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Hans-Christian-Rößler
Ein Riss geht durch Israel
Israelis und Palästinenser bereiten sich
auf die Räumung der Siedlungen vor
Jerusalem, im August. An alles wurde gedacht.
Die Demonstranten sollten Gebetsriemen und Klopapier mitbringen.
Waffen waren jedoch verboten, denn "der Marsch wird mit
Entschiedenheit stattfinden, aber ohne Gewalt", wie es im Aufruf
hieß. Ein weiteres Mal versuchten tausende von Gegnern des
israelischen Abzugs aus dem Gaza-Streifen in der vergangenen Woche
vergeblich, in den Siedlungsblock Gush Kativ zu kommen: Schaffen es
viele, könnte es ihnen gelingen, den Rückzug in letzter
Minute zu stoppen; wohl mehr als 2.000 Abzugsgegner halten sich
schon dort auf. Denn schon am 15. August sollen die israelischen
Soldaten an die Türen von Gush Kativ klopfen und die Einwohner
auffordern, ihre Häuser zu verlassen. Wer 48 Stunden danach
immer noch da ist, wird gewaltsam aus dem Gaza-Streifen
gebracht.
Tausende von Soldaten trainieren seit Wochen
für diesen Tag. Aber das Heer der Demonstranten mit orangenen
Hemden, Hüten und Bändern, das ihnen gegenübersteht,
hindert sie an ihren letzten Vorbereitungen: Zu den Kundgebungen zu
Beginn der beiden Protestmärsche kamen mehr als 20.000
Menschen; fast genauso viele Sicherheitskräfte wachten
darüber, dass sie es nicht in den Gaza-Streifen schafften.
Für viele der Demonstranten ist der Gaza-Plan von
Ministerpräsident Ariel Scharon, dem die meisten bei den
letzten Wahlen noch ihre Stimme gegeben haben, "diktatorisch". Nach
ihrer Ansicht droht ein "weiterer Riss in der bröckelnden
Mauer der Demokratie". Einige radikale Rabbiner und bekannte
Rechtsextremisten verfluchten Scharon nachts bei Vollmond auf einem
Friedhof in einem gespenstischen kabbalistischen Ritual. Nun droht
dem Ministerpräsidenten innerhalb eines Monats der Tod, wie
sie behaupten. Ein anderer Rabbiner warnte die
Sicherheitskräfte, die am Abzug mitwirken, davor, dass sie
bald an Krebs oder einem Unfall sterben könnten. Der Grund
dafür sei klar: "Einen Juden gewaltsam aus seinem Haus zu
vertreiben, ist eine sehr große Sünde". Scharon
fährt zwar mittlerweile einen neuen gepanzerten Mercedes,
wiederholt aber unbeeindruckt, dass die Entscheidung auf
demokratischem Weg zustande gekommen sei und sich die Gegner des
Gaza-Plans damit abfinden müssten.
Ein Riss geht durch Israel, oft mitten durch
Familien; zum Beispiel durch die des Brigadegenerals Gershon
Hacohen, der das militärische Kommando über den
Rückzug hat. Vor kurzem traf er am Gaza-Übergang Kissufim
zufällig seinen Bruder Aviya. Der ist zu den Siedlern in Gush
Kativ gezogen und hofft gemeinsam mit ihnen zu verhindern, dass
sein Bruder den Auftrag der Regierung ausführen kann.
Während ihres kurzen Treffens sprachen beide auch über
Aviyas Tochter. Nach dem Abschluss ihrer Offiziersausbildung ist
sie in der Gegend von Kissufim im Einsatz: Sie wird sich dem Befehl
nicht widersetzen, die Siedlungen zu räumen. Die meisten
israelischen Jugendlichen sehen das mittlerweile anders. Sie halten
es für richtig, wenn sich Soldaten nicht an der Räumung
des Siedlungsblocks beteiligen - es sind fast zwei Drittel der
Israelis im Alter von 15 bis 18 Jahren. Nach einer Umfrage der
Zeitung "Jediot Ahronot" würde die Hälfte der befragten
Jugendlichen einen solchen Befehl verweigern, wären sie
Soldaten. Während die Mehrheit aus der Generation der Eltern
den Gaza-Plan Scharons weiter unterstützt, lehnt ihn mehr als
die Hälfte ihrer Kinder ab. Unter den Demonstranten sind
zahlreiche Kinder und Jugendliche, die sich mit den Soldaten
streiten, die nur wenig älter sind als sie, und diese
auffordern, ihre Befehle zu verweigern. Mehrere Minderjährige
wurden schon verhaftet und verbrachten längere Zeit im
Gefängnis. "Arik Scharon, Du bringst uns einen Holocaust!",
hieß es etwa auf einem Flugblatt, das ein Mädchen auf der
letzten Kundgebung in Sderort verteilte. Am Abend wurden dann
Jugendliche in kleinen Gruppen losgeschickt, um an den Posten der
Sicherheitskräfte vorbei in den Gaza-Streifen zu
gelangen.
