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Ernst-Otto Czempiel
Politikern mangelt es an Kenntnis
Dieter Senghaas als unermüdlicher
Friedensforscher
Dieses Buch könnte aktueller nicht sein. Es
stellt mit dem "irdischen Frieden" das weltpolitische Hauptziel
heraus, das den Westen anleiten und orientieren sollte. Die
Sozialwissenschaft erliegt immer wieder der Versuchung, sich mehr
mit den Ursachen der Kriege als mit denen des Friedens zu
beschäftigen. Den "neuen Kriegen" gilt die politische
Aufmerksamkeit, dem Krieg gegen den Terror ohnehin. So schleicht
sich langsam das veraltete Paradigma der Realpolitik wieder
zurück, indem zwar gern nach den Ursachen der Kriege, aber nie
nach denen des Friedens gefragt worden ist.
Diese Weltvorstellung war zwar durch die
Ereignisse von 1989/90 definitiv als veraltet ausgewiesen worden.
Die daraus eigentlich fällige Dividende des Friedens hat die
Politik aber nie bezahlt. Inzwischen lässt sie ganz
unverblümt erkennen, dass sie im Zeichen der so genannten
Normalisierung die sich im Ende des Ost-West-Konflikts offenbarende
Herausforderung einer auf den Frieden gerichteten Außenpolitik
für erledigt hält.
Senghaas gehört zu den ganz Wenigen, die
sich diesem Trend entgegengestellt, als Oberziel der
Außenpolitik stets den Frieden betont und dessen Erforschung
als wichtigste Aufgabe der Sozialwissenschaft angesehen haben. Fast
alle seine Publikationen sind diesem Thema gewidmet. Jetzt hat er
deren analytische Summa vorgelegt. Ihre Quintessenz lautet, dass
der Friedensprozess auf die Ausbildung des zivilisatorischen
Hexagons angewiesen ist, dessen Basis eine zureichende und
zunehmende wirtschaftliche Entwicklung darstellt. Im Zentrum der
Diskussion über die Bedingungen von Frieden "im
einzelstaatlichen, regionalen und weltpolitischen Kontext" steht
für ihn der universale Prozess der wirtschaftlichen
Entwicklung. Über diese Monokausalität kann man streiten.
Denn damit schränkt Senghaas die Komplexität, die er sehr
zu Recht dem Friedensproblem zuweist, wieder etwas ein. Indem er
sich auf den Sachbereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt
konzentriert, vernachlässigt er den der Sicherheit und den der
Herrschaft. Dennoch ist diese Beschränkung plausibel. Da die
Sicherheit in der Regel überbetont wird, wenn von Frieden die
Rede ist, ist der Leser dankbar, wenn er hier über die
Friedensursachen im Bereich der Wirtschaft informiert
wird.
Senghaas bringt dazu die besten
Voraussetzungen mit, hat er sich doch jahrelang mit der
asymmetrischen Verteilung von Entwicklungschancen beschäftigt,
die unsere Welt seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnet. Sein Buch
liest sich daher streckenweise wie eine Universalgeschichte der
sich ausbildenden Wirtschaftswelt mit den dazugehörigen
Machtfiguren der Hegemonie, des Imperialismus und Kolonialismus,
der Abhängigkeit und der Unterdrückung. Dieses
"Entwicklungsdilemma" stellt Senghaas dem von der Theorie des
Realismus einseitig betonten "Sicherheitsdilemma" gleichrangig zur
Seite. Es war wirklich höchste Zeit, dass die wirtschaftlichen
Voraussetzungen des Fortschritts untersucht und die
gleichmäßigen Entfaltungschancen des Menschen als
entscheidende Friedensursache nachgewiesen wurden. Die
wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht schließlich erst
die komplexe Friedensfigur mit ihren verfassungspolitischen,
institutionellen, rechtlichen und emotionalen Komponenten. Sie
waren schon von Alfred H. Fried in den 20er-Jahren entdeckt worden.
Senghaas hatte sie 1982 zu seinem zivilisatorischen Hexagon
weiterentwickelt, unter dessen sechs Bestandteilen die
Rechtsstaatlichkeit und die Verteilungsgerechtigkeit hervorragen.
Erst aus dieser inneren Ordnung entspringt die "auf
Verständigung und Kompromiss" gerichtete Außenpolitik,
die den Frieden als Prozessmuster konstituiert.
