|
|
Carsten Hauptmeier
Eckpfeiler der neuen Schulpolitik
Bildungsstandards sollen Vergleichbarkeit
herstellen
Ein Mathematik-Genie muss niemand sein, um diese
Aufgabe zu lösen: Zwei Wohnungen stehen zur Auswahl. Für
die eine ist der Preis pro Quadratmeter angegeben, für die
andere der Gesamtpreis. Welche von beiden ist teurer? Mit dieser
Beispielaufgabe erläutert der Leiter des neu gegründeten
Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB),
Olaf Köller, was er meint, wenn er sagt: "In Mathematik soll
ein Schüler zum Beispiel mit der mittleren Reife in der Lage
sein, mathematische Alltagsprobleme lösen zu können."
In Deutsch erwartet er beispielsweise, dass
Jugendliche einen populärwissenschaftlich verfassten
Zeitungsartikel über Forschungsergebnisse verstehen. Und in
Englisch muss es nicht unbedingt Shakespeare sein; vielmehr geht es
etwa darum, in einem Gespräch mit einem Kioskverkäufer
oder bei einer Unterhaltung über jugendpolitische Themen frei
in der fremden Sprache reden zu können.
Was sollen Schüler am Ende der zehnten
Klasse in Mathematik oder Deutsch wissen? Wie gut müssen sie
Fremdsprachen beherrschen? Was wird von ihnen in Biologie, Physik
oder Chemie erwartet? Mit solchen und ähnlichen Fragen
befassen sich Köller und seine Kollegen am IQB Tag für
Tag. Denn ihr Job ist es, die seit kurzem bundesweit geltenden
Bildungsstandards weiterzuentwickeln und später auch zu
überprüfen. Die Standards sind ein, wenn nicht gar das
zentrale Projekt der Kultusminister der Länder nach dem
schlechten Abschneiden Deutschlands bei der internationalen
PISA-Studie. Sie definieren, was Deutschlands Schüler in
Kernfächern wie Deutsch oder Mathematik am Ende der
Grundschule oder nach zehn Schuljahren gelernt haben sollten -
egal, ob sie in München, Hamburg oder Berlin wohnen.
Leistungen sollen so vergleichbarer werden, aber vor allem soll
mithilfe dieser Zielvorgaben das Niveau an deutschen Schulen
verbessert werden.
Eine Schlüsselrolle in diesem auf
mehrere Jahre angelegten Prozess spielt das IQB. An dem an der
Berliner Humboldt-Universität angesiedelten und von den
Bundesländern gemeinsam getragenen Institut werden unter
anderem Hunderte von Beispielaufgaben für die Standards
entwickelt, um so letztlich messen zu können, ob die
Schüler die geforderten Leistungen erreichen. Mit den Aufgaben
werde illustriert, was Schüler konkret können
müssen, sagt IQB-Leiter Köller, der vor seiner Berufung
an das neue Institut als Professor für pädagogische
Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg
tätig war. Denn momentan, räumt er ein, wüssten
viele nicht genau, was Bildungsstandards eigentlich seien. Auch die
Lehrkräfte hätten bislang nur "grobe
Vorstellungen".
Dabei brachte die Kultusministerkonferenz
(KMK) das Projekt schon Ende 2003 auf den Weg: Damals beschlossen
die Länderminister die ersten Bildungsstandards für die
Fächer Deutsch, Mathematik und die erste Fremdsprache, also
Englisch oder Französisch, für den mittleren Abschluss
nach der zehnten Klasse. Es folgten Vorgaben in Deutsch und
Mathematik für die vierte Grundschulklasse sowie zuletzt in
den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie und
Physik für die mittlere Reife. Formuliert wurden dabei
Regelstandards, die umschreiben, was Schüler in der Regel
wissen sollten. Bewusst entschieden sich die Politiker
zunächst gegen so genannte Mindeststandards, mit denen ein
Minimum an Kompetenzen definiert wird, das die deutschen
Schüler beherrschen sollten. Dies erschien den Kultusministern
für den Anfang zu gewagt, weil sie die Gefahr sahen,
Schüler zu unterfordern oder einen Teil von ihnen zu
überfordern. KMK-Generalsekretär Erich Thies hält es
derzeit für einen "völlig offenen Prozess", ob irgendwann
auf Mindeststandards umgestellt werde.
Auch im Schulalltag sind die neuen
Zielvorgaben schon angekommen: Die ersten Standards wurden bereits
zum Schuljahr 2004/2005 an den Schulen eingeführt, die
übrigen folgen in diesem Sommer. Doch bis das Projekt richtig
greift, werden noch zahllose Schulstunden vergehen. Bis 2009 will
das IQB Aufgabensammlungen für alle Standards erarbeiten. In
Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache sollen die
Standards bis dahin auch schon überprüft worden sein.
