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Richard Chaim Schneider
Der jüdische Staat sieht sich weiterhin im
Abwehrkampf - im Innern und nach außen
Das Kernproblem Palästina - die
sicherheitspolitische Sicht
Als diese Zeilen geschrieben wurden, waren es
noch wenige Wochen bis zum geplanten Abzug aus Gaza. Es deutete
sich an, was viele befürchteten: Gewalttätigkeiten
zwischen Juden. Kinder der Siedler legten sich zum Protest auf die
Autobahn, um den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Ihre Eltern
streuten Nägel auf Verkehrsstraßen, ebenso Öl, um
Chaos zu verursachen. Soldaten, Polizei und radikale Siedler
lieferten sich Prügeleien. Siedler haben auch versucht, einem
Palästinenser, der wehrlos am Boden lag, den Schädel
einzuschlagen, vor laufenden Kameras. Das israelische Fernsehen
allerdings – und das ist ein Unterschied zur anderen Seite,
etwa zu Al Dschasira – brachte diese Bilder in den
Hauptnachrichten, und die Wut der großen Mehrheit der Israelis
auf die Siedler wuchs zunehmend.
War die Zustimmung für den Abriss der
Siedlungen in Gaza in den letzten Wochen merklich gesunken, da die
israelische Bevölkerung daran zweifelte, dass sich daraus
etwas Positives für das Land entwickeln könnte, so drehte
sich zuletzt die Stimmung. Man mochte diese Verrückten doch
nicht. Die Bevölkerung begann allmählich zu begreifen,
dass der Kern dieser fanatischen Siedler das Land in Geiselhaft
nahm. Würde es zum Abzug kommen? Wenn ja, was wird dies
für den Friedensprozess bedeuten? Bereits in dieser Frage
steckt ein grundlegender Irrtum vieler Europäer. Es gibt
keinen solchen Prozess, schon lange nicht mehr. Es gibt im besten
Falle nur ein Krisenmanagement, das Bemühen, den Status
quo irgendwie zu erhalten. Mehr nicht.
Unnötig an dieser Stelle darauf
einzugehen, dass die Besatzung von Westjordanland und Gaza
aufhören muss. Ebenso unnötig darauf hinzuweisen, dass
beide Seiten – Israelis und Palästinenser – es in
der Vergangenheit noch immer geschafft hatten, Chancen für
eine echte Annäherung zu verpassen oder, falls diese sich doch
entwickelten, sie sogleich wieder zu zerstören. Seit der
Zweiten Intifada (September 2000 bis Februar 2005) sitzt das
Misstrauen auf israelischer Seite gegenüber den
Palästinensern tiefer denn je. Wie könnte es also aus
israelischer Sicht weitergehen?
In Europa wirft man Ariel Scharon gerne vor,
den Abzug aus Gaza aus opportunistischen Gründen
voranzutreiben; er wolle damit lediglich ein demografisches Problem
loswerden: Rund 1,5 Millionen Palästinenser, die, wenn sie
unter Besatzung blieben, zusammen mit denen in der Westbank
dafür sorgen würden, dass in nur wenigen Jahren eine
jüdische Minderheit über eine arabische Mehrheit zwischen
Jordan und Mittelmeer herrschen würde. Scharon würde,
heißt es weiter, Gaza nur aufgeben, damit die Welt glaube, er
würde Konzessionen für den Frieden machen. In
Wirklichkeit sei dies nur ein Trick, um die Siedlungen in der
Westbank zu behalten. All das mag stimmen oder nicht. Selbst wenn
dies die wahren Beweggründe von Scharon gewesen sein
mögen: Mit seiner Entscheidung hat er einen doppelten
Tabubruch vollzogen, den man gar nicht hoch genug einschätzen
kann. Ausgerechnet der ?Vater der Siedlungen“ ist willens,
diese aufzugeben und gibt damit indirekt zu, dass sie ein
Hindernis für einen Staat sind, der seinen
jüdischen und demokratischen Charakter bewahren möchte.
