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Jutta Witte
Hochbegabte in das normale Schulleben
integrieren
Der Marburger Psychologe Rost warnt vor
"Förderhysterie"
Ohne Freunde, ohne großes Schlafbedürfnis,
ständig unzufrieden, unterfordert, ja gar
suizidgefährdet? Für Detlef H. Rost, Leiter der
Begabungsdiagnostischen Beratungsstelle BRAIN in Marburg, sind
solche und ähnliche Kriterien, wie sie häufig in
Checklisten für die Erkennung Hochbegabter auftauchen,
schlicht "dummes Zeug". Das typische hochbegabte Kind gibt es nach
Überzeugung des Psychologen und Pädagogen nicht.
Hochbegabte, betont er, seien Individuen wie alle anderen Kinder.
"Die einzige Klammer bildet ihre hervorragende intellektuelle
Leistungsfähigkeit". Dass Hochbegabte, also die zwei Prozent
der deutschen Bevölkerung, deren Intelligenzquotient (IQ)
über 130 liegt, nicht automatisch zum lebenslangen
Unglücklichsein verdammt sind, belegen nach Überzeugung
des 50-Jährigen Forschungen, die er und sein
siebenköpfiges Psychologenteam seit 1987 mit zwei
repäsentativen, nicht vorausgelesenen Gruppen
durchführen. 25 Jahre alt sind die Hochbegabten und die
Probanden ihrer nicht hochbegabten Vergleichsgruppe mittlerweile.
Alle entwickelten sich prächtig, betont der Experte.
Überproportional mehr Probleme als normal Begabte hätten
die vermeintlichen Genies nicht.
Rost warnt deswegen vor "Förderhysterie" und willigt in
genaue diagnostische Untersuchungen - von Herbst 1999 bis Juli 2004
waren dies rund 900 Beratungsfälle - nur ein, wenn es einen
besonderen Anlass gibt: "Wenn Sie von oben bis unten gesund sind,
gehen Sie auch nicht zum Arzt." Dabei verhehlt der Experte
keineswegs, dass Hochbegabte schneller lernen, weniger
Zwischenschritte und kaum Wiederholungen brauchen und
anspruchsvollere Aufgaben bewältigen können. Dieser hohen
Leistungsfähigkeit könne jedoch auch im ganz normalen
Unterricht Rechnung getragen werden, wenn die Lehrer hierzulande
einen besseren, sprich differenzierteren Unterricht anbieten
würden.
Bessere Ausbildung
Möglichkeiten auch Hochbegabte und die so genannten
Hochleister, die Überdurchschnittliches auch mit einem
Durchschnitts-IQ schaffen, in den ganz normalen Schulunterricht
einzubinden, gibt es nach Rosts Ansicht viele - von
Tutorentätigkeiten über Aufgaben, die dem Leistungsstand
des einzelnen Schülers entsprechen, bis hin zu
zusätzlichen Herausforderungen wie Astronomie oder Chemie.
Lehrer seien keine "Mini-Diagnostiker", betont der Psychologe,
sollten aber dennoch den Lernweg der Kinder sensibler begleiten als
bislang.
Besonderen Handlungsbedarf sieht der Fachmann vor allem bei der
Ausbildung der Gymnasiallehrer. Die Thematik bereits in die
Kindergärten hineinzutragen hält er allerdings für
verfrüht. Keine Lösung ist es nach seiner
Überzeugung, Hochbegabte und Hochleister an Spezialschulen zu
separieren, an denen "pflegeleichte und stromlinienförmige
Schüler", die sich eigentlich selber helfen könnten,
"Schule vom Feinsten" genießen können. Für
Problemfälle, die eine intensive Einzelbetreuung brauchen,
seien diese Schulen ebenfalls kein Auffangbecken.
Bei aller Kritik jedoch sieht Rost auch Positives an der
derzeitigen Diskussion um die Förderung extrem
leistungsfähiger Schüler. "Früher war Hochbegabung
ein Unwort. Heute ist eine intellektuelle Leistung kein Makel
mehr." Es habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden, lobt der
Experte, der hofft, dass am Ende der Diskussion ein besserer
Unterricht für alle steht. "Unsere Gesellschaft braucht eine
bessere Ausbildung - auch für die restlichen 98 Prozent."
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