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Andreas Schleicher
Das Kapital "Wissen" muss ständig erneuert
werden
Schule 2020: Auf Herausforderungen der
nächsten Jahre reagieren
Bei der Gestaltung von Bildungsreformen
müssen wir den Blick über die vielen zu lösenden
Alltagsprobleme hinweg, 15, 20 Jahre nach vorne richten, und
strategische Perspektiven für Bildungsreformen schaffen. Was
wissen wir über die Zukunft? Wenig, aber einige
Rahmenbedingungen sind absehbar. So ist absehbar, dass die Zahl der
Menschen im erwerbstypischen Alter in Deutschland von 40 Millionen
auf 30 Millionen sinken wird. Vor diesem Hintergrund können
wir uns es nicht mehr leisten, dass ein beträchtlicher Anteil
junger Menschen, vor allem Kinder aus sozial benachteiligtem
Umfeld, sein Bildungspotenzial nicht ausschöpft.
Als Folge prognostiziert das Deutsche
Institut für Wirtschaft, dass Deutschland um das Jahr 2020
jährlich eine Million Migranten integrieren müsste,
allein um die Größe der erwerbstätigen
Bevölkerung zu sichern. Erinnern wir uns hier noch einmal an
die PISA-Resultate, die zeigen, wie schwer es dem deutschen
Bildungssystem fällt, junge Menschen aus anderen nationalen,
gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zu integrieren.
Weiterhin können wir davon ausgehen, dass sich die
industrielle Produktion in den OECD-Staaten bis zum Jahr 2020 noch
einmal verdoppeln wird. Entscheidender aber ist, dass der Anteil
der in der industriellen Produktion Beschäftigten bis dahin
auf rund ein Zehntel schrumpfen wird. Den Rest werden
"Wissensarbeiter" bilden, deren "Kapital", ihr "Wissen", schnell
veraltet.
Weder abstrakt noch unrealistisch
Unsere Bildungssysteme müssen diese
Menschen daher nicht nur mit solidem Fachwissen ausstatten, sondern
in erster Linie mit der Fähigkeit und Motivation zu
lebensbegleitendem Lernen. Das setzt voraus, dass der Einzelne
motiviert ist, ständig dazuzulernen, mit den erforderlichen
kognitiven und sozialen Fähigkeiten ausgestattet ist, um
eigenverantwortlich zu lernen, Zugang zu geeigneten
Bildungsangeboten hat und schließlich entsprechende kulturelle
Anreize findet, um weiterzulernen. Daran, nicht an der Reproduktion
von Fachwissen, wird man den Erfolg zukünftiger
Bildungsanstrengungen beurteilen. Das stellt an zukünftige
Bildungsreformen hohe Anforderungen. Traditionell lernen
Schüler im Rahmen von Lehrplänen, die Bildungsinhalte
detailliert festschreiben. Maßstab für Erfolg ist dann
die Akkumulation von Fachwissen, nicht die Verankerung von
anschlussfähigem Wissen und die Vermittlung von effektiven
Lernstrategien. Die Zukunft braucht Schulen, die sich an
strategischen Bildungszielen orientieren, und Lehrer, die diese
Ziele verbindlich und individuell in Lernmethoden für den
einzelnen Schüler umsetzen können; das heißt
Lernpfade individualisieren und Schüler dabei
unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln
selbstständig und kooperativ zu lernen. Nur wer klare
Erwartungen hat, diese in Form von strategischen Bildungszielen
formulieren und den Entscheidungsträgern und Handelnden - also
Schulen, Lehrern, Schülern und Eltern - auch vermitteln kann,
der wird in Zukunft Leistungsbereitschaft erfolgreich einfordern
können.
Traditionell benutzen wir Klassenarbeiten und
Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den
Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. Die Zukunft aber braucht
moderne Evaluation und motivierende Leistungsrückmeldungen,
die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen und mit denen Lernpfade
entwickelt und begleitet werden können. Gegenwärtig setzt
das deutsche Bildungssystem auf frühe Auslese im Rahmen des
dreigliedrigen Schulsystems; und damit verbunden, auf
einförmigen Unterricht in leistungshomogenen Lerngruppen. Die
Zukunft dagegen wird auf einem konstruktiven und individuellen
Umgang mit Leistungsunterschieden und Begabungen gründen, mit
dem Ziel, Schülern durch individuelle Förderung
Perspektiven für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zu
eröffnen.
Schließlich sind Lehrer und Schulen in
Deutschland oft nur die letzte ausführende Instanz eines
komplexen Verwaltungsapparates. In Zukunft wird sich die Relevanz
und Effizienz dieses Verwaltungsapparates, ob Kommunen, Länder
oder Bund, daran messen müssen, wie gut sie die Schulen bei
dem Erreichen gemeinsam vereinbarter Bildungsziele
unterstützen und welchen zusätzlichen Wert sie selber
schöpfen, das heißt, über das hinaus leisten, was
die Schule als selbstständige und pädagogisch
verantwortliche Einheit leisten kann.
System optimieren
Ist eine zukunftsorientierte Bildung
angesichts der enttäuschenden PISA-Ergebnisse eine abstrakte
unrealistische Vision? Nein, die Erfahrungen vieler Staaten - aber
auch vieler erfolgreicher deutscher Schulen - zeigen, dass eine
hohe Qualität von Bildungsleistungen sowie eine ausgewogene
Verteilung von Bildungschancen durchaus in überschaubaren
Zeiträumen erreicht werden können. Notwendig dazu aber
ist, über die Optimierung des bestehenden Bildungssystems
hinaus auch über die Transformation der dem eigenen
Bildungssystem zugrunde liegenden Schul- und Systemfaktoren
nachzudenken. Davon bleibt der bildungspolitische Diskurs in
Deutschland trotz vieler Reformen weit entfernt.
Der Autor ist PISA-Koordinator für Deutschland bei der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) in Paris.
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