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Ines Gollnick
Auftakt zur Autonomie
Die Bertolt-Brecht-Gesamtschule in
Bonn
Die Bertolt-Brecht-Gesamtschule in Bonn ist eine
ganz normale Schule, hervorgegangen aus einer Hauptschule. Junge
Menschen aus allen Milieus drücken gemeinsam die Schulbank,
Kinder vom Professor genauso wie vom Sozialhilfeempfänger.
Nach der Sommerpause startet die erste gymnasiale Oberstufe, denn
die BBGS ist eine Gesamtschule im Aufbau, die 2007 die ersten
Abiturienten entlässt und dann 1.400 Schüler und ein
Kollegium mit 100 Lehrern haben wird. Den Weg zu mehr Freiheit und
Gestaltungsspielraum ebnete der BBGS das Projekt
"Selbstständige Schule" in Nordrhein-Westfalen, das
Nachfolgeprojekt von "Schule & Co.".
Neue Fächer, ein eigener Etat, eine
anders gelebte Lehrerrolle und pädagogische Teamarbeit sind
nur einige von vielen neuen Schritten zur Schule der Zukunft. Die
pädagogische und organisatorische Neuorientierung fordert
Schulleitung, Pädagogen und Schüler gleichermaßen
heraus.
Der März ist neuerdings ein besonderer
Monat: Verfassungstag an der Bertolt-Brecht Gesamtschule (BBGS) in
Bonn. Einmal im Jahr wird die Schulverfassung offiziell gefeiert.
Eine gemeinsame Luftballonaktion und eine kleine Feierstunde in der
Aula stehen an. Nichts Festliches, eher etwas Spielerisches, das
auch für Zusammenhalt steht. In diesem Jahr steigen Hunderte
Luftballone - gespendet vom Partnerunternehmen Deutsche Post AG -
über dem Schulsportplatz in die Lüfte. "Schick mich
zurück!" steht bei vielen auf der angehängten Postkarte
mit der abgedruckten Schulverfassung und der Adresse der Schule.
Den Rücksendern winkt ein kleiner Preis.
Erst Anfang 2003 trat die von Lehrern und der
Schülervertretung (SV) erarbeitete Schulverfassung in Kraft.
Schüler und Eltern haben sie unterschrieben und stehen damit
in der Pflicht, das Idealbild zum Miteinander, zum Lehren und
Lernen und zur Verantwortung der Eltern gelebte Wirklichkeit werden
zu lassen.
Beim Eingang von Station Nummer zwei, der
Aula, knubbelt es sich heftig. Rund 1.000 Schüler suchen ihre
Plätze. Sie sind aufgedreht. Schulleiter Ulrich Stahnke nutzt
die Vollversammlung, um erneut die Philosophie, die das Lernklima
am Lernort bestimmen soll, anzusprechen: "Wir stehen am Anfang
einer Tradition. Die Schulverfassungsfeier ist als Erinnerungstag
gedacht, um zu überlegen und darüber nachzudenken, wie
wir alle miteinander lernen und miteinander leben
wollen."
Soziales Miteinander steht ganz
oben
Das Soziale steht an der
Bertolt-Brecht-Gesamtschule ganz oben. "Wenn das nicht stimmt,
funktioniert auch der Fachunterricht nicht", sagt Ursula Dreeser,
didaktische Leiterin der BBGS, im Gespräch mit "Das
Parlament". Die Powerfrau mit Vorwärtsdrang kann Lehrer wie
Schüler motivieren: "Schüler sollen an der BBGS keine
Schülerrolle spielen, sie sollen sie leben, ausfüllen und
bewusst verantworten." Den Rechercherundgang mit der Journalistin
hat Dreeser gerne zwei Schülern überlassen. Thomas Kraus
(16), Schulsprecher und Mitglied in der Steuergruppe, und Philip
Peusmann (16), Klassensprecher der 10.5., macht es richtig
Spaß, "ihre Schule" vorzustellen: Neue Räume für die
Naturwissenschaften mit TV und Speziallabor, wo Schüler jetzt
wirklich selber experimentieren können; toll ausgestattete
Werkräume, die Aula mit der neuen Beleuchtungsanlage und
natürlich die gerade eingerichtete Schulbibliothek mit
Internetanschlüssen, in der ein Selbstlernzentrum aufgebaut
wird.
