Ludwig Watzal
Mythen, Legenden und Realität
Kontroverse Urteile zur Entstehung des Staates
Israel
Dieses Buch bringt Licht ins Dunkel der
Geschichte des von Legenden und Mythen umwobenen Nahostkonflikts.
"Die Geburt Israels" ist ein Klassiker. Das Buch ist im
deutschsprachigen Raum nur wenigen bekannt, da es kurz nach seinem
Erscheinen 1988 vom Markt genommen und nie wieder aufgelegt wurde.
Umso größer ist das Verdienst des Melzer Verlages, es
wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Insbesondere im vierzigsten Jahr der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel tut Aufklärung
Not.
Die Mythen des Staates bilden den Kern des
israelischen Staatsverständnisses", so der Autor. Sie zu
entzaubern und der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu
verhelfen, ist sein zentrales Anliegen. Simcha Flapan ist
Sekretär der sozialistischen Mapam-Partei und dort Leiter des
Referats für Arabische Angelegenheiten. Die Brisanz des Buches
liegt darin, dass erstmals ein Insider über die wirklichen
Motive der zionistischen Eliten berichtet; sie können nicht
als "antisemitisch" oder "antiisraelisch" denunziert
werden.
Flapans Ausführungen haben eine
ähnliche Brisanz wie die Tagebücher des ehemaligen
Außenministers und kurzzeitigen israelischen
Ministerpräsidenten Moshe Sharett, die ebenfalls
totgeschwiegen werden. Wäre Sharett 1955 nicht von David
Ben-Gurion gestürzt worden, die Geschichte Israels und
Palästinas wäre anders verlaufen. Der Autor
äußert sein Entsetzen über die unaufrichtige Politik
Ben-Gurions. Er sei zu keinem Zeitpunkt zu einem Kompromiss mit den
Palästinensern bereit gewesen. Dagegen wollte Sharett Frieden
mit den Arabern schließen.
Flapan gliedert sein Buch nach sieben
Gründungsmythen, die sich für ihn zwischen 1948 und 1952
etabliert haben und Israels Geschichte bis heute bestimmen. Dazu
gehören unter anderem:
- Das Einverständnis der zionistischen
Bewegung mit der UN-Teilungsresolution vom November 1947 stellte
einen einschneidenden Kompromiss dar, mit dem die zionistischen
Juden ihre Vorstellungen von einem sich über ganz
Palästina erstreckenden jüdischen Staat aufgaben und den
Anspruch der Palästinenser auf einen eigenen Staat
anerkannten. Israel war zu diesem Opfer bereit, weil es die
Voraussetzung dafür war, dass die Resolution in friedlicher
Zusammenarbeit mit den Palästinensern verwirklicht werden
konnte.
Dagegen behauptet Flapan, die Zustimmung zum
Teilungsplan durch die Zionisten sei nur ein taktisches
Zugeständnis im Rahmen einer unveränderten
Gesamtstrategie gewesen. Sie zielte zum einen darauf ab, die
Schaffung eines selbstständigen Staates für die
Palästinenser zu hintertreiben. Deshalb schloss Ben-Gurion ein
Geheimabkommen mit König Abdallah von Transjordanien, der mit
der Annektierung des für die Palästinenser vorgesehenen
Gebietes den ersten Schritt in Richtung auf sein erträumtes
großsyrisches Reich zu tun glaubte.
- Die arabischen Palästinenser lehnten
eine Teilung Palästinas rundweg ab und folgten dem Aufruf des
Mufti von Jerusalem, dem jüdischen Staat den totalen Krieg zu
erklären; dies zwang die Juden, sich auf eine
militärische Lösung einzulassen.
Flapan meint: Dass die arabischen
Palästinenser die Teilung Palästinas ablehnten, sei nur
die halbe Wahrheit. Der Mufti habe den Teilungsplan fanatisch
bekämpft, doch die Mehrheit der Palästinenser sei seinem
Aufruf zum Heiligen Krieg gegen Israel zunächst nicht gefolgt.
Im Gegenteil: Viele palästinensische Notablen und Gruppen
bemühten sich, einen Modus vivendi mit dem neuen Staat zu
finden. Erst der entschiedene Widerstand Ben-Gurions gegen die
Schaffung eines palästinensischen Staates trieb die
Palästinenser ganz auf die Seite des Mufti.
- Sowohl vor als auch nach der israelischen
Staatsgründung folgten die Palästinenser einem Aufruf der
arabischen Führung, das Land vorübergehend zu verlassen,
um mit den siegreichen Armeen zurückzukehren. Die
jüdische Führung bemühte sich vergeblich, sie zum
Bleiben zu bewegen.
