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Heiko Flottau
Im Würgegriff der "religiösen"
Radikalen
Das Leben im Irak ist zum Albtraum
geworden
Es war eine schöne Illusion, die Washington
und London der Weltöffentlichkeit präsentierten: der
Diktator wird gestürzt, das Volk bejubelt die Befreier,
wählt ein Parlament und eine Regierung - und fertig ist die
Demokratie. Dank amerikanischer Präzisionsbomben würde
das Projekt "Iraqi Freedom" zudem kaum viele Tote fordern. Dass
dieser Krieg in Wirklichkeit wegen anderer Ziele geführt
wurde, zeigte sich schon am ersten Tag der Besetzung Bagdads:
mehrere hundert schwer bewaffnete US-Soldaten bewachten das
Ölministerium - zur selben Zeit überließen die
Besatzer die Hauptstadt der Plünderung durch den Mob.
Auch der angekündigte "saubere Feldzug"
erwies sich als Chimäre. Nach einem Bericht der seriösen
britischen Medizin-Zeitschrift "Lancet" verloren etwa 98.000 Iraker
ihr Leben - meist bei Luftangriffen.
Krieg und Plünderungen liegen über
zwei Jahre zurück. Inzwischen ist das Leben in einem der
potenziell reichsten Länder der Erde für die Menschen
noch mehr zum Alptraum geworden. Besonders Bagdad ist im Chaos
versunken. Denn mit dem Regime Saddam Husseins ist auch jede
staatliche und zivile Ordnung untergegangen. Es herrscht das Gesetz
der Straße. Hauptbeschäftigung vieler Bürger ist es,
ihr Leben zu schützen. Auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zum
Einkaufen - überall lauern Gefahren: Autobomben,
Schießereien, Entführungen gehören zum
Alltag.
Ein Beispiel für den Kreislauf der
Gewalt: Wer als Ausländer heute die im Zentrum gelegene
Saadun-Straße entlanggeht, muss damit rechnen, von einer der
vielen Gangs entführt zu werden. Die Kidnapper setzen sich
dann mit den sunnitischen Terroristen der Gruppe Al Qaida in
Mesopotamien unter Führung des Jordaniers Abu Mussab
al-Zarkawi in Verbindung und verkaufen die Geisel für ein paar
zehntausend Dollar an Aufständische. Diese versuchen
zunächst, von dem jeweiligen Land ein Millionenlösegeld
zu bekommen. Mit der Summe wiederum können sie für lange
Zeit ihren Terrorkrieg finanzieren. So ernährt Kidnapping den
Krieg - und der Krieg das Kidnapping. Die zivile Ordnung, die auch
Saddams Irak auszeichnete, ist von Anarchie abgelöst
worden.
Auch wohlhabende Iraker vermeiden es, soweit
es geht, ihre Kinder auf die Straße zu schicken. Allzu leicht
werden sie entführt. Die Kriminellen haben in Bagdad schon
Büros eingerichtet, in denen Eltern nach dem Verbleib ihrer
verschwundenen Kinder fragen können. Die Polizei ist machtlos.
Oft steckt sie mit den Entführern unter einer Decke. Und oft
bekommen die verzweifelten Eltern achselzuckend die Antwort, sie
müssten eben das geforderte Lösegeld zahlen.
Die Folge ist für das Land verheerend:
die Furcht vor Entführungen, davor, eines Tages von einer der
vielen Explosionen getötet oder verletzt zu werden, ist so
groß, dass insbesondere die Elite, Professoren, Ärzte,
Wissenschaftler den Irak in Richtung Jordanien und Syrien
verlassen. So verliert der Irak, durch Saddams Kriege, die
UN-Sanktionen und die anglo-amerikanische Invasion schon
ausgeblutet, sein letztes intellektuelles Potenzial.
Die Schäden, welche dem Land
zugefügt werden, sind immens und für lange Zeit nicht
reparierbar. Und wie einst friedliche Bürger, die der Krieg
und die Nachkriegswirren jetzt zu professionellen Kriminellen in
Form von Kidnappern und Raubmördern gemacht hat, jemals wieder
resozialisiert werden können, ist nicht absehbar. Schon
verändert Bagdad sein Gesicht. Hunderttausende von armen
Schiiten, von denen die meisten nicht einmal eine richtige
Schulausbildung haben, strömen in die Hauptstadt, bauen ohne
Genehmigung Hütten und Häuser und beginnen, dem Rest der
noch existierenden bürgerlichen, weltoffenen Mittelschicht
ihren engstirnigen religiös-sektiererischen Lebensstil
aufzuzwingen, indem sie Frauen zwingen, Kopftuch oder Schleier zu
tragen.
