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Marianne Demmer
Für schrittweisen Systemwechsel
Dreigliedriges Schulsystem: Contra - Aufruf zur
Sachlichkeit
Was soll unser Schulsystem leisten? Es soll alle in Deutschland
lebenden jungen Menschen beim Aufwachsen und Lernen so gut
unterstützen und fördern, dass sie Wissen,
Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen erwerben können,
die für ein gelingendes privates und berufliches Leben
nötig sind; es soll die Demokratie stärken, zum
Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, soll Benachteiligungen
ausgleichen und Chancengleichheit verbessern; und es soll
schließlich helfen, die ökonomische Basis einer sich
dynamisch entwickelnden Wissensgesellschaft zu sichern. Bei diesen
Zielen besteht in unserer Gesellschaft Konsens - zumindest was die
öffentlichen Verlautbarungen angeht. Gestritten wird über
die Frage, ob das traditionelle vielgliedrige Schulsystem in
Deutschland zukunftsfähige und europataugliche Grundlagen
für diese Ziele bietet.
Spätestens seit Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse
sind erhebliche Zweifel angebracht. 25 Prozent der
Schülerinnen und Schüler haben die denkbar schlechtesten
Startchancen für ihr Leben. Das Schulsystem unterstützt
das Auseinanderfallen der Gesellschaft. Statt Benachteiligung
auszugleichen verschärft es sie und auch die Leistungsspitze
bleibt unter den Erwartungen. Schwankende Schülerzahlen machen
das vielgliedrige System zudem für Schulträger zu einem
Riesenproblem. Indem zehnjährige Kinder in Schulformen mit
unterschiedlich hohem Anspruch und Prestige einsortiert werden,
werden viele Kinder gekränkt und beschämt. Dies
führt mit Sicherheit nicht zur Entwicklung aller Potenziale,
die in den jungen Menschen schlummern und auch nicht zur
Bereitschaft lebenslang zu lernen.
Verdopplung der Abiturientenquote
Deutschland braucht eine Verdoppelung seiner Abi-turientenquote,
um international den Anschluss an die führenden
Wissensgesellschaften zu erreichen. Wie soll das in einem
Schulsystem gelingen, in dem bereits die heute erreichte Quote von
rund 35 Prozent als zu hoch gilt. Es ist barer Unsinn, dass bereits
bei Zehnjährigen festgelegt wird, ob ein Kind eher Maurer oder
Professor werden soll. Von konservativer Seite wird behauptet, die
Probleme des deutschen Schulsystems hätten mit der
Schulstruktur und vor allem mit dem einmalig frühen
Selektionszeitpunkt nichts zu tun, sondern lägen an fehlenden
Standards, fehlender Strenge, fehlenden Werten oder an
unfähigen Lehrkräften. Zeitweise belegte die
Kultusministerkonferenz die Strukturdebatte sogar mit einem Tabu,
was einige Kultusminister jedoch nicht daran hinderte,
Strukturveränderungen hin zu noch mehr Selektivität
vorzunehmen.
Strukturen sind nicht bedeutungslos
Pädagogische Prozesse sind so vielschichtig, dass
monokausale Ursachen eher unwahrscheinlich sind. Natürlich
liegen die Probleme in Deutschland nicht nur in der Schulstruktur
begründet. Andererseits ist jedoch auch sicher, dass
Strukturen nicht bedeutungslos sind. Sie hinterlassen Spuren im
Denken und Fühlen, in der Lehrerbildung, in den
Lehrplänen, in der Selbsteinschätzung junger Leute, im
Familienleben. Wer sich also ernsthaft mit der Frage auseinander
setzen will, was einem demokratischen, chancengleichen und hoch
leistungsfähigen Schulwesen in Deutschland im Wege steht,
kommt nicht daran vorbei, sich auch mit der Schulstruktur zu
beschäftigen. Wer darin gleich die Gefahr "ideologischer
Schlammschlachten" wittert, kann sich vermutlich eine sachliche
wissenschaftliche Debatte nicht vorstellen. Warum eigentlich
nicht?
Ich plädiere für Sachlichkeit und einen schrittweisen
Systemwechsel zu einem integrativen leistungsfähigen und
chancengleichen Schulsystem, das nicht aussondert, sondern alle
Kinder gleichermaßen willkommen heißt. Es sollen keine
Schulen "abgeschafft" oder "zerschlagen" werden und durch
"Mammut-Gesamtschulen" ersetzt werden. Jede einzelne heute
existierende Schule soll vielmehr die Kinder des Wohnbezirks
aufnehmen, einen integrativen Auftrag erhalten, zur individuellen
Förderung verpflichtet werden und dafür auch die
notwendige Unterstützung bekommen. "Falsche Schüler" soll
es nicht mehr geben. Lehrerinnen und Lehrer müssen den
professionellen Umgang mit der Verschiedenheit ihrer
Schülerinnen und Schüler lernen, damit die
Leistungsstarken nicht unterfordert und die
Leistungsschwächeren nicht überfordert werden. Dass ein
solcher Systemwechsel funktionieren kann, haben viele Länder
vorgemacht. Wie die Eine Schule für alle dann heißt, ist
nachrangig. Aber vielleicht hilft es zur Akzeptanz, wenn - wie in
Polen - die Schulen der Sekundarstufe I einfach "Gymnasium"
heißen. Polen war der Shooting-Star der PISA-Studie 2003.
Die Autorin ist im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft für den Bereich Schule verantwortlich,
Frankfurt.
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