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Dirk Klose
"Mit stetigem Vertrauen kann ich nicht mehr
rechnen"
Der Bundestag folgt der Absicht des
Bundeskanzlers, über eine gescheiterte Vertrauensfrage
Neuwahlen zu erreichen
Der Deutsche Bundestag hat Bundeskanzler Gerhard
Schröder (SPD) das Vertrauen entzogen. In einer von
Schröder gestellten Vertrauensfrage, an der 595 der insgesamt
601 Mitglieder des Bundestages teilnahmen, stimmten am 1. Juli 151
Abgeordnete mit Ja, 296 mit Nein; 148 Parlamentarier enthielten
sich der Stimme. Dieser vom Kanzler intendierte "negative
Vertrauensbeweis" soll nach dem Wunsch der SPD-Führung den Weg
für Neuwahlen ebnen. Schröder hatte sich kurz nach der
Abstimmung bei Bundespräsident Horst Köhler eingefunden,
um ihm die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen.
Die Absicht, Neuwahlen für den Bundestag
anzustreben, hatten der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering und
Bundeskanzler Schröder bereits am 22. Mai, unmittelbar nach
der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen, bekanntgegeben. Sie
begründeten ihre Überlegungen damit, dass angesichts der
negativen Ergebnisse bei mehreren Landtagswahlen die rot-grüne
Koalition eine deutliche Loyalitätsbekundung der
Wählerinnen und Wähler für ihre Politik brauche und
dass ferner die erdrückende Unionsmehrheit im Bundesrat jedes
wichtige Vorhaben der Regierung blockieren könne.
Die überraschende Ankündigung
stieß zwar in der Folgezeit auf verfassungsrechtliche
Bedenken, doch wurde der Entschluss, Neuwahlen herbeizuführen,
von allen Fraktionen im Bundestag begrüßt. Fristgerecht
hatte Schröder am 27. Juni an den Bundestag den Antrag
gestellt, ihm gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes das
Vertrauen auszusprechen.
In seiner mit Spannung erwarteten Rede sagte
Schröder, in der gegebenen Situation sei es seine Pflicht,
sich im Deutschen Bundestag der Vertrauensfrage zu stellen. Nach
den vergangenen Wahlniederlagen seiner Partei sei angesichts der
gewandelten Kräfteverhältnisse eine Fortsetzung der
Politik wie bisher nicht möglich. Eine neue Legitimation durch
Wahlen sei unverzichtbar. Diesem Schritt stünden "keine
zwingenden verfassungsrechtlichen Bedenken" entgegen. Er
begründete sein Vorhaben mit den Widerständen gegen seine
Reformpolitik nicht zuletzt innerhalb seiner Partei. Nach dem 22.
Mai habe sich offen die Frage gestellt, ob der für seine
Politik unabdingbare Zusammenhalt noch gegeben sei: Unter den
aktuellen Verhältnissen könne er mit stetigem Vertrauen
nicht rechnen.
Schröder verteidigte seine Politik mit
der Bemerkung, im Innern sei das Land liberaler, toleranter und
demokratischer geworden, nach außen selbstbewuss-ter, freier
und geachteter in der Welt als je zuvor. Schröder weiter: "Es
sind gute Jahre für unser Land gewesen; ich bin stolz
darauf."
Hart ging Schröder mit der "destruktiven
Blockadepolitik" des unionsbeherrschten Bundesrates ins Gericht.
Der Union gehe es "ersichtlich" nicht um Kompromisse, sondern um
"machtversessene Parteipolitik, die über die Interessen des
Landes gestellt werden". Eine durch die Wähler neu und
deutlich legitimierte Regierungspolitik werde, so Schröder
weiter, auch bei der Union zu einem Überdenken ihrer Haltung
führen, auch wenn sich die Mehrheitsverhältnisse nicht
änderten. Neuwahlen könnten auch dazu beitragen, die
Menschen aus ihren Ängsten und Bedrückungen zu
lösen, die auch "durch das Niederreden unseres Landes durch
die Opposition" entstanden sind: "Es ist eine Opposition, die sich
fast jeder konstruktiven Zusammenarbeit mit uns verweigerte oder
sie im Nachhinein desavouierte."
Merkel: Respekt vor Schröder
Die CDU-Chefin und Vorsitzende der
Unionsfraktion Angela Merkel sagte in ihrer Erwiderung, die
Vertrauensfrage des Kanzlers sei unausweichlich: "Für diesen
Schritt zolle ich Ihnen auch persönlich Respekt, denn er ist
unumgänglich, um unserem Land monatelange quälende
Auseinandersetzungen wegen rot-grüner
Handlungsunfähigkeit zu ersparen." Die Bundesregierung habe
alles, was sie richtigerweise auf den Weg gebracht habe, letztlich
wieder rückgängig gemacht. Vom Grundsatz her sei die
Agenda 2010 "ein richtiger Schritt in die richtige Richtung";
seitdem habe es jedoch innerhalb der Koalition um jedes Detail ein
schweres Ringen gegeben.