Damit aber hat Scharon eine Bresche in die politische Rechte eine
Bresche geschlagen, die einen Status quo ante nicht mehr zulassen
und somit, auf lange Sicht, vielleicht eines Tages ein Umdenken in
Sachen Westbank ermöglichen wird.
Nur – wann könnte dieser Tag
kommen? Das, so sieht es Israel, liegt allein an den
Palästinensern. Selbst wenn man vom sicheren europäischen
Kontinent aus Israel leicht verurteilen mag, die israelische Rechte
hat zumindest in einem Punkt recht behalten: Dem
Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat nicht zu
trauen.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass er den
Terror zugelassen und unterstützt hatte, und damit kein
ehrlicher Verhandlungspartner war. Von der Korruption in seinem
System ganz zu schweigen, von demokratischen Reformen, wie sie von
Seiten vieler Palästinenser gefordert wurden und werden, nicht
die Spur.
Israel musste zusehen, wie sich in den
Straßen des eigenen Landes Terroristen in die Luft jagten und
Zivilisten töteten, und sich eben nicht auf den Kampf gegen
Soldaten und Siedler ?beschränkten“, was zumindest als
?normaler Krieg“ verstanden worden wäre. Durch den
taktischen Fehler, den Terror auch nach Israel hineinzutragen,
erreichten die palästinensischen Fundamentalisten nur, dass
selbst friedfertige, linke Israelis sich mit den Siedlern
identifizierten. Nicht politisch, sondern im Kampf ums
Überleben. Da war schlagartig kein Unterschied mehr, wo man
lebte. Für sie ging und geht es immer nur um eines: gegen
Juden. Damit aber haben sich die Palästinenser keinen Gefallen
getan. Sie haben das Holocaust-Trauma der Nation
unterschätzt.
Auch die ?Mauer“, die die Regierung
Scharon entlang der Grünen Linie und leider auch tief in die
Westbank hineingezogen hat, ist eine Folge, nicht Ursache des
palästinensischen Terrors. Die ?Mauer“, die zumeist aus
Zäunen besteht und nur an wenigen Stellen wirklich Mauer ist
– der Begriff soll, vor allem in Deutschland, entsprechende
Assoziationen wecken – ist eine Reaktion auf den Terror
gewesen! Das macht den Verlauf dieser Absperrung nicht besser.
Israel hat palästinensisches Land konfisziert, mehr als 70.000
Olivenbäume herausgerissen, Dörfer teilweise eingesperrt,
den Alltag der Palästinenser um vieles verschlimmert. Das aber
interessiert die große Mehrheit der Israelis nicht mehr, denn
dort, wo der Sperrzaun bereits steht, gibt es keinen Terror
mehr!
Nur ein Beispiel: Waren von der
palästinensischen Stadt Kalkilija aus in Zeiten der Zweiten
Intifada noch über 70 Anschläge verübt worden, so
gab es keinen einzigen mehr, seitdem dort die Mauer steht. Direkt
vor Kalkilija verläuft eine israelische Straße. Nicht
nur, dass die Bewohner der Stadt direkt auf die Autos geschossen
und auch eine neunjährige Israelin getötet hatten. Sie
hielten Taxis an, ließen sich in 15 bis 20 Minuten nach Tel
Aviv kutschieren, um sich dann dort in die Luft zu sprengen.
Für die allermeisten Israelis ist der Sperrzaun somit
gerechtfertigt. Er wirkt. Für sie ist zunächst einmal
wichtig, nicht im Bus oder im Caféhaus zerfetzt zu werden.
Sollte irgendwann einmal Frieden sein, dann kann man den Zaun ja
wieder abreißen. Zäune und Mauern können beseitigt,
ein Toter aber nicht wieder zum Leben erweckt werden. So
trösten sich in Israel auch diejenigen, denen durchaus bewusst
ist, dass die Menschenrechte durch den Zaun mit Füßen
getreten werden.
Gibt es dennoch Chancen für einen neuen
Friedensprozess? Kaum, solange Imame in Moscheen gegen ?die
Juden“ (nicht nur gegen Israelis) zum Heiligen Krieg
aufrufen; solange die palästinensische Regierung nicht willens
ist, ernsthaft dem Terror der Fundamentalisten Einhalt zu gebieten.
