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Marco Heinen
Hauptschule - ein Auslaufmodell?
Die doppelt Benachteiligten
Anfang des Jahres sorgte eine Hauptschule in Berlin-Kreuzberg
für Furore: Unter den 339 Schülern waren nur fünf
deutsche Kinder. Auch an einigen Nachbarschulen erreichte der
Anteil der Migrantenkinder etwa 85 bis 90 Prozent. Dass dies den
Leistungsschnitt nach unten zieht, weil schlechte Deutschkenntnisse
und mangelnde soziale Integration nicht eben lernfördernd
wirken, ist bekannt. Und solche Beispiele scheinen denjenigen
Kritikern Recht zu geben, die die "Restschule" am liebsten ganz
abschaffen würden.
Die Wissenschaftlerin Gundel Schümer vom Berliner
Max-Planck-Insitut für Bildungsforschung hat sich mit der
sozialen Komponente beschäftigt und ihre Erkenntnisse in dem
Aufsatz "Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus
unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen"
zusammengefasst. Schüler, die unter ungünstigen
Umständen lebten, seien im Vergleich zu ihren Altersgenossen
aus privilegierten Familien mehr oder weniger stark benachteiligt
und hätten schlechtere Bildungschancen, so Schümers
These. Sie seien "aufgrund ihrer Herkunft noch einmal
benachteiligt, wenn sie - selektionsbedingt - Schulen mit hohen
Anteilen an Schülern besuchen, die ebenfalls unter
ungünstigen familiären Bedingungen aufwachsen und -
diesen Bedingungen entsprechend - bislang wenig erfolgreich in der
Schule gewesen sind", schreibt die Erziehungswissenschaftlerin.
Zu einer "sozialen Entmischung" der Schülerschaft komme es
vor allem in jenen Bundesländern, in denen die Integrierte
Gesamtschule parallel zur Hauptschule angeboten werde. Die
Hauptschüler dürften dort, so Schümer, "sehr wohl
wissen, dass sie zu einer Minderheit gehören, die bislang
wenig erfolgreich in der Schule war" und auch, dass "ihre Chancen
eine Lehrstelle oder einen gut bezahlten Job zu finden, geringer
sind als für Schüler, die von Schulen einer anderen
Schulform kommen". Die Expertin schlussfolgert, dass daraus wohl
kaum positive Einstellungen zur Schule und zum Lernen resultieren
können. Treffe diese Vermutung zu, dann sei es mit
größeren Anstrengungen der Lehrer nicht getan, sondern es
müssten strukturelle Änderungen vorgenommen werden,
vermutet die Wissenschaftlerin.
"Ich glaube nicht, dass die Hauptschule auf Dauer ein
erfolgreiches Modell ist", stellte auch Bundesbildungsministerin
Edelgard Bulmahn (SPD) Ende 2004 angesichts der
mittelmäßigen deutschen PISA-Ergebnisse fest. Sie
zweifelt, "ob die frühe Auslese von zehnjährigen Kindern
nach der vierten Klasse der richtige Weg ist". Widerspruch kam von
der damaligen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, der
rheinland-pfälzischen Bildungsministerin Doris Ahnen (SPD).
Die PISA-Studie lasse weder Argumente für ein integriertes
noch für ein gegliedertes Schulsystem erkennen; vielmehr
müssten die Bundesländer nach ihren unterschiedlichen
Voraussetzungen individuelle Lösungen finden, so die
Ministerin.
Sie will nicht alle Hauptschulen in einen Topf werfen. Zu
groß seien die Unterschiede zwischen dem ländlichen Raum
und den Ballungszentren. In Rheinland-Pfalz gebe es überdies
bereits mehr als 80 Regionale Schulen - zusammengelegte Haupt- und
Realschulen- und etwa 20 Integrierte Gesamtschulen. Es komme auf
den Willen der Eltern an, von denen sich einige eher ein
integriertes Angebot wünschen, während andere das
stärker gegliederte Angebot vorzögen. "Das sind beides
legitime Wünsche", so Ahnen. Sie will die Hauptschulen
offensiv unterstützen und in ihrem Auftrag stärken. Und
dies sei, "Menschen zur Ausbildungsreife zu führen". Als
Maßnahmen nennt sie eine stärkere Berufsorientierung,
einen frühen Praxisbezug und mehr Schulsozialarbeit. Auch
komme den Ganztagsangeboten eine Schlüsselrolle zu. Vor allem
aber wendet sich Ahnen gegen die Hauptschuldiskussion an sich. "Es
wird über die Schulart diskutiert, aber wir müssen
über die Schülerinnen und Schüler diskutieren", sagt
sie. Eine Debatte über die Schulstruktur zu führen,
dafür sei jetzt nicht die Zeit, weil es dringendere Probleme
zu lösen gebe.
Ernst Rösner vom Institut für
Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund hält
letzteres für ein vorgeschobenes Argument. Die Abschaffung der
Hauptschule werde vor allem von Gymnasial- und Realschulehrern
bekämpft. Dabei gehe es ihnen jedoch nicht um die Hauptschule,
sondern darum, dass sie in einem solchen Fall ihre eigene Rolle neu
definieren müssten. Rösner selbst ist für die
sukzessive - mindestens zehn Jahre in Anspruch nehmende -
Einführung von Gemeinschaftsschulen, wie er sie nennt. Sie
soll alle Schüler der Sekundarstufe I aufnehmen und als
integriertes System aller drei Bildungsgänge organisiert
werden, in dem die verschiedenen Abschlüsse der Sekundarstufe
I erreicht werden können. "Die Gemeinschaftsschule ist
allerdings keine bloße Addition bislang unverbundener
Bildungsgänge, sondern vielmehr ein Rahmen für eine
veränderte pädagogische Praxis", heißt es in einer
Zusammenfassung seiner Studie zur Schulentwicklung in
Schleswig-Holstein.
Die Studie war Grundlage für die Reformpläne, mit
denen die ehemalige Kieler Landesregierung unter Heide Simonis
(SPD) in die Landtagswahl im März gezogen war. Rösners
Modell lehnt sich an das der Regionalen Schulen in Rheinland-Pfalz
und der Regelschulen in Thüringen an und zielt darauf ab,
"eine Differenzierung nach Bildungsgängen hinauszuschieben
oder gänzlich aufzugeben". Einen wesentlichen Grund für
die Trennung vom dreigliedrigen Schulsystem ist nach Rösners
Auffassung der zu erwartende Rückgang bei den
Schülerzahlen, der vor allem im ländlichen Raum
Schulschließungen nach sich ziehen werde.
Rösner vergleicht das Schulsystem mit einem Markt. "Und die
Hauptschule wird nicht mehr nachgefragt", sagt der Wissenschaftler.
Aus über viele Jahre durchgeführten Elternbefragungen
wisse man, dass Eltern für ihre Kinder stets einen besseren
Schulabschluss anpeilten, als sie ihn selbst erreicht haben.
Inzwischen sei diese Dynamik nicht mehr aufzuhalten. Auch habe die
Zahl der Berufe zugenommen, für die mindestens ein mittlerer
Abschluss Voraussetzung ist. Vielfach würden Gymnasiasten
hierbei schon in Konkurrenz zu den Realschülern treten.
"Für die Hauptschule bleibt da nicht mehr viel übrig",
meint Rösner.
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