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Konrad Watrin
Die "Gucci-Revolution" im Libanon
Nach dem Abzug der Syrer zeichnet sich eine neue
politische Dynamik ab
Euphorie schwang auf wie so oft im Orient, doch nicht so
trügerisch. Zu Jahresbeginn noch drohten Bombenanschläge
nach bewährtem Muster das Land nach 15-jährigem
Wiederaufbau abermals zu destabilisieren. Erinnerungen an den
gleichfalls 15-jährigen Bürgerkrieg wurden wach. Ein
Anschlag riss am 14. Februar den ehemaligen Premier Rafik Hariri,
einen ursprünglich prosyrischen, dann offenbar mit Damaskus
zerstrittenen Geschäftsmann sowie 19 seiner Begleiter hinweg.
Die Terrorkampagne indes - hinter der alle Welt Damaskus vermutet,
was dort bestritten wird - erzielte wohl erstmals in Nahost nicht
den gewohnt-gewünschten Effekt, dass alle Finger gen Israel
zeigen. Vielmehr stand die bisherige Schutzmacht Syrien am Pranger.
Offen wie nie zuvor traten hunderttausende Libanesen auf die
Straße. Kurz nach der "orangenen Revolution" in der Ukraine
schafften sie, was kein Geringerer als George W. Bush die
"Zedern-Revolution" nannte. Andere sprachen dagegen von der
"Gucci-Revolution".
"Morgenröte im Morgenland" titelte die deutsche
Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine" im März nach den
Protesten, die noch vor den Parlamentswahlen vom Mai/Juni zum
syrischen Truppenabzug führten - und keine drei Monate danach
zur Bildung einer flugs als antisyrisch titulierten Regierung,
deren Premier Fuad Saniora indes als erstes Damaskus seine
Aufwartung machte. Nach dem teuer erzwungenen Regimewechsel zwei
Jahre zuvor im Irak und etlichen Veränderungen in der Region
erblickte die US-Regierung darin einen weiteren Mosaikstein der
Neuordnung im Nahen Osten. Der libanesische Schriftsteller Abbas
Beydoun, Feuilletonchef von "as Safir" und einer der
einflussreichsten Intellektuellen der arabischen Welt, meinte zur
neuen Lage im Land nichts weniger als dies: "Die Mauer ist
eingestürzt, und der Weg ist frei geworden, um Totalitarismen
zu besiegen und in die Gegenwart der heutigen Welt
einzutreten."
Die Libanesen erkennen damit an, was in der oft
gedemütigten, in permanentem Selbstbetrug (statt Selbstkritik)
verfangenen arabischen Welt so beharrlich geleugnet wurde: Dass
nicht allein die verhassten "US-Imperialisten" und Israelis
Besatzer sein können, sondern auch ein arabisches Land, Syrien
eben, dessen Regime der Aggressor Saddam Hussein zwar als
politischer Rivale galt, dem Volke indes nach wie vor als
antiamerikanischer und antizionistischer Volksheld. Zwischen der
bisherigen, im Zeichen von Washingtons Anti-Terrorkampf nur mehr
unter den Elenden, Verzweifelten und Verblendeten von Gaza bis
Pakistan offen gezeigten Haltung und der mutigen Mentalität
der Libanesen tut sich eine Wasserscheide auf, so hoch wie weiland
zwischen den Israeliten und ihren pharaonischen Verfolgern im Roten
Meer.
Oppositionsfront gegen die Syrer
Der Abzug war Grundlage für die Einigung dreier der vier
großen konfessionellen Gruppierungen im Land. Die
Hunderttausende der Oppositionsfront gegen die Syrer, trotz
Reformansätzen unter dem jungen Baschar al-Assad einer der
letzten intransigenten Feinde Israels, verkündeten in den
Worten Beydouns "den Austritt des Libanons aus einer
totalitären Politik, die das zivile Leben erdrückt, den
Staat zur Scheinstruktur macht und die Gesellschaft durch
ständiges Drohen mit dem Bürgerkrieg und
äußeren Feinden in Schach hält". Inwieweit hinter
der großen Klammer der antisyrischen Bewegung schon bald die
alten Clans wieder auftauchen und die libanesische Gesellschaft
erneut zu zerstückeln drohen, ist nun die Frage.
