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Reinhard Baumgarten
Der Ausnahmezustand ist in Ägypten zur Regel
geworden
Reformstau im Land der Pharaonen
Kifaya hat das Zeug, zum Wort des Jahres in
Ägypten zu werden. Kifaya heißt schlicht: genug. Kifaya
ist ein Erkennungswort für viele, die ihren Unmut über
die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse in dem Land am Nil äußern. Kifaya
Mubarak: genug Folter, genug Ausnahmezustand, genug Korruption,
genug Stagnation.
Die Demonstrationen häufen sich in
diesen Wochen. Täglich finden im bevölkerungsreichsten
arabischen Land Kundgebungen statt. Sie sind klein und
überschaubar. Die wenigen Dutzend Demonstranten werden immer
durch eine gewaltige Polizeimacht abgeschirmt. Seit bald einem
Vierteljahrhundert gilt in Ägypten der Ausnahmezustand.
Politische Kundgebungen in der Öffentlichkeit sind eigentlich
strikt verboten, doch die Obrigkeit duldet die kleinen
Aufläufe und antwortet den Demonstranten mit
Schlagstöcken und angeheuerten Schlägern. Seit knapp 24
Jahren ist Hosni Mubarak Präsident. Der 77-jährige "Rais"
hat seine Verdienste. Er hat die Führung des Landes zu einem
extrem kritischen Zeitpunkt übernommen. Islamische Extremisten
haben im Oktober 1981 seinen Amtsvorgänger Anwar al-Sadat
ermordet und versucht, eine religiös verbrämte Rebellion
anzuzetteln. Mubarak hat Ägypten mit starker Hand stabil, auf
Friedenskurs mit Israel und auf wirtschaftlichen Öffnungskurs
mit dem Westen gehalten.
Aber das ist nicht mehr genug, sagen die
Demons-tranten im heißen ägyptischen Sommer 2005. Genug
sind aber 24 Jahre Diktatur, wettert Kamal Khaleef, Direktor des
Zentrums für sozialistische Studien in Kairo. "Kifaya -
Mubarak muss gehen." Und seinen Sohn Gamal soll er am besten gleich
mitnehmen. Vor zwei Jahren ist der 42-Jährige in die
Führungsriege der regierenden Nationaldemokratischen Partei
(NDP) aufgestiegen. Seitdem nehmen die Gerüchte zu, Mubarak
senior wolle seinen Filius zum Nachfolger aufbauen. Gut 50
Demonstranten haben im Dezember auf der breiten Treppe des
Journalistenverbandes im Herzen Kairos den Anfang gemacht -
Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle. Aus dem Schneeball
ist noch keine Lawine geworden, die Kifaya-Bewegung ist keine
Massenbewegung. Sie hätte allerdings das Zeug dazu, denn ihre
Aktivisten gehören allen politischen Schattierungen an -
Muslimbrüdern, Sozialisten, Liberalen, Nasseristen,
gemäßigten Islamisten - und die Unzufriedenheit in der
Bevölkerung wächst.
Mehr als 72 Millionen Einwohner hat
Ägypten gegenwärtig. Alle acht Monate kommt eine weitere
Million hinzu. Hunderttausende junge Menschen strömen jedes
Jahr auf den Arbeitsmarkt, aber es gibt viel zu wenig Jobs und
Ausbildungsplätze, um sie alle unterzubringen. Offiziell liegt
die Arbeitslosenquote zwar nur bei knapp elf Prozent, inoffiziell
hingegen wird sie auf mindestens 25 Prozent
geschätzt.