Durch die Neuausrichtung jonglieren alle mit
ungewohnten Vokabeln: Steuergruppe, Teamschule,
Unterrichtsentwicklung, Transparenz und alles unter dem Oberbegriff
mehr Autonomie. In der Steuergruppe sitzen Schüler wie Thomas
Kraus, Lehrer und Eltern, um den Schulentwicklungsprozess als
Ganzes im Blick zu haben. Teamschule meint nicht nur, dass Lehrer
sich als Teil eines Teams verstehen und sich vom
Einzelkämpfertum verabschieden müssen, sondern dass sie
ebenso die Klasse als Team fördern und unterstützen
sollen. Die Klassenlehrer eines Jahrgangs bilden Jahrgangsteams.
Alle Kollegen und Kolleginnen sind einer Jahrgangsstufe zugeordnet
und unterrichten dort auch den größten Teil ihrer
Stunden. So ist es beispielsweise möglich, Arbeitsblätter
auszutauschen oder sich bei Klassenfahrten besser
abzustimmen.
Kataloge und Kriterien entwickeln
Neu implementiert wurde die
Unterrichtsentwicklung auf Teamebene, die für alle Lehrer
verbindlich ist. Sie wird über zwei Jahre verteilt in vier
Modulen realisiert, eingeteilt in die Abschnitte Methoden,
Kommunikation, Teamentwicklung und eigenverantwortliches Arbeiten.
"Neu ist, dass alle im Lehrerkollegium das Gleiche lernen. Lehrer
haben sich einzeln immer fortgebildet. Doch erst durch die
Teamfortbildungen wird das Gelernte auch wirklich in die Schule
zurückgetragen", verdeutlicht Dreeser. Arbeitsteilige
Unterrichtsvorbereitung als ein Ziel der Maßnahme sei "eine
hart zu knackende Nuss". So etwas vermittelt die stark in die
Kritik geratene Lehrerausbildung in Deutschland in der Regel nicht.
Weitere schulinterne Fortbildungen kommen hinzu, zum Beispiel zum
Evaluationsberater oder zur Leistungsbewertung. Diese
Evaluationsberater sollen die Schule zu bestimmten Projekten in die
Lage versetzen, Kataloge und Kriterien zu entwickeln, an denen man
den Erfolg der Arbeit überprüfen kann. Bei allen
Schulungen muss sichergestellt sein, dass das Erlernte nachhaltig
wirkt. Um es in den Unterricht zu tragen, bleibt etwa ein halbes
Jahr Zeit.
Ein ganz junger Pädagoge im Team ist
Carsten Kroppach, einer der beiden Klassenlehrer der 6.4. Es ist
kurz vor acht Uhr. Die Klassenräume sind längst
aufgeschlossen. Das Warten vor verschlossenen Türen bis zum
ersten Gong hat die BBGS längst abgeschafft. "Offener Anfang"
heißt das. Gemeint ist, dass alle Schüler erst einmal
"ankommen" sollen. Gegen 8.15 Uhr hebt Carsten Kroppach die flache
Hand auf Augenhöhe. Die Schüler machen es ihm nach und
der Lärmpegel im Raum reduziert sich zusehens. Die gehobene,
flache Hand ist das Ruhezeichen, auf das sich alle verständigt
haben. Methodenwechsel im Unterricht heißt: Die Schüler
sitzen immer zu sechst an Tischgruppen, Jungen und Mädchen
gemischt und keineswegs immer zusammen mit der Freundin oder dem
Freund. Die Schulung von Teamwork ist das A und O. Die Kinder
sollen eine offene, konstruktive Zusammenarbeit lernen.
Die veränderte Rolle des Lehrers,
Lernpartner und Lernberater zu sein, ist unübersehbar. Der
junge Pädagoge geht von Tisch zu Tisch, ist nicht Frontmann,
sondern mittendrin, eben einer von ihnen. Er muss über ein
umfassendes Methodenrepertoire verfügen, um die Lernprozesse
für Schüler unterschiedlicher Leistungsstärke
abwechslungsreich und anspruchsvoll zu gestalten.