Bei den Parlamentswahlen, den ersten seit 30 Jahren ohne
syrische Kontrolle, gewann die von Hariris Sohn Saad geführte
Opposition gegen Syrien 72 der insgesamt 128 Sitze. Im Süden
und im mehrheitlich schiitischen Bekaa-Tal eroberten die Schiiten
35 Sitze. Die Drusen gewannen in ihrem Stammland im Schuf-Gebirge,
während die Maroniten überwiegend im christlichen Norden
21 Sitze bekamen. Nur die Schiiten setzten bisher voll und ganz auf
die Syrer. Bei den Maroniten, die während deren Herrschaft
eher im Untergrund operierten, ist der Hass gegen sie am
stärksten. Sunniten und Drusen hatten zwar eher mit den
Apparaten der Besatzungsmacht kooperiert, aber es bleibt nun bei
allen dreien (außer den Schiiten) die Hoffnung auf eine
gemeinsame Zukunft in Frieden und Demokratie. Das Zusammentreffen
dreier starker Gruppierungen indes bedeutet Stärke und
Schwäche zugleich.
Verfeindete ethnisch-religiöse Gruppen
Zunächst schienen die ethnisch-religiösen Gruppen so
verfeindet, dass nach dem 15-jährigen Gemetzel des
Bürgerkriegs (1975 bis 1990) zwischen ihnen und ihren Milizen
jedes künftige Zusammenleben undenkbar war. Seit 1975 - nach
dem 1973 für die Araber erneut verlorenen Jom-Kippur-Krieg -
kämpfte eine aus muslimischen, palästinensischen und
"linken" Kräften gebildete nationale Bewegung gegen die
Libanesische Front aus christlichen Gruppen, in der die
rechtsextremen Phalangisten dominierten. Gegen das Morden, dem auch
der Drusenführer Kemal Dschumblat zum Opfer fiel,
intervenierte Syrien mehrfach. Ende der 70er-Jahre kamen Gefechte
zwischen Sunniten und Schiiten, libanesischen und
palästinensischen Gruppen, prosyrischen Amal- sowie
proiranischen Hisbollah-Milizen hinzu. Eine UN-Mission
scheiterte.
Israel unter Verteidigungsminister Ariel Scharon machte 1982
kurzen Prozess, besetzte Beirut vorübergehend, um die PLO zu
vertreiben und bis zum Jahr 2000 im Südlibanon mit großen
Verlusten Truppen zu stationieren. Der Libanon schien vollkommen
zerfallen. Bis auch der Westen nach dem Ende des Bürgerkrieges
1990 und dem zweiten Golfkrieg 1990/91 die auch von der arabischen
Welt gewollte syrische Präsenz guthieß, denn Hafis
al-Assad war im Golfkrieg ein guter Verbündeter gegen den
panarabischen Baath-Rivalen Saddam Hussein gewesen.
Nun haben sie die Positionen wieder nach dem alten Proporz- und
Konkordanzsystem verteilt: der Präsident ist erneut ein
Maronit, der Premier ein Sunnit und der Parlamentspräsident
ein Schiit. Entscheidend neben dem Konfessionalismus, der eine
gewisse Teilung der Macht und Minderheitenschutz beinhaltet und die
Diktatur einer ethno-religiösen politischen Gruppe oder
Richtung ausschließt, sind freilich persönliche Macht
sowie Beziehungen und Ansehen der jeweiligen Führer im In- und
Ausland. Auch garantiert das Wahlsystem Muslimen und den
christlichen Konfessionen die selbe Zahl an Sitzen. Offiziell sind
59 Prozent der Wahlberechtigten - etwa 675.000 Männer und
Frauen - Muslime und 41 Prozent Christen. In Wahrheit dürfte
die Zahl der Christen infolge des rapiden
Bevölkerungswachstums zumal der Schiiten geringer sein.