Sind sie dazu überhaupt in der Lage? Israel ist
überzeugt, dass Mahmoud Abbas die Mittel dazu hätte. Ob
er auch den politischen Willen hat, wird angezweifelt. Und
vielleicht ist es wirklich so, dass er nicht die Macht hat, Hamas
und Islamischem Dschihad Einhalt zu gebieten. Dann aber –
auch dies ist israelische Überzeugung – dürfe sich
das palästinensische Volk nicht wundern, wenn Israel auf
Terror mit Gegengewalt reagiert. Solange die Paläs-tinenser
nicht echten Willen zum Frieden zeigen, solange wird politisch
nichts geschehen, was Israel gefährden könnte. Das
europäische Argument, der Stärkere – also Israel
– müsse auf den Schwächeren zugehen,
größere Zugeständnisse machen, ist aus dieser
israelischen Sicht gefährlicher Unsinn. Umgeben von 250
Millionen feindlich gesinnten Arabern, empfindet man sich nicht als
?stärker“, höchstens militärisch. Und diese
Stärke muss für das Überleben unbedingt erhalten
bleiben. So einfach ist das. Sämtliche Friedenspläne, vom
Tenet-Plan bis zur Roadmap, sind unsinnig, solange sie nicht die
Konfliktparteien dort abholen, wo sie stehen: In totalem
Misstrauen, in Angst und Hass und im mangelnden Willen, auf ihre
jeweiligen Totalansprüche zu verzichten.
Was aber könnten die Palästinenser
tun, um Israel zu Konzessionen zu zwingen? Sie könnten,
sollten und müssten dafür sorgen, dass nach dem Abzug aus
Gaza keine einzige Kassam-Rakete mehr auf israelisches Territorium
abgeschossen wird. Wenn Israel sähe, dass an der neuen Grenze
tatsächlich Ruhe herrscht, dass aus Gaza keine Gefahr mehr
hinüberschwappt, dann könnte, ja, müsste eine
israelische Regierung, egal welche, langfristig auch in der
Westbank reagieren. Mit dem Abzug aus Gaza ist der Tabubruch
vollzogen. Eine Aufgabe weiterer Siedlungen in Judäa und
Samaria, wie die Siedler die Westbank nennen, ist schon jetzt nicht
mehr undenkbar.
Inzwischen wird sich Israel zunächst um
ein innenpolitisches Problem, ein sehr ernsthaftes, kümmern
müssen. Die Bilder, die man zuletzt jeden Tag von den Siedlern
sehen konnte, die Gewaltbereitschaft gegenüber dem eigenen
Staat, gegenüber Militär und Polizei, hat der
Bevölkerung klar gemacht, dass man sich in den vergangenen 30
Jahren ein Ungeheuer im eigenen Haus herangezüchtet hat,
unterstützt von rechten wie auch linken Regierungen! Denn die
ideologische Besiedlung der besetzten Gebiete wurde von allen
Seiten gutgeheißen. Nun aber richten sich diese wie ein
Krebsgeschwür gegen den Staat selbst. Begriffe wie
?Bruder-“ oder ?Bürgerkrieg“ machen längst
die Runde, und der jüdische Staat wird sich entscheiden und
seine demokratischen Strukturen verteidigen müssen.
Nur wenn das Land in der Lage ist, seine
politischen, gesellschaftlichen und religiösen Fehler zu
korrigieren, nur dann hat Israel eine Chance zu überleben. Der
innere Kampf ist für die Zukunft des jüdischen Staates
längerfristig vielleicht noch entscheidender als die
Jahrzehnte andauernden Kämpfe mit arabischen Nachbarn. Dies
ändert freilich nichts daran: Die über Generationen vom
Trauma der Vernichtung verfolgten Juden/Israelis brauchen
unmittelbar Sicherheit. Und das heißt ein Ende des
palästinensischen Terrors und die Anerkennung seiner
Existenzberechtigung durch sämtliche orientalischen
Nachbarn.
Richard Chaim Schneider arbeitet als Filmemacher für die ARD,
Journalist und Autor in München.
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