Eine international anerkannte Errungenschaft
des früheren Iraks - der säkulare Staat - geht immer mehr
verloren. Dass in manchen Teilen Bagdads noch immer die Telefone
nicht funktionieren, dass es auch im Sommer bei einer Hitze von
über 50 Grad Celsius keinen Strom für Klimaanlagen gibt
und dass viele immer noch von Lebensmittelrationen leben - all dies
zählt angesichts des physischen und
religiös-ideologischen Terrors fast zu den kleineren
Übeln.
Die Bilanz nach zwei Jahren Okkupation ist
verheerend. Wann die von Amerikanern und Briten versprochene rosige
Zukunft beginnt, weiß niemand. Der Wiederaufbau, nach dem Sieg
der Alliierten mit wohltönenden Worten angekündigt, ist
angesichts des Chaos weitgehend ausgesetzt. Der Ölreichtum
versickert weiterhin oft in dunklen Kanälen. In vertraulichen
Gesprächen deuten Mitarbeiter des Ölministeriums an, dass
US-Firmen Öl nicht zum Weltmarktpreis von circa 50 Dollar,
sondern zum Dumpingpreis von circa 27 Dollar pro Fass bekommen.
Angesichts der überall wuchernden Korruption ist es für
Spekulanten ein Leichtes, an Verladestationen große Mengen
Öls für den blühenden Schwarzmarkt abzuzapfen.
Aufständischen gelingt es zudem immer wieder, Pipelines zu
beschädigen und so den Export zu stören.
Ein Fazit nach über zwei Jahren
Besatzungszeit lautet: Die USA können zwar ein Land erobern,
im Gegensatz zu den Briten sind sie aber keine "guten" Okkupatoren.
In der britischen Besatzungszone im Süden ist es nicht nur
deshalb so ruhig, weil sich die Schiiten im neuen Irak eine
führende Rolle versprechen. Die Briten haben es nämlich
mit ihrer langjährigen kolonialen Erfahrung fertig gebracht,
die Menschen, die Stämme, ruhig zu stellen. Wie in Zeiten des
Empires haben sie sich - ohne dabei Waffen zu tragen - mit Scheichs
und Stammesführern zusammengesetzt, Konflikte bereinigt und
ihre Politik dargelegt. Es ist nicht zu erwarten, dass aus den
Amerikanern über Nacht "gute" Okkupatoren werden. In Bagdad
gehen sie vor allem eigenen Interessen nach: Sie kontrollieren das
Öl-, Verteidigungs- und Außenministerium. Alle
übrigen Ressorts - jene, deren Aufgabe es ist, das
tägliche Leben der Menschen zu erleichtern - haben sie Irakern
überlassen. Die Parteien, welche die Minister dieser Ressorts
stellen, beschäftigen oft nur Mitglieder ihrer eigenen
Klientel, ohne Rücksicht darauf, ob diese qualifiziert sind.
Häufig werden Analphabeten eingestellt. Die Ministerien gelten
Politikern und Mitarbeitern nicht selten nur als Feld, das man
finanziell abernten kann, denn die derzeitige, nach langen Querelen
geformte Regierung bleibt voraussichtlich nur bis Ende des Jahres
im Amt. Diese kurze Zeit nutzen viele, um sich zu bereichern, nicht
aber um Telefone, Kraftwerke, Krankenhäuser in Ordnung zu
bringen. Im Regime des Despoten gab es Korruption auf höchster
Ebene: Saddams Clan, sein Stamm und hoch stehende Gefolgsleute aus
der Baath-Partei haben sich bereichert. Zumindest vor den
Sanktionszeiten aber war Korruption in der Regierung nicht so
ausgeprägt. Inzwischen hat sie sich in fast jedes Büro
der Regierung hineingefressen. Fast schon angewidert haben die
Menschen die Hoffnung auf baldige Erlösung
aufgegeben.