Doch die Fernsehbilder von Demonstranten, die
in großer Zahl in den Süden des Landes strömen, und
die orangefarbenen Bänder, die an vielen Autos flattern,
erwecken einen falschen Eindruck: Seit langem ist eine Mehrheit
unter den Israelis für Scharons Gaza-Plan; viele bezeichnen
die Siedlungen dort sogar als einen Fehler. Rein optisch haben
jedoch die Siedler gewonnen. Überall gibt es orangefarbene
T-Shirts, Tücher und Hüte zu kaufen. Nicht zu
übersehen sind auf den Straßen die orangefarbenen
Bänder, die an Autos und Rucksäcken flattern oder als
Stirnbänder dienen. Als die erfolgreichste PR-Kampagne des
Jahres würdigte ein israelisches Wirtschaftsmagazin die Aktion
der Siedler: "Unter Marketingaspekten wurde Orange - die Farbe der
Flagge der Verwaltung des Siedlungsblocks von Gush Kativ - in
unserem Bewusstsein verwurzelt, und man wird sich daran als einen
schwindelerregenden Erfolg erinnern", hieß es zur
Begründung - auch wenn die Organisatoren letztlich wohl nicht
den Rückzug verhindern werden. Politisch werden sich zwar
Befürworter des Gaza-Plans durchsetzen, aber die blauen
Bänder, die sie verteilen, haben nur wenige an den Autos oder
Rucksäcken. Einige Israelis, denen die Einheit der Nation am
Herzen lag, kleideten sich schon orange und blau.
Aber selbst für linksgerichtete und
friedensbewegte Israelis hat der Gaza-Rückzug einen Preis. Aus
Gush Kativ kommen rund 70 Prozent des organisch angebauten
Gemüses in Israel. So schnell wird sich dafür kein Ersatz
finden lassen, denn es gibt nur wenige brauchbare
Ersatzflächen in Israel, die in der Vergangenheit nicht mit
Kunstdünger oder ähnlichem gedüngt worden sind. Aber
auch die Siedler von Gush Kativ sind sich nicht einig. Während
ihre Unterstützer mit allen Mitteln versuchen, in den
Siedlungsblock zu kommen, verlassen ihn immer mehr Familien. In
Nitzan zogen schon die ersten Familien in die bald mehr als 300
ockergelben "Caravillas" mit ihren roten Ziegeldächern an der
Straße zwischen Aschdod und Aschkelon ein. In einer
Tag-und-Nacht-Aktion wurden die vorgefertigten Vierzimmerwohnungen
- ihr Name verbindet die Wörter Caravan und Villa - dort
aufgebaut. Auch an anderen Orten im Süden errichtete man
ähnliche Unterkünfte und mietete Wohnungen. Darüber
hinaus wurden tausend Hotelzimmer für die Siedler reserviert,
die die Soldaten gewaltsam aus Gush Kativ vertreiben müssen,
und 2.300 Plätze in Gefängnissen stehen auch
bereit.
Aber auch für die Toten in Gush Kativ
trafen die Planer Vorsorge. In Nitzan bereiteten Arbeiter schon
neue Gräber vor, in die sie unter der Aufsicht der Rabbiner
umgebettet werden sollen. Vor dem eigentlichen Rückzug werden
sich auch hunderte von Schlangen, Vögeln und anderen Tieren
aus dem zehn Hektar großen Zoo in Gush Kativ auf den Weg aus
dem Gaza-Streifen in eine neue Bleibe machen. Diejenigen Siedler,
die zu einem freiwilligen Auszug bereit sind, legten Wert darauf,
dass sie ihre alten Nachbarn behalten und in Israel möglichst
gemeinsam ein neues Leben beginnen können. Nicht für alle
ging dieser Wunsch in Erfüllung, auch wenn es gut für sie
wäre. Denn israelische Psychologen halten den Zusammenhalt
unter ihnen für besonders wichtig. So erwartet Nahi Alon
nicht, dass der Abzug die Siedler traumatisiert
zurück-lässt. Den Siedlern aus Yamit, die einst ihre
Häuser auf dem Sinai aufgeben mussten, gehe es heute gut und
sie hätten eine neue Heimat gefunden: "Der religiöse
Hintergrund, der Glaube und der Zusammenhalt der Gaza-Siedler wird
längerfristig ihren emotionalen Aufruhr verringern." Sie
könnten später argumentieren, dass sie getan haben, was
sie konnten, und sich nun darauf konzentrieren müssten zu
verhindern, dass es den Siedlungen im Westjordanland ergehe wie
Gush Kativ. Ähnlich sieht es auch die israelische Tageszeitung
"Haaretz": Die Anführer der Siedler habe sich schon mit dem
Gaza-Abzug abgefunden, der nicht mehr zu verhindern sei. Daher
versuchten sie jetzt, mit ihrer Kampagne den Abzug zu einem
"nationalen Trauma" zu stilisieren, um mögliche weitere
Rückzüge aus dem Westjordanland zu verhindern, heißt
es in "Haaretz". Ein Kommentar der Zeitung "Jediot Ahronot" geht
härter mit den Siedlern ins Gericht: Wie "Ausländer in
unserer Mitte" benähmen sie sich. Längst seien sie Herren
eines Schurkenstaates mit eigenen Gesetzen und
Interessen.
Im Gaza-Streifen bereiten sich
Palästinenser und Siedler auf unterschiedliche Weise auf den
15. August vor: In Gaza-Stadt hat die palästinensische
Führung tausende von Fahnen in Auftrag gegeben. Das Ende der
Siedlungen soll mit einem großen Fest gefeiert und Busfahrten
dorthin sollen angeboten werden. Dann müssen Bauarbeiter erst
einmal den Schutt der Siedlerbungalows wegräumen, bevor neue
Häuser für die palästinensischen Einwohner des
Gaza-Streifens entstehen können, die dort bisher in
drangvoller Enge leben; die Vereinigten Arabischen Emirate boten
schon an, dort eine neue Stadt zu errichten. In Gush Kativ haben
dagegen einige Siedler sich schon KZ-Uniformen mit dem Judenstern
geschneidert. In ihnen wollen sie den Soldaten
gegenübertreten.
Hans-Christian Rößler ist Redakteur der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung.
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