Dokumentation
"Jetzt haben Sie es in der Hand"
Bundespräsident Köhler:
Ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und
Neuwahlen für den 18. September angesetzt. Unser Land steht
vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder
steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele
seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in
einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende
föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder,
und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im
weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten.
In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung,
die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann.
Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine
verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag
angewiesen. Der Bundeskanzlerhat am 1. Juli vor dem Bundestag
deutlich gemacht, dass er mit Blickauf die knappen
Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche
Basis für seine Politik mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem
Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht.
Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält
der Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme
nicht für dauerhaft tragfähig.
Die Lagebeurteilung des Bundeskanzlers hat mir auch der
Vorsitzende der SPD-Fraktion aus seiner Sicht bestätigt. Ich
weiß: Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen Unbehagen
wegen des Verfahrens empfunden, das eingeschlagen worden ist. Sie
zeigen damit, wie wichtig ihnen das Grundgesetz ist. Darüber
freue ich mich.
In der Tat hat sich unsere Verfassung in über 50 Jahren
bewährt. Sie sieht aus guten Gründen nur ausnahmsweise
vorgezogene Wahlen vor. Das Grundgesetz ermöglicht es aber dem
Bundeskanzler, eine parlamentarische Vertrauensfrage mit dem Ziel
zu stellen, vorgezogene Wahlen herbeizuführen. In der
Geschichte der BundesrepublikDeutschland war dies zweimal der Fall:
1972 und 1983.
Eine Niederlage des Bundeskanzlers bei dieser Abstimmung allein
reicht jedoch nicht aus, um den Bundestag aufzulösen. Die
politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen
seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder
lähmen, dass er eine von stetiger Zustimmung der Mehrheit
getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann. So gibt es das
Bundesverfassungsgericht vor. Und so sieht der Bundeskanzler seine
Lage.
Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend
geprüft. Dazu habe ich viele Gespräche mit den
verantwortlichen Politikern und mit Rechtsexperten geführt.
Ich bin den Bürgerinnen und Bürgern dankbar, die mir in
Gesprächen, Briefen und E-Mails ihre Meinung mitgeteilt haben.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsaus dem Jahr
1983 hat der Bundespräsident die Einschätzung des
Bundeskanzlers zu beachten, es sei denn, eine andere
Einschätzung ist eindeutig vorzuziehen.
Ich habe Respekt vor allen, die gezweifelt haben, und ich habe
ihre Argumente gehört und ernsthaft gewogen. Doch ich sehe
keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des
Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon
überzeugt, dass damit die verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages gegeben
sind. Damit ist es nach dem Grundgesetz meine Pflicht als
Bundespräsident, zu entscheiden, ob ich Neuwahlen ansetze oder
nicht.
In meiner Gesamtabwägung komme ich zu dem Ergebnis, dass
dem Wohl unseres Volkes mit einer Neuwahl jetzt am besten gedient
ist. Es ist richtig, dass in der heutigen Situation der
demokratische Souverän - das Volk - über die
künftige Politik unseres Landes entscheiden kann. Die Parteien
fordere ich auf, den Bürgerinnen und Bürgern ihre
Vorstellungen über die Lösung der Probleme sachlich und
wahrhaftig zuvermitteln. Ich bin ganz sicher: Wir haben die
Begabung und die Fähigkeit, unsere Freiheit zu sichern und
einen modernen Sozialstaatzu gestalten.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, jetzt haben Sie es
in der Hand. Schauen Sie bitte genau hin. Demokratie heißt,
die Wahl zuhaben zwischen politischen Alternativen. Machen Sie von
Ihrem Wahlrecht sorgsam Gebrauch.
Zurück zur
Übersicht
|