|
|
Peter Struck
Ganztagsschulen - Chancen und Risiken
Mindestens jedes vierte deutsche Kind ist nachmittags mehr oder
weniger auf sich allein gestellt und der zufälligen
Beeinflussung der Clique, der Fußgängerzone, des
Kaufhauses oder des multimedial vernetzten Kinderzimmers zwischen
Fernseher, DVD-Player, Playstation, Computer und Handy
überlassen. Kein Wunder also, dass die hierzulande bereits
gestarteten Ganztagsschulen mehr Anmeldungen als Plätze haben.
Sie können Lebensmittelpunkt junger Menschen werden, weil sie
Zeit haben kompensatorisch ein Stück weit auszugleichen, was
die Familie erzieherisch nicht hinbekommen hat.
Aber sie bieten Gefahren und Chancen: Wenn sie mit
gleichzeitigem Sparen von Land und Kommune umgesetzt werden,
missraten sie leicht zu Aufbewahrungsanstalten für Kinder von
Eltern mit Abgabementalität. Wenn an das klassische Lernen am
Vormittag zwischen Mathe, Deutsch und Physik bloß ein
Pädagogischer Mittagstisch und mehrere musische, sportliche
und technische Kurse nebst Hausaufgabenhilfe angehängt werden,
werden die am Nachmittag liegenden Kurse abgewertet und das Lernen
nicht sinnvoll rhythmisiert. Ein Eingriff in das Familienleben, wie
von vielen Eltern befürchtet, müssen Ganztagsschulen aber
nicht darstellen, denn selbst, wenn sie bis 17 Uhr dauern,
beanspruchen sie nur etwa ein Viertel der Zeit, die eine Woche
bietet.
Die Chance der Ganztagsschule besteht in der Rhythmisierung des
Unterrichts: Nach einer anstrengenden Mathe-Stunde folgt eine
Stunde Kunst, nach der anschließenden Französischstunde
folgt eine Stunde Bewegungserziehung, und auch von 14.30 Uhr bis
16.00 Uhr lässt sich dann mit der zweiten Hochleistungsphase
des Tages Chemie oder Latein unterrichten. Menschen und zumal
Kinder benötigen für eine gute Leistungsfähigkeit
den ständigen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung,
also einen rhythmisierten Tag.
Die Schweden und Finnen sagen deshalb: Jedes Kind braucht vier
Pädagogen; die wichtigsten Lehrer sind die anderen Kinder, die
zweitwichtigsten sind die Lehrer, die drittwichtigsten sind die
Räume mit dem Interieur und der viertwichtigste Lehrer ist die
Rhythmisierung. Lernen braucht Zeit, braucht Reden und Handeln,
braucht Anwenden und Üben, braucht neben Bildung auch
Erziehung und braucht einen gastgebenden Lernberater als
Dienstleister, nicht aber einen Unterrichtsvollzugsbeamten in einer
verlängerten Halbtagsschule.
Ganztagsschulen erlauben mehr Individualisierung, also ein
besseres Eingehen auf die unebene Lernlandschaft im Kind und sein
spezielles Lerntempo. Sie reduzieren daher das, was wir
"niederlagenreiches Lernen" nennen. Mit Ganztagsschulen gewinnt
Deutschland die Chance, Lernen allgemein so effizient zu machen,
wie es die zurzeit beste deutsche Schule, die Bodenseeschule in
Friedrichshafen, schafft: Sie ist eine katholische Grund- und
Hauptschule mit Werkrealschule. Sie ist seit 1971 Ganztagsschule
und arbeitet unter dem Motto Jean Jacques Rousseaus: "Zeit
verlieren heißt Zeit gewinnen."
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler, Hamburg.
Zurück zur
Übersicht
|