Unangefochtene Führungsfigur der Sunniten ist Hariris
zweiter, politisch unerfahrener Sohn Saad - pikanterweise mit einer
Syrerin verheiratet. Er studierte in Washington an der
Georgetown-Universität Wirtschaftswissenschaft. Seit zehn
Jahren führt er das aus Bau- und Medienunternehmen seines
Milliardärvaters bestehende Firmenimperium sowie seine eigene
kleine Immobilienfirma im Wert von 140 Millionen Dollar. Der
35-Jährige hat lediglich angekündigt, die politischen und
wirtschaftlichen Reformen des Vaters fortzuführen und die
Wahlen im Zeichen dieses "Vermächtnisses" gewonnen. Rafik
Hariri war im Herbst zurückgetreten, da Präsident Emile
Lahoud und das damals ebenfalls mehrheitlich prosyrische Parlament
seine Politik blockierten.
Ein Mann von gestern ist hingegen der ehemalige Oberbefehlshaber
der libanesischen Armee, Michel Aoun. Auf den aus dem Pariser Exil
zurückgekehrten General, den ehemaligen starken Mann der
Maroniten, der für die Endphase des Bürgerkriegs schwere
Verantwortung trug, setzten vor allem die amerikanischen
Neokonservativen. Anders als 1990/91 - damals wurde Syrien gegen
Saddam Hussein gebraucht - könnte dieser Haudegen und
Syrienhasser im Kampf gegen den "Schurkenstaat" unter Sohn Assad
nützlich sein, wie manche in Washington hoffen.
Ob von vorgestern oder von morgen - die wegen ihrer Terrorakte
gefürchtete schiitische Massenorganisation Hisbollah unter
Scheich Hassan Nasrallah, die sich in ihrer
antiamerikanisch-antiisraelischen Kampfeshetze treu blieb und schon
deshalb gegen die antisyrischen Massenproteste der Libanesen
protestierte, ist durch den Abzug zunächst geschwächt.
Nach Einschätzung von Abbas Beydoun scharen sich die Schiiten
- die Mehrheit im Lande - aus Angst vor der drohenden
Marginalisierung um sie. Mit ihrem sozial-karitativen Netzwerk aus
Schulen, medizinischen Einrichtungen und einer eigenen Armee stellt
sie weiterhin einen Staat im Staate dar. Zwar hat die Allianz aus
Hisbollah und der gleichfalls schiitischen Amal-Bewegung von Nabih
Berri bei den Wahlen sämtliche 23 Sitze im an Israel
angrenzenden Süden erhalten, ihre weitere Rolle indes
dürfte nicht zuletzt von der Entwicklung im Iran
abhängen.
Insofern ist der Wandel des ganze 10.452 Quadratkilometer
großen freihändlerischen Landes mit gerade einmal 3,5
Millionen Einwohnern, darunter knapp eine Viertelmillion Drusen,
ein wichtiges Scharnier über das Mittelmeer hinaus. Beydoun:
"Der Erfolg der libanesischen Demokratiebewegung wird mit
Sicherheit das arabische Umfeld anstecken und die
verängstigten arabischen Völker ebenfalls mobilisieren."
Wie sehr die neue Dynamik in Nahost und möglicherweise auch
das Attentat auf seinen Freund Hariri die Sicht mancher
veränderte, zeigt allein dies: Einer amerikanischen Zeitung
zufolge sagte der einstige Playboy Walid Dschumblat (58),
Führer der Drusen und eher zu alt für die
"Gucci-Revolution", mit "Iraqi Freedom" habe ein Paradigmenwechsel
begonnen: "Als ich die Iraker vor einigen Wochen wählen sah,
war das der Beginn einer neuen arabischen Welt."
Dr. Konrad Watrin ist Journalist, Autor und Lehrer. Er lebt in
Aumühle bei Reinbek.
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