abwicklung der
Geschäftsprozesse von Verwaltung und Regierung. Übers
Internet werden dem Bürger täglich 24 Stunden
Dienstleistungen angeboten, die lästige
Behördengänge vermeiden. Aber auch die Regierungsstellen
selbst können untereinander vernetzt schneller
arbeiten.
Schneller, effektiver, transparenter und
günstiger - das sind die Schlagwörter, die zu
E-Government immer wieder zu hören sind. Stimmt das auch? "Auf
jeden Fall", sagt Aivar Rahno. "Durch unsere E-Kabinettssitzungen
sparen wir pro Jahr fast 200.000 Euro an Papier- und Kopierkosten."
Rahno ist Direktor der Abteilung Regierungssitzungen im Stenbock
Haus. Er bereitet die Sitzungen vor und kümmert sich darum,
dass die Technik funktioniert.
Jeden Dienstag treffen sich der Premier und
seine 13 Minister zu den E-Kabinettssitzungen, um zum Beispiel
über neue Gesetzesentwürfe zu diskutieren. Im internen
Computersystem sind alle Dokumente hinterlegt, meist haben die
Minister vorab schon ihre Kommentare dazu verfasst. So ist jeder
genau informiert - lange, zeitraubende Diskussionen finden kaum
noch statt. Abgestimmt wird per Mausklick. "Ist ein Minister gerade
im Ausland, kann er dennoch per Laptop an der Sitzung teilnehmen",
erzählt Aivar Rahno. Die Registrierung erfolgt mit der
ID-Card, die in den Laptop geschoben wird und so auch die digitale
Signatur ermöglicht.
Die Ergebnisse der Kabinettsbeschlüsse
werden - wie alle anderen öffentlichen Dokumente - im Internet
bereitgestellt. Jeder Bürger soll die Chance haben, sich
über die politischen Entscheidungen zu informieren. Und nicht
nur das: Auch Gesetzesentwürfe werden öffentlich
zugänglich gemacht. Auf der Internetplattform "Täna
Otsustan Mina" - was so viel wie "Heute entscheide ich" heißt
- können Bürger zu den Entwürfen Stellung nehmen und
Verbesserungsvorschläge abgeben. Stimmt einer Anregung eine
gewisse Zahl der Online-Nutzer zu, wird sie an die zuständige
Behörde weitergeleitet. Im Schnitt fließen auf diesem Weg
etwa fünf Prozent aller Ideen in Gesetzesvorlagen
ein.
E-Government in Estland soll nicht nur im
Haus des Premiers oder im Parlament stattfinden, sondern auch
tatsächlich von allen Esten praktiziert werden. Damit alle
sich daran beteiligen können, wird der Umgang mit Computer und
Internet trainiert. So sind seit 2000 alle Schulen des Landes
vernetzt, am Fortbildungsprogramm "Look @ the World" haben bisher
100.000 Esten teilgenommen - von insgesamt 1,4 Millionen
Einwohnern. Auch in strukturell schwächeren Regionen soll sich
jeder jederzeit informieren können, deshalb gibt es über
das ganze Land verteilt rund 700 öffentliche Internetpunkte -
sie befinden sich zum Beispiel in Bibliotheken. Die Orte zu finden
ist auch nicht schwer, am Straßenrand stehen große
Hinweisschilder.
Die Esten, die ihr Land selbst gern als
E-Estland bezeichnen, haben in den vergangenen Jahren eine
erstaunliche Karriere hingelegt: von der unterdrückten Nation
zur Informationsgesellschaft. Nach dem Ende der Sowjetherrschaft
1991 musste das kleine Land bei Null anfangen. Denn damals gab es
in Estland keine richtige Infrastruktur: Sowohl, was das Bankwesen
betrifft als auch die Telekommunikation. Man setzte ganz auf die
moderne Kommunikationstechnik. Vorbild und Förderer waren die
Skandinavier, die ihren Nachbarn auch beim Aufbau der Infrastruktur
halfen.
Besonders die Finnen und die Esten verbindet
eine enge Freundschaft. Schließlich sind beide Sprachen
finno-ugrischer Abstammung, selbst die Melodie der Nationalhymnen
ist identisch. Natürlich investierten die Finnen nicht
völlig uneigennützig: Bei den Nachbarn im Baltikum kann
auch günstiger produziert werden. Nokia etwa lässt Teile
seiner elektronischen Produkte in Estland herstellen.
