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Thomas Gesterkamp
Die Klingenspitze am Ohr
Schulhof ohne Regeln: Prügeleien werden
härter
Schon immer haben Jugendliche ihre Konflikte
auch mit handgreiflichen Mitteln ausgetragen. Fachleute warnen aber
vor einer "neuen Qualität" der Gewaltbereitschaft an den
Schulen. Jeder dritte schulpflichtige Junge, so ergab eine
Untersuchung des Bundeskriminalamtes, hat im Jahr 2003 einen
Mitschüler geschlagen und getreten. Etwa fünf Prozent
aller Schüler stuft die BKA-Studie "Aggression und Delinquenz
unter Jugendlichen" als "regelmäßig gewalttätig"
ein.
In der großen Pause gegen halb zehn
zückt ein 16-jähriger plötzlich ein Messer und geht
damit auf einen Mitschüler los. Der Streit zwischen den beiden
Jugendlichen, so berichten Klassenkameraden später, hat eine
Vorgeschichte. Dem Täter war ein paar Wochen zuvor das Handy
gestohlen worden. Sein späteres Opfer hat er des Diebstahls
verdächtigt, ständig mit ihm gestritten, ihn beschimpft
und mehrfach körperlich bedroht. Jetzt entlädt sich die
hoch geschaukelte Aggression in einem brutalen Akt der Gewalt: Der
attackierte Junge wird von der Spitze des Messers am Ohr verletzt,
muss im Krankenhaus ambulant versorgt und danach wochenlang
psychologisch betreut werden.
Kein Alltag in deutschen Schulen, aber auch
kein Einzelfall: Als das Kriminologische Forschungsinstitut
Niedersachsen 12.000 Schüler nach ihren Gewalterfahrungen
befragte, gaben fast zehn Prozent an, im letzten halben Jahr
massiven Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Erschreckend
im Vergleich zu früheren Erhebungen ist dabei weniger die
Häufung von Gewalt an sich als die Schärfe und Verrohung
der Konflikte. Alte Ehrbegriffe, wo die Grenzen einer "Klopperei"
zwischen zwei Kontrahenten liegen, scheinen nicht mehr zu gelten.
"Das hat eine neue Qualität, es geht nicht darum, jemanden ein
bisschen einzuschüchtern oder zu quälen", beobachtet der
Düsseldorfer Anti-Gewalt-Trainer Simon Steimel: "Oft ist das
Ziel, jemanden zu zerstören."
Zusammen mit seinem Kollegen Holger
Schlafhorst ist Steimel an den Schulen als "Feuerwehr" unterwegs.
Die beiden Trainer, die eigentlich aus der Theaterszene kommen,
haben in den letzten Jahren Zehntausende von Jugendlichen für
das Thema sensibilisiert. Sie verstehen ihre Arbeit als
Präventionsangebot, doch häufig werden sie erst gerufen,
wenn eine Schule durch eine spektakuläre Auseinandersetzung
öffentlich unter Druck geraten ist. Der gute Ruf steht auf dem
Spiel, die Eltern sind aufgebracht, die Lehrer verunsichert und
überfordert. Die meisten Pädagogen seien "auf solche
Situationen nicht vorbereitet", warnt Siegfried Preiser, Professor
für Psychologie.
Wer heute als Erwachsener auf die eigene
Schulzeit zurückblickt, kann sich meist durchaus an handfesten
Streit und gewaltsame Konflikte erinnern. Die
sozialwissenschaftliche Forschung geht davon aus, dass die Zahl
solcher Vorkommnisse an den Schulen im Verhältnis zu
früher sogar deutlich zurückgegangen ist. Das Problem
liegt offenbar woanders, nämlich in kulturellen
Veränderungen: Der einst gültige, meist unausgesprochene
Konsens über bestimmte Rituale der Konfliktaustragung wird
nicht mehr von allen Beteiligten akzeptiert. Die soziale Kontrolle
durch Freunde, Pädagogen und Eltern ist schwächer
geworden. Mitschüler erinnern übergriffige Jugendliche
nicht mehr selbstverständlich an die früher üblichen
"Faustregeln" einer Rangelei - etwa, dass "man keine Mädchen
schlägt" oder bestimmte Körperteile als "tabu" gelten.
Manche Lehrer pflegen bei ihrer Aufsicht auf den Schulhöfen
das Erziehungsprinzip eines falsch interpretierten Laissez-faire.
In den Familien schließlich hat vor allem die väterliche
Autorität, die in früheren Zeiten ein festes moralisches
Wertesystem festlegte, an Bedeutung eingebüßt.
Weitgehende Einigkeit herrscht bei den
Experten darüber, dass Hemmschwellen gesunken sind und die
Fähigkeit zu Empathie abgenommen hat - nicht zuletzt durch die
starke Präsenz von Gewaltdarstellungen in den Medien. Es sind
überwiegend männliche Jugendliche, die ihre Interessen
körperlich durchzusetzen versuchen. "Gewalt ist für
Pubertierende etwas Konstruktives. Sie zeigen: Ab heute bin ich
Mann", analysiert Lutz Eckensberger vom Deutschen Institut für
Internationale Pädagogische Forschung. Es falle Jungen schwer,
eine passende Rolle "zwischen Macho und Weichei" zu finden,
häufig fehlten ihnen attraktive männliche Vorbilder.
Statt dessen, so Eckensberger, werde die Gewalt
"identitätsstiftend" und definiere ihren Sozialstatus im
Klassenverband.
Um das Aggressionsproblem an den Schulen zu
bewältigen, fordern Erziehungswissenschaftler eine verbesserte
Ausbildung der Lehrer. Der Umgang mit Gewalt im beruflichen Alltag
ist bisher kaum Studieninhalt. Künftig soll sich
möglichst jeder Pädagoge mit Streitschlichtung und
Mediation auskennen, damit er bei Konflikten kompetent vermitteln
kann. Schon jetzt konzentrieren sich speziell geschulte
Sozialarbeiter auf schwierige Fälle. Die Polizei setzt zur
Prävention so genannte Jugend-Kontaktbeamte ("Jucops") ein.
Bisher tun diese vorrangig an weiterführenden Schulen in den
"sozialen Brennpunkten" der Großstädte Dienst. Geht es
nach dem Verband Bildung und Erziehung (VBE), werden sie
künftig bereits an den Grundschulen als Ansprechpartner
für die Sechs- bis Zehnjährigen bereit stehen.
Zusätzlich bringen private
Anti-Gewalt-Trainer wie Simon Steimel und Holger Schlafhorst den
Schülern bei, sich mit Worten statt mit Fäusten
auseinander zu setzen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) beklagt,
dass manche Schulen das heikle Thema Gewalt ganz unter den Teppich
zu kehren versuchen. Viele Vorfälle werden gar nicht erst
bekannt, weil die Schulleitung einen Imageschaden fürchtet.
Die relativ niedrige Zahl der offiziell gemeldeten Gewalttaten
hält die GdP für "völlig unrealistisch". Doch die
Möglichkeiten der staatlichen Ordnungsmacht sind ohnehin
begrenzt. "Erziehung beginnt nicht erst im Klassenzimmer", betont
Udo Beckmann, VBE-Sprecher in Nordrhein-Westfalen: Schule sei eben
kein "Reparaturbetrieb" für gesellschaftliche
Fehlentwicklungen oder unzureichende pädagogische
Fähigkeiten der Eltern.
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