Wolfgang Hanneforth
Sind wir so frei wie wir glauben?
Hirnforschung und Willensfreiheit
Das Thema "Willensfreiheit" ist uralt und doch immer wieder neu.
Bestimmt der Mensch kraft seines Willens und seines Urteilens sein
Handeln oder sind es äußere Umstände, die alles
menschliche Tun determinieren? Schon die Philosophen der Antike,
die Theologen des Mittelalters und nun - in der Neuzeit - die
Naturwissenschaftler gemeinsam mit den Philosophen
beschäftigt(e) die Frage, ob dem Menschen ein freier Wille
zugesprochen werden kann.
Bestimmt das Sein das Bewusstsein? Ist der freie Wille eine
Illusion, die uns das Gehirn nur vorgaukelt? Ist
Entscheidungsfreiheit eine Täuschung, die sich in
Hirnprozessen und -strukturen nirgends widerspiegelt? Ist mein
"Ich" oder aber ist mein Gehirn für mein Handeln
verantwortlich?
Diese sehr spekulative Diskussion wird mehr und mehr von
Erkenntnissen der Naturwissenschaften beeinflusst, ja in gewisser
Hinsicht auch "versachlicht". In dem von Christian Geyer
herausgegebenen Bändchen kommen dazu nahezu 30 Autoren zu
Wort. In wenigstens der Hälfte dieser Beiträge wird auf
ein offenbar als bahnbrechend empfundenes Experiment von Benjamin
Libet, em. Professor für Neurophysiologie am Center for
Neuroscience an der University of California at Davis, Bezug
genommen. Erfreulicherweise ist eine Übersetzung dieser
Untersuchung mit dem Titel "Haben wir einen freien Willen?"
ebenfalls abgedruckt.
Seine Ergebnisse sind kurz zusammengefasst: Freien und bewussten
Handlungsentscheidungen geht eine spezifische elektrische
Veränderung (Bereitschaftspotenzial = BP) im Gehirn voraus,
die 550 ms (Millisekunden) vor der Handlung einsetzt. Die
menschlichen Versuchspersonen wurden sich ihrer Handlungsintention
erst 350 - 400 ms nach Beginn eines BP und circa 200 ms vor der
motorischen Handlung bewusst. Eine Entscheidung findet demnach - so
folgert Libet - im Gehirn statt, ehe Handeln und eine Entscheidung,
ein Wille zum Handeln der Person bewusst werden.
Lernvoraussetzungen
Hirnforscher, allen voran Wolf Singer vom Max-Planck-Institut
für Hirnforschung in Frankfurt/M. und Gerhard Roth, Professor
für Verhaltensphysiologie in Bremen, vertreten vehement die
Auffassung: Unser bewusster Willensimpuls ist eher etwas wie ein
Ratifizieren einer Entscheidung, die das Gehirn längst zuvor
getroffen hat. Hochentwickelte Wirbeltiergehirne - eine Nervenzelle
der Großhirnrinde hat 10.000 bis 20.000 verschiedene
Eingangsverbindungen - seien hochorganisierte, distributiv
organisierte Systeme, in denen eine riesige Zahl von Operationen
gleichzeitig ablaufe. Alles Lernen beschränke sich auf die
Veränderung der Effizienz bestehender Verbindungen.
Dabei gebe es keine Kommandozentrale oder irgendwie geartete
Konvergenzzentren, über und durch die sich klare Festlegungen
für bestimmte Handlungsoptionen entwickeln könnten. Dem
bewussten Erleben gehen demnach notwendige und offenbar auch
hinreichend unbewusste neuronale Geschehnisse voraus: solche
unbewusst innerhalb oder außerhalb der Großrinde
ablaufenden Prozesse führten zu Handlungsvorbereitungen, die
das Gefühl hervorbringen "ich will jetzt etwas tun". Unsere
Handlungsintentionen würden so häufig erst
nachträglich den tatsächlichen Handlungen angepasst.
Diese Aussagen der Hirnforscher gipfeln in dem Satz: "Nicht ich,
sondern mein Gehirn hat entschieden."
Noch Schuldzuweisungen?
Konsequenterweise hätte somit auch die Rechtsprechung die
geltende Praxis im Lichte der Erkenntnisse der Hirnforschung zu
überprüfen: Gibt es überhaupt noch eine Schuld, wenn
das Handeln determiniert ist und einer Handlung keine freie
Entscheidung zugrunde liegt? Die Mehrheit der Autoren setzt den
Deterministen, die die Willensfreiheit leugnen, ihre Sichtweise des
Indeterminismus entgegen:
Schon allein der Tatbestand, dass Hirnforschung noch immer sehr
viel mit Nichtwissen als mit Wissen zu tun habe, sollte nicht
übersehen werden: weder die genaue Anordnung der
Nervenzellenverbindungen in der Großhirnrinde noch deren
funktionelle Gewichtung seien hinlänglich bekannt. Ein
völliges Rätsel sei, wie die enorme Plastizität des
Gehirns - unter geeigneten Bedingungen und durch Üben
können nach aktuellen Untersuchungen sogar neue Nervenzellen
nachwachsen - mit der relativen Stabilität und Wahrnehmung
zusammenhänge. So seien die Gehirne mit ihrem inhärenten
Vermögen, unvorhergesehen oder offen zu reagieren,
außerordentlich komplexe Systeme, mit denen eine
Determinierung derzeit auch nicht annähernd zu begründen
sei.
Das Vorhandensein eines Bereitschaftspotenzials sei noch kein
geeigneter Indikator dafür, dass wir nicht mehr willentlich
auch anders hätten handeln können und durch
Vorentscheidungen des Gehirns determiniert seien. So seien die
Experimente von Libet nicht geeignet, Determiniertheit zu beweisen
- allerdings auch nicht, Willensfreiheit zu bestreiten.
So bleibt die alte und wieder neue Streitfrage nach der
Willensfreiheit weiterhin offen. Vielleicht bringt der jüngst
vorgestellte "stärkste Kernspintomograph Europas" neue
Erkenntnisse? Solange sind die Leser frei(!?), sich für die
lohnende Lektüre des anspruchsvollen Bändchens zu
entscheiden und sich mit dem aktuellen Stand der Argumentation zum
Pro und Contra von Willensfreiheit auseinanderzusetzen.
Christian Geyer (Hrsg.)
Hirnforschung und Willensfreiheit.
Zur Deutung der neuesten Experimente
edition suhrkamp, Frankfurt/M. 2004; 295 S., 10,-
Euro
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