Hartmann Wunderer
Hürden und Etappen in Richtung EU
Europa und die Türkei - kulturelle
Differenzen?
Sind die Türkei und die anderen Beitrittskandidaten
Bulgarien und Rumänien europatauglich? Diese Frage bewegt die
Gemüter. Die Debatten werden wohl noch heftiger werden.
Jürgen Gerhards, Professor für Makrosoziologie an der FU
Berlin, leistet mit seinen empirischen Erhebungen über
divergierende Wertorientierungen in der Europäischen Union und
bei den Beitrittskandidaten einen wichtigen Beitrag zur
Versachlichung der Diskussion.
Gerhards sucht nach Ursachen für diese unterschiedlichen
kulturellen Orientierungen. Im Mittelpunkt der Studie stehen die
Religionsvorstellungen, die Geschlechtsrollenbilder, die Ideen
über eine ideale Staatsform sowie die Haltung zur Demokratie,
zur sozialen Ungleichheit, zu den wohlfahrtsstaatlichen
Wünschen und schließlich die Vorstellungen hinsichtlich
der Organisationsform der Ökonomie.
Das wenig überraschende Ergebnis ist widersprüchlich:
Die Beitrittskandidaten, vor allem die Türkei, orientieren
sich noch stark an einer traditionellen Geschlechterordnung mit
einer Vorrangstellung des Mannes. Auf der anderen Seite kann die EU
durch die Aufnahme dieser Länder mit einer Forcierung der
Wirtschaftsdynamik rechnen, denn die drei Länder stehen der
Leistungs- und Wettbewerbsorientierung positiv gegenüber,
wünschen sich aber auch einen sozial regulierenden,
intervenierenden Wohlfahrtsstaat. Zivilgesellschaftliche und
demokratische Traditionen hingegen sind hier noch kaum
verankert.
Gerhards' Fazit: Je höher modernisiert ein Land ist und je
gebildeter seine Bürger sind, umso stärker werden die
Wertorientierungen entwickelt, auf denen die Europäische Union
basiert. Eine wichtige Rolle spielen dabei religiöse
Traditionen. Während protestantische Orientierungen dicht am
europäischen Wertenkonsens angesiedelt sind, stehen
Katholiken, Orthodoxe und Muslime diesem distanzierter
gegenüber. Insofern wird die von Samuel Huntington behauptete
kulturelle Scheidelinie zwischen protestantischer und katholischer
Religion einerseits, orthodoxer und muslimischer Religion
andererseits durch Gerhards Analysen nicht gestützt.
Die Tatsache, dass die orthodoxen Beitrittskandidaten und die
überwiegend muslimische Türkei nur in geringem Maß
die Werteordnung der EU unterstützen, führt Gerhards
nicht auf die Religionssysteme zurück, sondern auf den jeweils
erreichten Grad der Modernisierung.
Auch Deutschland war bis 1949 ein Land mit einer schwachen
demokratischen Erfahrung. Die Einführung der Demokratie ging
nicht auf eine endogene deutsche Entwicklung zurück, sondern
auf eine Implementierung von Marktwirtschaft und
repräsentativer Demokratie durch die Westmächte. Und auch
die Geschlechterordnung in der jungen deutschen Demokratie
unterschied sich kaum von der in der gegenwärtigen
türkischen Gesellschaft. Der Autor vertraut auf die
weitreichenden kulturellen Folgen einer ökonomischen
Modernisierung in den Beitrittsländern durch die Aufnahme in
die EU.
Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael
Hölscher
Kulturelle Unterschiede in der Europäischen
Union.
Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern,
Beitrittskandidaten und der Türkei.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; 316
S.; 27,90 Euro
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