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Sonja Hegasy
Der Ruf nach Reformen wird in vielen islamischen
Ländern lauter
Dritter Arabischer UNDP-Bericht über die
Menschliche Entwicklung
Mit einem halben Jahr Verspätung wurde
im April der dritte Arabische Bericht über die Menschliche
Entwicklung 2004 in Amman vorgestellt. Die ursprünglich
für vergangenen Oktober geplante Veröffentlichung wurde
aufgrund äußerst kritischer Passagen zur US-Nahostpolitik
verzögert. Die "New York Times" berichtete, die Bush-Regierung
hätte damit gedroht, ihren Anteil am Budget des United Nations
Development Program (UNDP) zu kürzen, sollten diese Passagen
nicht gestrichen werden. Dabei waren die ersten beiden Berichte,
ebenfalls vom UNDP gefördert, noch zum Mantra der
Bush-Regierung erhoben worden. Mehrmals zitierte George W. Bush
sie, auch in den amerikanischen Demokratisierungsinitiativen waren
sie wörtlich zu finden.
Mit dem Zensurversuch scheint die
US-Regierung jedoch gescheitert zu sein. Passagen wie jene, dass es
den Irakern heute schlechter gehe als unter Saddam Hussein, sind
noch immer zu lesen: "Infolge der Invasion seines Landes konnte das
irakische Volk zwar den Klauen eines despotischen Regimes
entrinnen, das seine grundlegenden Rechte und Freiheiten verletzte,
es fiel jedoch unter eine Fremdbesatzung, unter der die Menschen
noch stärker zu leiden haben."
Die drei arabischen Berichte basieren auf den
Anfang der 90er-Jahre vom Entwicklungsprogramm der Vereinten
Nationen eingeführten Reporten, die menschliche Entwicklung
nicht nur unter ökonomischen Kriterien sahen, sondern auch
Bürgerrechte berücksichtigten, um
Entwicklungsfortschritte zu messen. Unter Rückgriff auf die
Arbeiten des Nobelpreisträgers Amartya Sen definiert UNDP
Entwicklung als zunehmende Handlungsfreiheit des Einzelnen.
Für die seit 2002 veröffentlichten regionalen Berichte
zeichnen unabhängige arabische Wissenschaftler unter Leitung
von Nader Fergany vom Kairoer Almishkat Zentrum verantwortlich.
Drei weitere hochrangige Sozialwissenschaftler aus Ägypten,
Sudan und Libanon bilden den Kern des Teams um Fergany.
Hintergrundpapiere werden von Experten aus der ganzen arabischen
Welt geliefert. Gerade weil die Autoren aus der Region kommen,
können sie aufgrund ihrer Kenntnis der internen Strukturen
fundierte Kritik üben und fallen nicht unter
Paternalismusverdacht. Adressaten sind die eigenen
Regierungseliten.
Der erste AHDR von 2002 listete allgemeine
Entwicklungshindernisse der 22 arabischen Länder auf.
Schlechte Bildung, geringe politische Freiheiten und
eingeschränkte Bürgerrechte von Frauen waren die drei
wesentlichen, die konstatiert wurden. Die folgenden Berichte
sollten sich daher mit jeweils einem dieser Defizite
ausführlicher beschäftigen. So thematisiert der zweite
den Aufbau einer Wissensgesellschaft in der arabischen Welt. Der
dritte heißt im Untertitel: Auf dem Weg zur Freiheit in der
arabischen Welt. Die Autoren fordern hierin die Respektierung der
grundlegenden Bürgerfreiheiten: Meinungs-, Presse- und
Versammlungsfreiheit, die Beendigung jeglicher Ausgrenzung und
Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten, ferner die
Sicherstellung der Unabhängigkeit der Judikativen sowie die
Abschaffung von Militärtribunalen und anderen
"außerordentlichen" Gerichten, schließlich die
Abschaffung des Ausnahmezustands, der zu einem permanenten
Bestandteil der Regierungsführung in der Region geworden
ist.
Angereichert wird er mit einer Reihe von
historischen Zitaten über Freiheit und Demokratie, um zu
zeigen, dass solche Themen auch im eigenen Erbe verankert sind. So
wird unter dem Titel Freiheit und gute Regierungsführung Omar
bin al-Khattab, der zweite ?rechtgeleitete“ Kalif (geb. 592),
zitiert: "Seit wann habt ihr Menschen in die Sklaverei gezwungen,
wo doch ihre Mütter sie frei geboren haben?" Oder der syrische
Reformdenker al-Kawakibi (1852 – 1902): "Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass eine Regierung gleich welcher Art nicht
von dem Vorwurf befreit werden kann, als unterdrückerisch zu
gelten, so lange sie ihrer vollen Verantwortung aus dem Weg geht
und nicht bedingungslos für ihr Tun verantwortlich gemacht
wird."
In der Region habe die Machtkonzentration in
der Hand der Exekutive – sei es Monarchie,
Militärdiktatur oder ein bürgerlicher Präsident, der
ohne einen Gegenkandidaten gewählt wurde – im Zentrum
des politischen Lebens eine Art "schwarzes Loch" entstehen lassen.
"Der moderne arabische Staat ähnelt in politischer Hinsicht
diesem astronomischen Modell, in dem der exekutive Apparat einem
'schwarzen Loch' gleicht, das seine gesellschaftliche Umgebung in
einen starren Zustand versetzt, in dem sich nichts mehr bewegt und
aus dem nichts mehr herauskommt", schreiben die Autoren. Die
exekutive Gewalt im Zentrum eines solchen Staates hindere die
Justiz an der Sicherung der Bürgerrechte. "Wo immer es
Konflikte gibt zwischen einem politischen Regime, das frei von
gesetzlichen Kontrollen ist, und der Justiz, deren
Unabhängigkeit in Verfassung und Gesetz verankert ist, fegt
das arabische Regime ohne zu zögern die Unabhängigkeit
der Justiz beiseite", so der neueste Bericht.