Dies geschieht durch national repräsentative Stichproben -
"ähnlich wie bei PISA", wie Köller erläutert. Die
Naturwissenschaftler müssen sich noch länger gedulden: In
Physik, Chemie und Biologie werde dies wegen der begrenzten Zeit
und Ressourcen noch nicht möglich seien, dämpft
Köller allzu kühne Erwartungen.
Die Bildungsstandards sind ein langfristig
angelegtes Vorhaben: Auch wenn es den erwünschten Erfolg
bringt, dürfte sich dies erst in einigen Jahren in einem
deutlich höheren Leistungsniveau an Deutschlands Schulen
spiegeln. Ein Wundermittel, das die deutsche Bildungsmisere von
heute auf morgen heilt, sind sie jedenfalls nicht. Das weiß
auch die KMK, an der Notwendigkeit ihrer Einführung besteht
dort aber kein Zweifel: "Wir brauchen nationale Bildungsstandards,
weil sie eine notwendige Bedingung für den Erfolg sind", zeigt
sich KMK-Generalsekretär Thies überzeugt. Ihre
Einführung bedeutet nämlich noch mehr, als nur die
Leistungserwartungen an Deutschlands Schüler
festzulegen.
Die neue Idee von Schulen
Dahinter steckt auch die neue Idee von
Schulen: Denn diese sollen nicht nur neue Zielvorgaben bekommen,
sondern gleichzeitig mehr Eigenverantwortung. Nach Thies Worten
geht es um einen Paradigmenwechsel, "weil einerseits Leistungen
gemessen werden und andererseits den Schulen mehr Freiheiten
gegeben werden". Am Ende müssten sie "Rechenschaft über
das Geleistete ablegen", betont IQB-Leiter Köller. Für
den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus,
heißt die Konsequenz daraus, nach der Definition von Standards
in den Ländern auch jeweils zentrale Abschlussprüfungen
einzuführen. Wer A sage, müsse auch B sagen, sonst bliebe
es ein "halbherziger Schritt", sagt der Leiter eines bayerischen
Gymnasiums. Während der Freistaat bereits seit Jahren auf
zentrale Abschlussprüfungen setzt, folgen nun verstärkt
auch andere Länder wie beispielsweise das von der CDU allein
regierte Hessen diesem Weg.
Keine uneingeschränkte
Begeisterung
Für die Kultusminister aller Länder
sind die neuen Bildungsstandards ein Eckpfeiler ihrer Schulpolitik.
Wenn nach Reformen nach dem PISA-Schock gefragt wird, kommt
früher oder später die Sprache auf die neuen
Leistungsziele und den damit verbundenen Systemwechsel. Doch es
gibt auch warnende Stimmen. Die Schulexpertin der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, sieht in den
Standards zwar "ein Werkzeug zur Verbesserung der Schulen und des
Unterrichts". Es könne niemand etwas dagegen haben, wenn diese
als Fördermittel dienten, um etwa schwächere Schüler
oder Schulen zu unterstützen, sagt das Vorstandsmitglied der
Gewerkschaft. Doch Demmer treibt vor allem die "große Sorge"
um, dass in einigen Bundesländern ihre einzige Funktion darin
bestehe, am Ende der Grundschulzeit "die Selektion zu
verfeinern".
Dabei taugen die Standards nach Ansicht von
IQB-Leiter Köller gar nicht dafür. Die Tests seien
für eine Diagnose in Einzelfällen nicht geeignet, mahnt
Köller. Denn einzelne Schüler würden manchmal
über- oder unterschätzt. So könnten Kinder zum
Beispiel schlechter abschneiden, weil sie einen schlechten Tag
hätten, unkonzentriert seien oder krank gewesen seien, als der
Stoff im Unterricht durchgenommen wurde. Auf der anderen Seite sei
es möglich, dass ein Schüler einen guten Ratetag habe.
Für das Gesamtergebnis einer ganzen Klasse oder Schule sind
diese Messfehler laut Köller dagegen
"unproblematisch".
Auch die Fokussierung auf wenige zentrale
Fächer stößt nicht auf uneingeschränkte
Begeisterung. GEW-Expertin Demmer sieht das Risiko, dass so
genannte weiche Fächer wie Ethik, Religion, Musik oder Sport
unbedeutend würden. Gleiches gilt aus ihrer Sicht für die
politische Bildung oder schwer zu testende Kompetenzen wie
Kommunikations- und Teamfähigkeit. Ein ganz handfestes Problem
sieht der Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung
in Dortmund, Hans-Günter Rolff, wenn die Lehrer nicht für
den Umgang mit den neuen Standards ausgebildet werden. Wenn bei der
Lehrerfortbildung nichts getan werde, würden die Standards
nicht sehr wirkungsvoll sein. Dann könnte es sein, mahnt der
Wissenschaftler, dass sie "nicht mehr als Symbolpolitik
sind".
Zurück zur Übersicht
|