Interdependenz und Globalisierung
Senghaas stützt seine moderne, den
Wissensstand der Friedensforschung widerspiegelnde These mit
Verweis auf Thomas von Aquin ("pax opus iustitiae"), auf den Slogan
der Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts, dass, wer den Frieden
will, Freiheit und Gerechtigkeit erzeugen muss, und
schließlich sogar auf Sigmund Freud, dem er einen
ausführlichen und hoch interessanten Exkurs widmet. Der
Tradition hat Dieter Senghaas (zusammen mit seiner Frau Eva) schon
1992 eine eigene komplexe Antwort hinzugefügt: "Wenn Du den
Frieden willst, bereite den Frieden vor."
Dieser Aufruf zu einer Politik, die endlich
die komplexen Ursachen des Friedens zur Kenntnis nimmt und ihre
Praxis deren Verwirklichung widmet, zeigt auch, wie weit die
aktuelle Politik noch davon entfernt ist. Dem Leser drängt
sich der Verdacht auf, dass es nicht an gutem Willen, sondern an
der Fachkenntnis mangelt, deren notwendigen Umfang das Buch
eindringlich vermittelt. Der Autor hat die Frage nicht gestellt,
aber die Lektüre seines Buches wirft sie auf: Wie sollen die
Außenpolitiker die Kenntnisse erwerben, deren Friedensrelevanz
Senghaas hier überzeugend ausbreitet? Nach der
systematisch-theoretischen Grundlegung untersucht der Autor, wie es
um den Frieden in der Welt heute bestellt ist. Den
Ost-West-Konflikt referiert er unter dem Stichwort der
Interdependenz, den Nord-Süd-Konflikt unter dem der
Globalisierung. In diesem Kapitel streift er die Sachbereiche der
Sicherheit und der Herrschaft und damit die sich seit den
70er-Jahren ausbreitende Demokratisierung. Senghaas benutzt einen
weit gefassten Interdependenzbegriff, der sich mit der Feststellung
einer gegenseitigen Abhängigkeit zufrieden gibt. Das erlaubt
ihm, Felder der internationalen Politik und verschiedene
Prozessmuster darin zu unterscheiden, wird aber dem Begriff der
Interdependenz, wie er in der internationalen Wissenschaft benutzt
wird, nicht ganz gerecht.
Überhaupt fällt auf, dass deren
Forschungsergebnisse von Senghaas nur selten herangezogen werden.
Dabei haben Konstruktivismus und Neuer Institutionalismus die
Demokratiediskussion und Wissenschaftler wie Bruce Russett sowie
Robert Jervis viel einschlägiges Wissen bereitgestellt. Das
Buch extrahiert, was der Autor in seinem umfangreichen Oeuvre an
friedensrelevanten Kenntnissen gewonnen hat. Sein kategorischer
Imperativ (um, wie der Autor mit der Anlage und Untergliederung
seines Buches, unter den Mantel des großen Philosophen zu
schlüpfen) lautet: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns
eine gleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung aller
politischen Einheiten zur Rechtsstaatlichkeit bewirkt, deren
interne Regulative gleichermaßen ihre Außenpolitik und
die daraus resultierende Weltpolitik determinieren.
Konkrete Anweisungen für die aktuelle
Politik hat Senghaas, wie seinerzeit Kant auch, nicht gegeben. Sein
Buch arbeitet die wirtschaftlichen Strukturen he-raus, die den
Frieden verursachen. Das ist Leistung mehr als genug. Zu den
wichtigen Feststellungen gehört, dass der Friede ein extrem
komplexes Projekt ist, das unter jeder Vereinfachung leidet. Es
kann analytisch nur arbeitsteilig erforscht werden; die konkrete
Umsetzung in Außenpolitik muss das gesamte politische System
integrieren. Der Friede ist als Projekt in der Tat unteilbar. Er
muss in allen Politikfeldern als handlungsanleitend umgesetzt, kann
aber von einem Autor immer nur in einem Teil erarbeitet werden. Das
hat Dieter Senghaas mit seinem Standardwerk exemplarisch
geleistet.
Dieter Senghaas
Zum irdischen Frieden.
Erkenntnisse und
Vermutungen.
Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp, Band
2384, Frankfurt/M. 2004; 302 S., 11,- Euro
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