Er zeigt aber auch, dass der Druck zu
politischem Wandel zugenommen hat. Die Autoren sehen, dass in
vielen arabischen Ländern der Ruf nach Reformen lauter
geworden ist. Zu substantiellen Fortschritten zählen sie die
Parlamentswahlen mit weiblichen Kandidaten und Wählern in
Oman, mehrparteiliche Präsidentschaftswahlen in Algerien, die
Bildung von staatlichen Menschenrechtskommissionen in Ägypten
und Katar und die Verabschiedung eines neuen Familiengesetzes in
Marokko. Sie warnen aber davor, dass die Regierungen, sollten sie
jetzt nicht wesentlich schneller Reformen durchführen,
"chaotischen" sozialen Unruhen gegenüberstehen
könnten.
Auch das regionale und internationale Umfeld
habe sich sehr negativ auf die Freiheitsrechte des Einzelnen
ausgewirkt: "Die israelische Besetzung Palästinas hemmt
weiterhin die menschliche Entwicklung und Freiheit." Auch wird
moniert, dass die Besatzungsmächte im Irak sich bisher als
"unfähig erwiesen, ihre Verpflichtungen zum Schutz der
Bevölkerung gemäß den Genfer Konventionen
einzuhalten", so dass der Irak in einem ungekannten Maß an
innerer Sicherheit einbüße.
Die Verfasser des AHDR 2004 bekräftigen
ihre frühere Verurteilung von Gewalt gegen unbewaffnete
Zivilisten, gleich welchen Ursprungs: "Extremistengruppen, die
Ermordungen und Bombenattentate begehen und für die Anwendung
von Gewalt eintreten, verletzen das Recht auf Leben", schreiben die
Verfasser, ebenso wie "bewaffnete Konfrontationen zwischen
Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen oft mehr Opfer in
der unbeteiligten Zivilbevölkerung als bei den Kämpfenden
selbst fordern".
Die Vereinnahmung durch die amerikanische
Politik nach dem ersten Bericht hat den Reformempfehlungen der
Autoren mehr geschadet als genutzt. Zwar gab es immer auch
rationale Stimmen, die erklärten, dass die Forderungen der USA
nicht deshalb zu verteufeln seien, nur weil sie aus den USA
kämen. Aber als Kronzeuge für die Politik von Bush
herzuhalten, ist in der arabischen Welt nicht einfach. Nach den
Zensurbestrebungen der USA gewinnen die Autoren nun zwar ihre
Autonomie wieder, aber das Demokratisierungsprojekt der USA
verliert weiter an Glaubwürdigkeit. Genau so schaffen die USA
es, ihre eigene Rede von der Demokratisierung des Nahen Ostens zu
konterkarieren und jegliche Initiative aus der Region zu
diskreditieren.
Entgegen anders lautenden Presseberichten
besagt der dritte AHDR dasselbe, wie die beiden anderen zuvor.
Schon hier wurde die israelische Besatzungspolitik kritisiert:
"Israels illegale Besetzung arabischen Bodens ist eines der alles
durchdringenden Hindernisse für Sicherheit und Entwicklung in
der Region – geografisch (da die ganze Region davon
beeinflusst wird), temporär (seit mehreren Jahrzehnten) und
entwicklungspolitisch (da alle Aspekte menschlicher Entwicklung und
menschlicher Sicherheit beeinträchtigt werden, auf direkte Art
für Millionen, für andere indirekt)", schrieben die
Autoren damals. Der "anglo-amerikanischen Invasion" im Irak –
so die Autoren – komme eine kaum zu unterschätzende
entwicklungshemmende Rolle zu. Klare Worte, die damals
merkwürdigerweise unter den Tisch fielen, galt es doch
Kronzeugen für das gesellschaftspolitische Desaster im Nahen
Osten zu finden.
Heute schreibt das Autorenteam, dass sich der
Reformdruck von innen und außen nicht im Wege stehen
müssen, wenn bestimmte Standards von beiden Seiten eingehalten
werden: Respektierung internationaler Menschenrechte, Beendigung
des ?doppelten Maßstabs“, Anerkennung des Rechts der
arabischen Seite, ihre Vorstellungen von Freiheit und guter
Regierungsführung zu formulieren; die Verpflichtung für
beide Seiten, Ergebnisse demokratischer Prozesse anzuerkennen;
Anerkennung des Rechts aller gesellschaftlicher Gruppen, sich
friedlich zu organisieren; Kooperation zwischen den arabischen
Reformkräften und internationalen Akteuren ohne
Bevormundung.
Die Verfasser betonen, dass ihre Auffassung
von Freiheit "nicht nur gesellschaftliche und politische Freiheiten
umfassen (mit anderen Worten die Befreiung aus Unterdrückung),
sondern auch die Befreiung des Einzelnen von allen Faktoren, die
mit menschlicher Würde unvereinbar sind, zum Beispiel Hunger,
Krankheit, Unwissenheit, Armut und Angst". Die Verfasser des nun
vorliegenden AHDR skizzieren drei Alternativen für die
Zukunft: das Szenario einer bevorstehenden Katastrophe, ein ideales
und das einer Reform von innen, die von außen gut
geheißen wird.
Sonja Hegasy ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum
Moderner Orient in Berlin und Mitglied der
Institutsleitung.
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