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Katajun Amirpur
Schiiten fordern mehr Rechte in der arabischen
Welt
Ein neuer Machtkampf zwischen Sunna und Schia
nach "Iraqi Freedom"
Die Ursprünge der Schia - einer der beiden
Hauptrichtungen des Islams - liegen im alten Mesopotamien. Deshalb
hat der Irak in der schiitischen Welt einen besonderen Stellenwert.
Der Zusammenbruch des Regimes hat nach Jahrzehnten brutalster
Unterdrückung die Hoffnung geweckt, die dort gelegenen
heiligen Stätten könnten ihre frühere
Ausstrahlungskraft wiedererlangen. Ajatollah Sistani spricht es in
deutlichen Worten aus: Die irakische Pilgerstadt Nadschaf solle
wieder zum "Herzen der Schia" werden.
Gerade für das politische Denken der
Schia sind daher in den nächsten Jahren aus Nadschaf wichtige
Impulse zu erwarten. Seit der Revolution im Iran dürfte die
Frage der politischen Entwick-lung des schiitischen Islams und der
Rolle, die die Geistlichkeit im Machtgefüge spielt,
international nicht mehr von so großem Interesse gewesen sein
wie heute. Wird die schiitische Mehrheit ein Staatsmodell nach dem
Vorbild Irans favorisieren oder werden sich die Schiiten auf ein
demokratisches Modell einlassen? Welche Rolle wird der Islam in der
künftigen Verfassung Iraks spielen?
Im Gegensatz zu der von Ahmad Chalabi, dem
Leiter des Iraqi National Congress, und den Befürwortern einer
Irak-Invasion wie dem Islamwissenschaftler Bernard Lewis und
Michael Rubin vom American Enterprise Institute verbreiteten
Meinung stehen laut Aussage des Geschichtsprofessors und
renommierten Nahostspezialisten Juan Cole von der Michigan
University mindestens ein Drittel aller Iraker dem von Khomeini
etablierten Staatsmodell aufgeschlossen gegenüber. Umfragen
zufolge befürworten 70 Prozent aller Iraker einen
religiösen Staat und eine noch weit größere Anzahl
wünscht sich, dass die Geistlichkeit eine zentrale Rolle im
Staate spielt. Jedenfalls dürfte feststehen, dass die
Beziehungen zwischen Iran und Irak in Zukunft weit enger sein
werden als in den vergangenen 30 Jahren. Als der iranische
Außenminister vor kurzem den Irak besuchte, wurden die
Begegnungen als freundschaftlich, ja als familiär beschrieben.
Kamal Kharrazi wurde auch von Großajatollah Ali Sistani
empfangen. Auf dieses Privileg wartete Paul Bremer
vergeblich.
Die aktuelle Situation ist eine Ironie der
Geschichte: Die USA eröffnen dem schiitischen Klerus, von dem
sie durch die Revolution im Iran am schwersten gedemütigt
wurden, einen politischen Handlungsspielraum, den dieser im Irak
noch nie hatte. Da die Schiiten 60 Prozent der Bevölkerung
stellen, werden sie den Ton angeben. Die gegenwärtige
weltpolitische Bedeutung des schiitischen Islams dürfte also
kaum zu überschätzen sein.
Das Aufkommen eines starken politischen
Bewusstseins innerhalb der irakischen Schia und die politische
Rolle, die die Schiiten in Zukunft im Irak spielen werden, sind
auch für die anderen Staaten der Region, in denen schiitische
Minderheiten und zum Teil auch Mehrheiten leben, bedeutsam.
Beispielhaft war folgende Reaktion der saudischen Schiiten. Diese
waren die ersten, die eine direkte Parallele zwischen den
Geschehnissen im Irak und ihrer eigenen Situation herstellten und
mehr Rechte für sich forderten. Ende April 2003 wandte sich
eine schiitische Delegation an den Regenten Abdallah, der damals
die Regierungsgeschäfte leitete, nachdem sein Bruder,
König Fahd, einen Hirnschlag erlitten hatte. In einer Petition
forderte sie, dass die Diskriminierung der Schiiten aufhöre.
Dass die Delegation öffentlich vom Kronprinzen empfangen
wurde, war ein Novum im Verhältnis zwischen der saudischen
Minderheit und dem wahabitischen Herrscherhaus. Diese Reaktion des
Prinzen dürfte auf den stärker werdenden Einfluss der
Schiiten Iraks zurückzuführen sein. Ein weiteres Beispiel
für die Auswirkung der Ereignisse im Irak auf die schiitische
Welt insgesamt boten die Folgen des Vorgehens der US-Armee gegen
Muqtada al-Sadr im Sommer 2004. Als in Kerbela geschossen wurde,
demonstrierten Schiiten in Bahrain, im Libanon und in Pakistan
gegen die US-Politik. Angesichts des Ausmaßes der
Verbundenheit unter den Schiiten in aller Welt warf Juan Cole die
Frage auf, ob man inzwischen von einer echten schiitischen
Internationale sprechen könne.
Der schiitisch-sunnitische Wettstreit um
Vorherrschaft dürfte tatsächlich nicht nur Auswirkungen
auf Frieden und Stabilität im neuen Irak haben. Dieser
Konflikt wird auch auf andere Regionen ausstrahlen und die
bisherige Machtverteilung zwischen beiden Richtungen in der
islamischen Welt hinterfragen. Zumal die Schiiten - außer im
Iran - in ihren Heimatländern ausnahmslos politisch
unterrepräsentiert sind, obschon sie beispielsweise in Bahrain
und im Libanon gar die Mehrheit stellen. Zum Teil sind sie - wie in
Saudi Arabien - schwerer Verfolgung ausgesetzt. Manche Autoren
meinen wegen der zu erwarteten Umverteilung der Macht, dass das 21.
