|
|
Hartmut Hausmann
Reinigendes Gewitter nach hitzigem Gipfel
Jean-Claude Juncker und Tony Blair nach dem
Scheitern des Brüssler Gipfels vor dem EU-Parlament
Die Verbitterung nach dem Scheitern des
Brüsseler Gipfels saß anfänglich offenbar tief. Doch
wider Erwarten scheint Europa zwei Wochen nach dem Gipfeldilemma
nicht in lähmender Trauer zu versinken. Bei der Sitzung des
Europäischen Parlaments in Brüssel am 22. und 23. Juni
wurde schnell klar, dass in Europa ein anderer Ton herrscht - die
früher stets üblichen Beschwichtigungsversuche blieben
aus und es wurde Tacheles geredet. Die Debatte mit dem scheidenden
EU-Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker und dem ab 1. Juli
amtierenden Premierminister Tony Blair setzte neue Signale.
War es der Mut des Verzweifelten oder auch
verletzte Eitelkeit? Tatsache ist, dass der hochangesehene
luxemburgische Premierminister und zu diesem Zeitpunkt noch
amtierende Ratspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede
vor dem Europäischen Parlament die üblichen Gleise der
Rhetorik verließ. Anstelle der geläufigen diplomatischen
Floskeln wählte Juncker bewusst die politische Konfrontation.
Zunächst wirkte seine Aussage, Europa befinde sich in einer
schwerwiegenden, aber auch völlig unnötigen Krise, etwas
verbittert. Mit dem Nachsatz, dass jeder zukünftige
Finanzkompromiss nur unbedeutend vom Luxemburger Vorschlag für
einen EU-Finanzplan in Höhe von 1,054 Prozent (gemessen an der
Wirtschaftsleistung aller Mitgliedstaaten) abweichen werde, setzte
er sogar noch eine Spitze drauf. Und dann gab es noch eine
Premiere: Erstmals gab ein EU-Politiker Einzelheiten aus den
Beratungen der Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen
Türen der Öffentlichkeit Preis. Dem britischen Premier
sei es gar nicht um einige Milliarden mehr oder weniger gegangen.
Er habe vielmehr zu diesem Zeitpunkt und auf dieser Grundlage eine
Einigung um jeden Preis verhindern wollte.
Streitpunkt: Britenrabatt
Ausführlich ging Juncker auf die
wesentlichen Streitpunkte ein. Sein letztes Angebot hätte
Blair unter dem Stichwort Britenrabatt jährliche
Rückzahlungen von über 5,5 Milliarden Euro eingebracht,
mehr als im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Junckers Vorschlag
wollte lediglich ein künftiges weiteres Ansteigen verhindern.
Bei Blairs Zustimmung hätten die größten Nettozahler
Deutschland und Schweden entlastet werden können, die
Niederlande sogar um eine Milliarde Euro. Für den Rabatt an
England wären nur die 15 alten Mitgliedstaaten herangezogen
worden. London hätte zwar die Strukturhilfen für die zehn
neuen Staaten künftig mitfinanzieren müssen, nicht jedoch
deren Agrarförderung durch die EU. Aber selbst das habe Blair
noch abgelehnt, als die zehn neuen Länder den Vorschlag
machten, auf einen Teil der ihnen zugedachten Hilfen zu
verzichten.
Als völlig verzerrt bezeichnete Juncker
die britische Darstellung, wonach für die Landwirtschaft
wesentlich mehr ausgegeben werden solle, als für die
zukunftsträchtigen Sektoren Forschung und Energie. Die
Gemeinsame Agrarpolitik - der einzige, vollständig
vergemeinschaftlichte Bereich in der EU - hätte von 2007 bis
2013 mit 305 Milliarden ausgestattet werden sollen. Die staatlichen
Aufwendungen der 25 Mitgliedstaaten und der Union zusammengenommen
hätten für diesen Bereich jedoch 524,5 Milliarden
ergeben. Insgesamt habe sein neuer Vorschlag eine Reduzierung der
Landwirtschaftsausgaben um 17 Prozent vorgesehen.
In der übrigen Bilanz des Luxemburger
Vorsitzes hob Juncker die Reform des Euro-Stabilitätspakts mit
der Stärkung der vorbeugenden Maßnahmen und einem nicht
zu flexiblen Korrekturmechanismus hervor. Der neue Anstoß zur
Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung lege
mehr Wert auf Forschung und Entwicklung unter Beibehaltung des
sozialen Zusammenhalts. Befriedigt verwies Juncker auf die
erreichte Zusage der EU-Staaten zur Aufstockung der
öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des
Bruttonationaleinkommens bis 2015.
Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Hans-Gert
Pöttering, unterstützte Juncker mit der Ankündigung,
jedem den Kampf anzusagen, der die EU auf eine Freihandelszone zu
reduzieren versuche. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen
Fraktion, Martin Schulz hatte ebenfalls viel Lob für Junker:
Er habe in seiner elfjährigen Zugehörigkeit zum
Europäischen Parlament noch nie eine solch offene und
beeindruckende Präsentation einer Präsidentschaft
gehört. Das sei der Start zur Rückgewinnung der
Glaubwürdigkeit gegenüber den Bürgern in Europa
gewesen. Der Misserfolg in Brüssel habe einen Namen: Der
Partikularismus der Staats- und Regierungschefs, von denen jeder
nur an sich selbst denke.
Nicht einmal 20 Stunden nach dem Auftritt
Junkers verwahrte sich der britische Premierminister Blair an
gleicher Stelle gegen Vorwürfe, er wolle nur eine gehobene
Freihandelszone und sei gegen eine politische Union. Bei der
Vorstellung des Arbeitsprogramms seines EU-Vorsitzes im zweiten
Halbjahr rief Blair die EU zu weit reichenden Reformen auf. Diese
Aussprache müsse jetzt geführt werden, weil nach Annahme
des Finanzpakets sieben Jahre lang kaum noch Veränderungen
möglich seien. "Ich bin für das Europäische Projekt,
ich will Europa verändern", erklärte Blair und
bekräftigte seine Zustimmung zum Inhalt der europäischen
Verfassung: "Ich will die Union stärken und nicht
ruinieren."
In Sachen EU-Finanzkrise bekräftigte
Blair seine Haltung, die künftige Finanzplanung müsse
mehr Geld für Forschungs- und Zukunftsaufgaben vorsehen und
dafür bei der Landwirtschaft sparen. Er wies die Vorwürfe
Junckers zurück, wonach die EU in Anhänger einer
Freihandelszone und Befürworter einer politischen Integration
gespalten sei. Damit sollten nur Ängste vor Veränderungen
geschürt werden.
Blair, der noch vor drei Jahren hinsichtlich
der EU-Erweiterung für einen langfristigen Agrarkompromiss
gestimmt hatte, sagte, ein modernes Budget dürfe nicht noch in
zehn Jahren 40 Prozent für die Landwirtschaft verschwenden.
Auch der von einigen geforderte Stopp der Erweiterung werde
langfristig keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen, kein Unternehmen
retten und keine Firmenverlagerung verhindern. Dies bewirke nur
einem Rückfall in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit - der
Erweiterungsfahrplan mit Kroatien und der Türkei solle wie
vorgesehen fortgesetzt werden.
In der Debatte war es erneut der
Fraktionschef der Sozialdemokraten, Martin Schulz, der am
eindeutigsten Stellung bezog. Er rechnete dem "Parteifreund" vor,
dass 0,47 Prozent des europäischen Sozialprodukts für die
Landwirtschaft ausgegeben werden - aber nur 0,86 Prozent für
Forschung und Entwick-lung. Etwas bissig erinnerte er daran, dass
Blair die Europäische Verfassung in Rom mitunterschrieben
habe. In den Reformdebatten aber seien die Briten - wie bei der
Tour de France - meist dem Hauptfeld hinterhergefahren. Der
Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, Elmar Brok,
sagte, wenn Blair ein guter Europäer sein wolle, dann solle er
sich endlich sowohl dem Schengenraum als auch dem Euro
anschließen und sich so ganz in Europa integrieren.
Junckers Auftritt in Brüssel war
für Blair zu einer Herausforderung geworden. In der Art, wie
er sie nur einen Tag später annahm, verdiente er sich
zumindest Respekt. Stieß er mit seinem Eingangsbekenntnis, ein
"leidenschaftlicher Pro-Europäer" zu sein, noch
überwiegend auf höhnisches Gelächter, wurde daraus
bald Nachdenklichkeit und letztlich auch Hoffnung, dass die Krise
ein reinigendes Gewitter bewirken könne. Es war der zweite Akt
der von Juncker vorgegebenen Offenheit, aus der, so die Hoffnung
zahlreicher Abgeordneter, eine fruchtbare Zukunftsdiskussion
über Europa entstehen könnte.
Konkrete Projekte konnten von Blair in dieser
Situation noch nicht erwartet werden. In sechs Monaten allerdings
helfen Blair auch die leuchtenden Augen und seine brillante
Rhetorik nichts mehr, denn dann muss er sich, so die Meinung vieler
EU-Parlamentarier, an seinen Taten messen lassen.
Zurück zur Übersicht
|