Der öffentliche Sektor ist
aufgebläht und ineffektiv. Folgte Ägypten den
Empfehlungen von Internationalem Währungsfonds und Weltbank,
müssten Hunderttausende aus den unrentabel arbeitenden
staatlichen Betrieben entlassen, müssten Subventionen in
Milliardenhöhe zulasten der schnell zunehmenden Zahl der Armen
abgebaut werden. Im vergangenen Jahr hat Ägypten allein 485
Millionen Dollar aufgewendet, um den Brotpreis künstlich
niedrig zu halten. Ein Fladenbrot kostet seit mehr als zehn Jahren
10 Piaster - umgerechnet 7 Cent. Die Oppositionspresse spekuliert
bereits seit Wochen darüber, wann Brot- und Treibstoffpreise
angehoben werden. Noch zu Sadats Zeiten hatte das zu Brotunruhen
mit Hunderten von Toten geführt. Die Preise werden
erhöht, aber gewiss nicht mehr vor der für September
angesetzten Präsidentenwahl, denn des Volkes Unmut und Zorn
könnte den Regierenden Probleme bereiten. Erstmals in der
Geschichte des Landes sollen sich bei dieser Wahl mehrere
Kandidaten um das Präsidentenamt bewerben dürfen. Das
Parlament hat dazu kürzlich eine von Mubarak angeregte
Verfassungsänderung vorgenommen. Die Hürden sind indessen
so hoch, dass sie von unabhängigen Bewerbern nicht genommen
werden können. Die Opposition spricht von einer Farce und hat
sich mehrheitlich für einen Boykott des Urnenganges
ausgesprochen. Ayman Nour von der erst vergangenen Oktober
zugelassenen al-Ghat-Partei ("Der Morgen") tritt hingegen an. Doch
seine Chancen sind minimal, denn Ägypten ist de facto ein
Einparteienstaat, dessen Medien weitgehend in der Hand von Mubaraks
NDP sind. Hinzu kommt, dass der seit 24 Jahren geltende
Ausnahmezustand politische Kundgebungen und Versammlungen
verbietet.
US-Außenministerin Condoleezza Rice hat
von der ägyptischen Führung unlängst bei einem
Besuch in Kairo mehr Mut zu Reformen gefordert und sie dazu
aufgerufen, eine Führungsrolle bei der Demokratisierung des
Nahen Ostens zu übernehmen. Die Verfassungsänderung zur
Ausrichtung einer Präsidentenwahl mit konkurrierenden
Kandidaten nannte sie einen Schritt in die richtige Richtung.
Sowohl für die Präsidentenwahl im September als auch
für die für Spätherbst vorgesehene Parlamentswahl
plädiert Rice dafür, internationale Wahlbeobachter nach
Ägypten zu entsenden, die einen korrekten Ablauf der
Urnengänge überwachen sollen. Angesichts der massiven
Betrugsvorwürfe an die Adresse der NDP während der
Parlamentswahlen 2000 scheint das sehr ratsam. Doch die
Führung in Kairo ziert sich und verbittet sich bislang
jegliche Einmischung von außen in den inneren Reformprozess.
Dieser Reformprozess gleicht indessen mehr und mehr der Situation
auf Kairos Straßen an gewöhnlichen Werktagen: Staus und
zähfließender Verkehr rund um die Uhr. Dass der
ägyptischen Führung eine Brise der Veränderung nicht
nur von einem kleinen Häuflein elitärer
Kifaya-Aktivis-ten ins Gesicht bläst, musste sie erst
kürzlich erfahren. Mehrere tausend Richter haben damit
gedroht, bei den Urnengängen im Herbst nicht mehr als
Wahlbeobachter zu fungieren, wenn ihnen nicht vollkommene
Unabhängigkeit garantiert wird. Für Ägypten
wäre das ein beispielloser Fall zivilen Ungehorsams
staatlicher Bediensteter.
Das rasante Bevölkerungswachstum,
überbordende Bürokratie und planerische Misswirtschaft
haben aus dem einstigen Vorreiter innerhalb der arabischen Welt ein
rückständiges und abhängiges Land gemacht. Die
Fleischtöpfe Ägyptens werden bereits in der Bibel
erwähnt - doch heute führt das Land einen Großteil
seiner Nahrungsmittel und Konsumgüter ein und muss mit einem
Handelsbilanzdefizit in Höhe von 9 Milliarden Dollar
zurechtkommen. UN-Berichten und Weltbank-Studien zufolge hat
Ägypten nur dann eine Chance, der wirtschaftlichen Stagnation
und der technologischen Rückständigkeit zu entkommen,
wenn es tiefgreifende politische Reformen ins Werk setzt und wenn
sich die Zivilgesellschaft entwickeln kann. Genau das verlangen die
Kifaya-Bewegung, die Muslimbrüder und die al-Ghat-Partei. Als
eine der wichtigsten Voraussetzungen dazu fordern sie die Aufhebung
des Ausnahmezustands, der praktisch jede politische Aktivität
außerhalb der Staatspartei NDP für illegal erklärt.