Dagegen erklärt Flapan den Transfer aus
der zionis-tischen Ideologie heraus. Das Ziel der zionistischen
Bewegung sei es gewesen, einen "jüdischen Staat" zu schaffen.
Dazu bedurfte es der Vertreibung der Einwohner. Bereits 1938 sagte
Ben-Gurion bei einer Sitzung seiner Partei: "Ich bin für die
zwangsweise Aussiedlung. Ich sehe nichts Unmoralisches
darin."
- Alle arabischen Staaten hatten sich am 15.
Mai 1948 vereint, um in Palästina einzumarschieren, den neu
entstandenen jüdischen Staat zu vernichten und dessen
jüdische Bewohner zu vertreiben.
Dagegen Flapan: Die arabischen Staaten
wollten in erster Linie das Abkommen zwischen der provisorischen
jüdischen Regierung und König Abdallah verhindern. Sie
marschierten erst nach der Ausrufung des Staates Israel und nach
dem Ende des Britischen Mandats in Palästina ein, um ihren
arabischen Freunden zu Hilfe zu kommen. Es war nicht ihre Absicht,
Israel zu zerstören.
- Das kleine Israel stand dem Angriff der
arabischen Streitkräfte gegenüber wie weiland David dem
Riesen Goliath: ein zahlenmäßig weit unterlegenes,
schlecht bewaffnetes Volk, das Gefahr lief, von einer
übermächtigen Militärmaschinerie zerquetscht zu
werden.
Der Vergleich von David und Goliath
gehöre ins Reich der Legenden, so der Autor. Ebenso die
Behauptung, Israel habe einer starken und effizienten arabischen
Armee gegenüber gestanden. Auch die anderen arabischen Armeen,
die nicht am Krieg beteiligt waren, verfügten nicht über
ein entsprechendes Zerstörungspotenzial. Ben-Gurion
räumte ein, dass der eigentliche Selbstverteidigungskrieg nur
vier Wochen dauerte, bis zum Waffenstillstand vom 11.
Juni.
- Israel hat seine Hand immer zum
Friedensschluss ausgestreckt, aber kein arabischer Führer hat
je das Existenzrecht Israels anerkannt; somit gab es niemanden, mit
dem man Friedensgespräche hätte führen können.
Dies weist Flapan ebenfalls zurück: In den Jahren zwischen
1945 und 1952 wies Israel zahlreiche von arabischen Staaten und
neutralen Vermittlern unterbreitete Vorschläge zurück,
die zu einer Friedensregelung hätten führen
können.
Diese Geschichtsinterpretation bildet die
Essenz des israelischen Selbstverständnisses. Die Lektüre
des Buches lässt aber eine historisch glaubwürdigere
Sichtweise aufscheinen. Bereits 1988 schrieb Flapan: "Das
Diaspora-Judentum und die Freunde Israels in aller Welt müssen
begreifen, dass die Politik, die Israel heute betreibt, dazu
verdammt ist, den Kreislauf der Gewalt und des Terrors immer weiter
in Gang zu halten, jene Kette willkürlicher und sinnloser
Mordanschläge, die uns jedesmal aufs Neue schockieren, gleich,
ob sie mit Pistolen oder Bomben begangen werden. Wenn die Armee
eines Landes für die Ermordung eines seiner Bürger
grausame kollektive Rache nimmt, so ist dies um keinen Deut
rechtschaffener oder bewundernswerter als die individuelle Rache
eines verzweifelten Jünglings nach der Ermordung eines der
Seinen. Wenn das eine als ,nationale Verteidigung' und das andere
als ,Terrorismus' bezeichnet wird, so sind das Begriffe, die nur
Propaganda und eine verzerrte Sicht geprägt haben." Nach der
Lektüre dieses überaus aufschlussreichen Buches kann sich
jeder sein eigenes Urteil über die Geschichte des
Staatswerdungsprozesses Israels bilden. Allen Politikern, politisch
Interessierten und besonders der staatlich betriebenen politischen
Bildung sollte es als Standardwerk dienen, da es aufklärend
und nicht geschichtsklitternd wirkt.
Simcha Flapan
Die Geburt Israels. Mythos und
Wirklichkeit.
Aus dem Amerikanischen von Karl Heinz
Siber.
Melzer Verlag, Neu Isenburg 2005; 400 S.,
19,95 Euro
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