Wird es dennoch bald zu einer moralischen und
politischen Wende kommen? Zunächst bleiben wieder nur traurige
Tatsachen zu berichten. Der Krieg hat die religiös-radikalen
Kräfte gestärkt. Die Invasion hat dazu geführt, dass
der einst stabile Irak zu einem Plateau für den islamischen
Terrorismus geworden ist. Beobachter haben eine solche Entwicklung
vorausgesagt.
Verschiedene Gruppen tummeln sich im
Zweistromland: Al-Zarkawis Al Qaida ist die berüchtigtste von
ihnen. Weniger bekannt sind die Ansar al-Sunna ("Helfer der
Sunniten"). Auch diese Gruppe verübt Terrorakte gegen
Zivilisten. Schließlich die "Irakische Islamische Armee", der
vornehmlich Nationalisten angehören. Sie wird von vielen als
die wahre, sozusagen aufrechte Widerstandsgruppe angesehen, weil
sie "nur" amerikanische Soldaten attackiert, nicht aber irakische
Bürger. In der täglichen Berichterstattung ist meist nur
von Anschlägen auf Zivilisten in Bagdad die Rede. Doch es gibt
fast ebenso viele Überfälle auf die Konvois der Besatzer
außerhalb.
Zudem muss man davon ausgehen, dass bereits
Bürgerkrieg herrscht. Die meisten der neu rekrutierten
Polizisten und Soldaten sind Schiiten. Diese gehören meist zu
den ärmeren Bevölkerungskreisen, aus wirtschaftlicher Not
melden sich viele freiwillig bei den Sicherheitskräften. Die
Selbstmordattentäter aber sind zumeist Sunniten. Sie
bekämpfen die Schiiten, weil sie aus ihrer Sicht mit den
Besatzern kollaborieren - und weil sie Schiiten sind. Diesem
Kriegsszenario entspricht die politische Aufstellung, welche durch
die Wahlen geschaffen wurde. Religiös ausgerichtete Schiiten
beherrschen die Bühne - ein Ergebnis, vor dem Amerikaner und
Briten stets ihre Augen verschlossen haben. Gemäßigte,
nicht religiös orientierte Schiiten wie Übergangspremier
Iyad Allawi schnitten bei den Wahlen dagegen schlecht
ab.
Vordringliche Aufgaben für die
nächsten Monate sind die Ausarbeitung einer neuen Verfassung,
ein Referendum, abermalige Parlamentswahlen und die Bildung einer
ständigen Regierung. Wenn es Amerikanern und Briten gelingen
sollte, eine in ihren Grundlagen weltlich-liberale Verfassung
durchzusetzen und den gemäßigten Kräften der
Schiiten und Sunniten - die sich diesmal dem Urnengang nicht
verweigern dürften - zum Durchbruch zu verhelfen, dann hat der
Irak womöglich doch eine Chance, dem Würgegriff der
religiösen Radikalen zu entkommen.
Dennoch ist die Hoffnung gering, dass das
amerikanische Demokratieprojekt in absehbarer Zeit doch noch in die
Erfolgsspur gelenkt werden kann. Die Menschen haben inzwischen fast
jede Zuversicht verloren. Sie hassen die Besatzer, die Terroristen
und auch ihre frei gewählte Regierung, die es nicht fertig
bringt, Sicherheit herzustellen und das tägliche Leben
erträglich zu gestalten. Kein Wunder, dass mancher Iraker
inzwischen die Zeit der Despotie in einem anderen Licht sieht: Man
habe zwar den Mund halten müssen, aber Autobomben,
Entführungen und nächtliche Überfälle habe es
nicht gegeben.
Wird der Irak überhaupt als Ganzes
überleben oder in seine Einzelteile zerfallen? Die Frage, oft
gestellt, ist kaum zu beantworten. Einen kurdischen Staat im Norden
würden die Türken nicht dulden, einen schiitischen im
Süden würde die saudische Königsfamilie
bekämpfen. Und die sunnitische Mitte um Bagdad als Teil eines
erweiterten Haschemitischen Königreiches mit Abdallah II. von
Jordanien an der Spitze? Kaum denkbar. Die Iraker werden wohl mit
dem bestehenden Irak leben müssen - vorausgesetzt, den
völkerrechtlich verantwortlichen Besatzern gelingt es,
menschenwürdige Lebensverhältnisse zu
schaffen.
Heiko Flottau, von 1996 bis 2004 Nahost-Korres-pondent der
Süddeutschen Zeitung, arbeitet als freier Journalist in
Kairo.
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