Unterrichtsentwicklung bedeutet an der BBGS auch, dass neue
Fächer wie Ökologie oder Offenes Lernen im Stundenplan
stehen.
Es gibt unzählige Schritte, durch die
die BBGS verändert wird. Alles steht und fällt mit dem
Etat und dem Personal. Durch die "Kapitalisierung" von
Lehrerstellen, das .heißt, durch die Möglichkeit, dass
die Schule unbesetzte Stellen nicht nachbesetzt und dafür das
Geld erhält und ihren speziellen Bedürfnissen
entsprechend einsetzt, zum Beispiel jemanden beschäftigt, der
mit den Kindern über Mittag arbeitet, aber kein Lehrer sein
muss, entstehen Gestaltungsräume. Die BBGS verfügt
über einen Etat in Höhe von etwa 25.000 Euro.
Die Losung für das Team von Stahnke, mit
gut 42 Jahren Durchschnittsalter ein relativ junges Kollegium,
lautet: "Wir müssen alle einen ähnlichen Blick auf Schule
haben." Der Satz hört sich zwar selbstverständlich an,
ist es für Schule aber nicht. Er meint damit auch, dass Schule
eine Leitidee braucht, die Lehrer, Schüler und auch Eltern
gemeinsam im Blick haben. "Ohne eine gemeinsame Leitidee
funktioniert Schule nicht!" Vieles Neue hat Einzug gehalten, aber
die allerwichtigste Entscheidung bei der Neuausrichtung ist
für Personalchef Stahnke, dass er bei Neueinstellungen oder
Versetzungen mit den Lehrern und Lehrerinnen reden kann, um sich
über ihren Blick auf Schule ein Bild zu machen.
Ins Boot holen
Begriffe wie Erlasse und Verordnungen passen
so gar nicht in diese neu zu kreierende Schulwelt. Stahnke ist ein
Schulleiter, der das öffentliche Schulwesen unter
öffentlicher Aufsicht will. "Diese Aufsicht muss sich
allerdings verändern. Wir können Schule letzten Endes nur
bewegen, an den unterschiedlichen Standorten, mit den
unterschiedliche Bedingungen und unterschiedlichen Menschen, wenn
wir die Leute, sprich die Lehrer, die vor Ort arbeiten, ins Boot
holen. Mit Erlassen und Verordnungen kriegen wir das nicht
geregelt. Wir selber müssen das auch wirklich verantworten."
Der Mathe- und Geschichtslehrer, seit 33 Jahren im Beruf, ist
Realist: "Wir stehen in Sachen Autonomie erst am Anfang der
Geschichte." Seine Zielvorstellung sieht er beim Nachbarn Holland
realisiert, wo laut seiner Einschätzung 70 Prozent der Schulen
eigentlich autonom sind. Dort gibt es beispielsweise
Stellenpläne, die Beförderungen auf Zeit zulassen. Eine
Schulgemeinde wählt dort den Schulleiter, der einen
befristeten Vertrag bekommt. Budgets dürfen so aufgeteilt
werden, dass Teilzeitverträge möglich sind. Besonders bei
der Personalführung sind Stahnke in Deutschland die Hände
gebunden. Das deutsche Arbeitsrecht erlaubt ihm, nur ganze Stellen
zu vergeben. Entlassen kann er verbeamtete Lehrer sowieso
nicht.
Der erfahrene Direktor würde gerne viel
mehr Fesseln sprengen, zum Beispiel nach holländischem Vorbild
Schüler gerne "klassifizieren", damit personelle Ressourcen je
nach Leistungsfähigkeit des einzelnen eingesetzt werden
können. Doch das ist noch Zukunftsmusik. An der
Bertolt-Brecht-Gesamtschule ist der Auftakt zur Autonomie
geschafft. Die Fortsetzung folgt, aber nur wenn alle, die Schule
und Lehrerausbildung zu verantworten haben, den Reformweg
konsequent weitergehen.
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