Doch damit ist vor allem nach der Rückkehr des Terrors nach
Ägypten vorerst nicht zu rechnen. Bei den Anschlägen von
Scharm el Scheich sind am 23. Juli, dem Nationalfeiertag
Ägyptens, offiziell 67 Menschen umgekommen - inoffiziell
werden 88 Tote genannt. Binnen zehn Monaten sind in Ägypten
bis zu 120 Menschen dem Terror zum Opfer gefallen. Mubarak will
nach seiner Wiederwahl ein Anti-Terrorgesetz auflegen lassen, damit
das Ausnahmerecht aufgehoben werden kann. Doch derartige
Ankündigungen haben die Ägypter schon sehr oft
gehört. Die massiven Einschränkungen durch das
Ausnahmerecht haben in der Vergangenheit vor allem die
Muslimbrüder zu nutzen gewusst. Der einzige öffentliche
Raum, wo Menschen außerhalb von Sportaktivitäten und
Feierlichkeiten ungestraft zusammenkommen können, sind heute
die Kirchen der Kopten sowie die Moscheen der Muslime.
Über die Moscheen sowie über
zahllose karitative Einrichtungen ist es den Muslimbrüdern
unter Mubarak trotz offiziellen Verbots als Organisation gelungen,
große Teile der Bevölkerung für sich einzunehmen.
Wie weit ihr Einfluss reicht und wie groß ihre Gefolgschaft
ist, lässt sich nur erahnen. Anhänger und Sympathisanten
der Muslimbruderschaft sind heute in beinahe allen
Berufsverbänden - Anwälte, Ingenieure, Lehrer, Richter -
in führenden Positionen. Nach Auffassung Sa'adeddin Ibrahims,
Direktor des Ibn-Khaldoun-Zentrums für Entwicklungsstudien in
Kairo, sollten die Muslimbrüder nicht länger als
politische Parias und gesellschaftliche Bedrohung ausgegrenzt
werden. Aus dem fatalen Fehler Algeriens, wo die Islamisten 1992
mit westlicher Einwilligung um ihren Wahlsieg betrogen und in den
Untergrund gedrängt wurden, was in einen blutigen
Bürgerkrieg mündete, müssten die richtigen
Schlüsse gezogen werden, betont Ibrahim. Den
Muslimbrüdern dürften aufgrund ihrer islamistischen
Gesinnung nicht fundamentale demokratische Grundrechte vorenthalten
werden.
Nach Auffassung des Islamistenexperten Dia
Rasch-wan vom staatlichen Al-Ahram-Zentrum für politische
Studien haben sich die Muslimbrüder in den letzten Jahren
deutlich gewandelt und "alle erforderlichen Garantien abgegeben,
sich nicht vor ihnen zu fürchten". Raschwans Einschätzung
zufolge sind die Muslimbrüder nach der NDP mit Abstand die
zweitstärks-te politische Kraft, die sich seit Jahren von
jeglichem militanten Extremismus distanziert. "Der Islam ist die
Lösung", war früher die Losung der Muslimbrüder. Nun
tauchen sie Seite an Seite mit Linken, Nasseristen und Liberalen
auf. Sie halten bei Demonstrationen nicht den Koran hoch, sondern
Plakate auf denen steht: kifaya - genug. Ihr Führer, Mahdi
Akif, fordert nicht die Einführung der Scharia, sondern die
Einführung der Rede- und Versammlungsfreiheit, die Aufhebung
des Ausnahmezustands und einen freien Wettbewerb der Konzepte. An
diese Forderung der Muslimbrüder muss sich indessen nicht nur
das herrschende Regime in Ägypten, sondern auch der
demokratische Westen erst noch gewöhnen.
Reinhard Baumgarten ist ARD-Hörfunk-Korres-pondent in
Kairo.
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