Jahrhundert als das der Schia in die Geschichte eingehen werde: Der
Anthropologe und Leiter des Middle East Studies Institute der Brown
University, William O. Beeman, vertritt die These, dass ein
"schiitischer transnationaler Block" aus den Schiiten Irans, Iraks,
Libanons, Bahrains, Kuwaits, Saudi-Arabiens, Afghanistans,
Pakistans und Indiens im Entstehen begriffen sei. Und Juan Cole
spricht in diesem Zusammenhang von einer schiitischen Achse, die in
Zukunft die Politik des Nahen Ostens dominieren werde.
Andererseits ist der neue Irak in mancher
Hinsicht auch eine Gefahr für den Iran. Denn die
ranghöchste schiitische Autorität des Iraks hinterfragt
die Legitimität des iranischen Regierungssystems. Das ist
gefährlich für das iranische Regime. Seit der Revolution
von 1978/79 ist die "Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten" die
Staatsdoktrin Irans. Sie besagt, dass der zwölfte Imam, der im
neunten Jahrhundert entschwand und dessen Rückkehr die
Schiiten erwarten, in seiner herrschaftlichen Funktion durch einen
Rechtsgelehrten vertreten wird. Diese Regierungsweise wird von den
iranischen Staatsklerikern als gottgewollt behauptet. Der in
Nadschaf ansässige Ajatollah Sistani vertritt allerdings die
gegenteilige Meinung. Ali Sistani ist bereits der populärste
Geistliche im Irak, in Bahrain und im Libanon und er weitet seine
Aktivitäten auch im Iran beständig aus. Er argumentiert,
dass Gott dem gesamten Volk die Souveränität
übertragen habe und nicht einem einzelnen Rechtsgelehrten. Vor
allem Sis-tanis wegen ist den konservativen Klerikern Irans wenig
daran gelegen, dass die Theologenstadt Nadschaf wieder zum
geistigen Mittelpunkt der schiitischen Welt aufsteigt. Über
zweieinhalb Jahrzehnte haben sie der eigenen Bevölkerung das
iranische System als gottgegeben präsentiert. Jetzt leugnet
eine der wichtigsten Autoritäten des schiitischen Islams,
Ajatollah Sistani, dies: Denn diese Staatsform sei nicht nur nicht
schiitisch, meint er, vielmehr sei eine andere ihr noch eindeutig
vorzuziehen - die Demokratie.
Tatsächlich ist das iranische System
eine revolutionäre Neuerung innerhalb des schiitischen
Staatsdenkens. Der Mainstream ging über Jahrhunderte davon
aus, dass nur die Herrschaft des zwölften Imams
rechtmäßig sei. Deshalb sei es unwichtig, wer herrsche.
Diese Auffassung mündete historisch in eine Trennung von Staat
und Religion und aus dieser quietistischen Haltung folgte selbst
eine grundsätzliche Zustimmung der schiitischen Gelehrten zur
Monarchie. Mit dem Argument des Quietismus kann aber eben auch eine
parlamentarische Regierungsform begründet werden.
Für den Obersten Rechtsgelehrten Irans,
Ali Chamenei, besteht daher Handlungsbedarf. Er sieht sich mit
Gegnern der "Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten" im Lande
konfrontiert. Hinzu kommt, dass Nadschaf wieder zu seiner
historischen Bedeutung zurück-findet. Dieses geistige Zentrum
könnte nicht nur in Zukunft weitgehend seiner (Chameneis)
Kontrolle entzogen sein. Es ist zudem das prestigeträchtigste
schiitische Lehrinstitut weltweit, auch wenn es unter Saddam
Hussein nur wenig Wirkung entfalten konnte. Nadschaf könnte
sich jetzt zu einem Sammelbecken der iranischen Opposition
entwickeln. Dafür gibt es ein historisches Vorbild: Gerade
weil er sich im Exil befand und dem Zugriff der iranischen
Behörden entzog, konnte Ajatollah Chomeini in den 60er- und
70er-Jahren wirksam gegen Schah Mohammad Reza Pahlavi agieren.
Jetzt emigrieren iranische Geistliche, die aufgrund ihrer
abweichenden politischen Haltung in Iran starken Repressionen
ausgesetzt sind, wieder in den Irak. Unter ihnen befand sich
für eine Zeit lang auch der Enkel des Revolutionsführers,
Hassan Cho-meini. Von geschichtsträchtigem Orte aus wetterte
er gegen das iranische System, das nichts mit dem gemein habe, das
seinem Großvater vorgeschwebt habe. Für eine iranische
geistliche Opposition zur iranischen Theokratie jedenfalls kann es
keinen besseren Zufluchtsort als Nadschaf geben.
Chamenei muss also auf die Ereignisse in
Nadschaf Einfluss nehmen, und dass er genau dies tut, unterstellen
ihm die Wortführer der amerikanischen Neokonservativen und
auch irakische Politiker. Ein anderes politisches System gewinnt
natürlich gerade vor dem Hintergrund der sich ständig
verschlechternden Verhältnisse in Iran mehr und mehr an
Attraktivität für die Bevölkerung: Dem iranischen
System ist die Gesellschaft abhanden gekommen; die Mehrheit der
Bevölkerung ist damit unzufrieden und wendet sich in Scharen
von dem Staatsmodell Khomeinis ab. Falls der Irak tatsächlich
jedoch - was allerdings gerade vor dem Hintergrund jüngster
Äußerungen irakischer Politiker nicht zwingend ist - eine
freiheitliche Ordnung entwickelt, wäre dieses Beispiel dem
iranischen Regime kaum willkommen.
Katajun Amirpur ist Islamwissenschaftlerin in Köln.
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