Die Oppositionsführerin wies den Vorwurf
der Obstruktion entschieden zurück; nicht die Opposition,
sondern "die eigene Opposition" in den Regierungsparteien habe
vieles wieder zunichte gemacht. Jetzt sei es von entscheidender
Bedeutung, wie es in Deutschland weitergehe: "Unser Land
verträgt einfach keinen Zickzackkurs mehr. Dieses Land braucht
eine Politik aus einem Guss, nicht Stückwerk."
Noch nie, so Frau Merkel weiter, habe eine
Regierung so sehr das Vertrauen der Bürger verspielt wie jetzt
Rot-Grün. Das Land könne sich kein weiteres verlorenes
Jahr mehr leisten. Unter Hinweis auf die unterschiedlichen
Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik sagte sie: "Dort, wo
die Union regiert, geht es den Menschen besser." Die Union brauche
neben der schon vorhandenen Mehrheit im Bundesrat auch eine
Mehrheit im Bundestag, um "klare Verhältnisse" zu haben, wobei
eine Politik für Arbeit absolute Priorität haben
müsse.
Nach Ansicht des SPD-Partei- und
Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering besteht
gegenwärtig eine "besondere Situation". Sie gehöre "zu
den Regeln der Demokratie" und rechtfertige die Vertrauensfrage als
Weg zu Neuwahlen. Damit sei kein Misstrauen gegenüber dem
Kanzler verbunden: "Wir sind uns einig in dem Bewusstsein, dass
Gerhard Schröder als Bundeskanzler das Vertrauen der
SPD-Bundestagsfraktion hat und dass wir ihn weiter als
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland haben wollen."
Neuwahlen seien der beste Weg zur Klärung der
Situation.
Die mit der Agenda 2010 verbundenen Gesetze
seien schwierige Gesetze gewesen, aber sie seien unverzichtbar:
"Wir sind auf dem richtigen Weg; ich bin eher stolz darauf." Der
Union warf Müntefering vor, auch bei den gemeinsam
beschlossenen Reformen letztlich nur "Schwarz- und
Trittbrettfahrer" gewesen zu sein. Rot-Grün habe Deutschland
aus der Starre der 90er-Jahre herausgeführt, wovor sich die
damalige Regierung stets gedrückt habe. Müntefering an
die Oppositionsführerin gewandt: "Frau Merkel, mit Ihnen wird
es kalt in Deutschland."
Auch die FDP sieht nach den Worten ihres
Parteivorsitzenden Guido Westerwelle Neuwahlen als notwendig an:
"Deutschland braucht einen neuen Anfang, und das geht nur mit einer
neuen Regierung." Die jetzige habe ihre selbstgesteckten Ziele
nicht erreichen können, weil ihr "die eigenen Leute von der
Fahne gegangen sind". An die Regierungsbank gerichtet sagte er:
"Sie sind gescheitert an der eigenen Mutlosigkeit und an
Wankelmütigkeit, an der mangelnden Kraft, mehr als nur eine
Schmalspur-Agenda zustande zu bringen." Seine Partei wolle einen
Wechsel, damit Wirtschaften wieder vor Verteilen gesetzt werde und
sich Leistung wieder lohne: "Jede soziale Gerechtigkeit muss erst
einmal erwirtschaftet werden."
Der Vormann der Grünen,
Bundesaußenminister Joseph Fischer, sagte, er sei stolz auf
das in den vergangenen Jahren Erreichte. Mit Blick auf die
Zurückhaltung der Regierung gegenüber der Irakpolitik der
USA meinte er: "Bündnisloyalität geht für uns nicht
über Vernunft." In seiner betont kämpferischen Rede
forderte er die Opposition auf, präzise ihre wirtschafts- und
finanzpolitischen Zielsetzungen zu nennen. CSU-Landesgruppenschef
Michael Glos warnte den Kanzler vor seinem Koalitionspartner: "Mit
einem solchen Haufen kann man wirklich nicht regieren."
Unmittelbar vor der Abstimmung übte der
Bündnisgrüne und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner
Schulz in einer persönlichen Erklärung heftige Kritik an
Schröders Vorgehen. Er sehe darin eine "Sinnentleerung" von
Artikel 68 des Grundgesetzes, die er nicht mitmachen könne:
Auch in der Volkskammer seien die Abgeordneten eingeladen worden,
nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen der Partei und der
Staatsführung zu folgen; "das ist ein würdeloser Abgang,
den wir hier erleben".
Die Entscheidung darüber, ob es
Neuwahlen im Herbst geben wird, liegt jetzt bei
Bundespräsident Horst Köhler. Dafür hat er 21 Tage
Zeit. Mehrere Abgeordnete, darunter Schulz, haben indes
angekündigt, gegen eine Auflösung des Bundestages durch
Köhler vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. In der
Geschichte der Bundesrepublik ist erst zweimal mittels der
Vertrauensfrage der Bundestag aufgelöst worden, um vorzeitige
Neuwahlen herbeizuführen: 1972 schlugen Bundeskanzer Willy
Brandt (SPD) und 1982 Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) diesen Weg
ein.
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