Gerade mal 80 Kilometer ist Helsinki von
Tallinn entfernt. Vom Balkon des Kabinettssaales im Stenbock Haus
aus hat man einen guten Blick über die Stadt und auf das
Westmeer - wie die Ostsee hier genannt wird. Der Sitz des Premiers
liegt hoch oben auf dem Domberg, inmitten der Altstadt mit ihren
engen Gassen. Einige Restaurants werben mit der alten Hanse, die
Kellner tragen Mittelalterkostüme. Die Tradition bringt
Devisen, die Moderne ist direkt um die Ecke in Cafés wie
"Wayne's Coffee Shop".
Wie in den meisten estnischen Cafés gibt
es auch hier kabellose Internet-Zugänge (Wireless LAN). Es ist
Mittagszeit. Anstatt beim Kaffee trinken in der Zeitung zu
blättern, sitzen etliche Gäste an ihren Laptops. So auch
Ivar Tallo, Direktor der estnischen e-Governance Academy. Er nutzt
die Mittagspause, um ein paar Überweisungen zu machen.
OnlineBanking ist seit Jahren Standard, ebenso die
Steuererklärung via Internet abzugeben. Das estnische
Steuersystem ist sehr einfach, alle wichtigen Daten sind ohnehin
automatisch im Netz gespeichert, der Bürger muss nur noch
zustimmen oder Fehlendes ergänzen. 2004 gaben 76 Prozent der
Esten ihre Steuererklärung online ab.
In den geschützten Bereich kommt der
User mit seiner elektronischen ID-Card. "Die ID-Karte ersetzt bei
uns in vielen Bereichen auch schon den Personalausweis", sagt
Tallo. Drei Jahre nach Einführung besitzen über 700.000
Esten so eine Karte.
Es sei der richtige Mix aus privaten und
öffentlichen Initiativen, der Estland so schnell den Sprung in
die Informationsgesellschaft ermöglicht habe, erzählt
E-Government-Experte Tallo. 2007 könnte das neue EU-Mitglied
die erste Nation sein, in der die Bürger bei landesweiten
Wahlen ihre Stimme übers Internet abgeben. Doch beim Thema
E-Voting gibt es sogar bei den High-Tech-Esten Vorbehalte.
Besonders die konservativen Parteien befürchten, dass ihre
Stammwähler, die eher älter sind, dann nicht mehr zur
Wahl gehen. "Selbst wenn 2007 das E-Voting eingeführt wird,
kann jeder Bürger ganz normal zur Wahlurne gehen", sagt Ivar
Tallo. "Das ist ja auch das Tolle an der modernen Technologie: Man
hat mehrere Möglichkeiten."
Zwar nutzt nicht jeder Bürger alle
Möglichkeiten, die die moderne Technik mit sich bringt, doch
für viele sind die Angebote einfach praktisch. So auch
für Liisa-Lota Kaivo und ihren Mann Priit Jagomägi. Das
junge Ehepaar lebt in Tartu, der Universitätsstadt. Sie sind
das, was man in Deutschland als Ökos bezeichnen würde.
Ihr altes Holzhaus haben sie ausschließlich mit
natürlichen Materialien renoviert, sie verarbeiten Schafwolle
- und bauen mit EU-Hilfe ein traditionelles, estnisches Boot nach.
Lodi heißen die alten Schleppkähne, die früher
typisch für die Region waren.
Auch wenn das junge Ehepaar zu Hause keinen
Fernseher hat, sind sie doch online. Selbst in der kleinen
Werkstatt am Fluss Emajõgi können sie drahtlos im
Internet surfen, von hier aus aktualisieren sie ihre eigene Website
"www.lodi.ee". "Bald wollen wir eine Webcam in der Werkstatt
installieren, damit Interessierte jeden Tag mitverfolgen
können, wie der Bau des Bootes voranschreitet", sagt die
27-jährige Liisa-Lota. Ende Juni - zum traditionellen
Hansefest - soll das Lodi vom Stapel laufen.
Zum Hansefest lassen viele Esten das moderne
Leben für ein paar Tage auf sich beruhen. Dann holen sie ihre
alten Folklore-Trachten heraus, singen estnische Lieder, tanzen und
trinken Bier. Folklorefeste werden in dem kleinen Land nicht nur
von ein paar Freaks gefeiert, sie sind Teil einer Identität,
die trotz der vielen Besatzer erhalten geblieben ist - ebenso wie
die Sprache. Und sollte den Esten während des fröhlichen
Feierns wider Erwarten dann doch mal das Geld ausgehen, können
sie ihr Bier ja auch bequem per SMS bezahlen.
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