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Günter Seufert
Vom Außenposten des Westens zum regionalen
Akteur
Das neue Selbstbewusstsein der
Türkei
Verglichen mit der Aufregung, die dem französischen und
niederländischen Nein zum Verfassungsvertrag in Europa folgte,
nahm Anatolien das Ergebnis relativ gelassen. Der offenen Freude
des holländischen Rechtsaußens Geert Wilders und der
Genugtuung Edmund Stoibers, für die der Ausgang der Referenda
ein klares Nein zur türkischen EU-Mitgliedschaft bedeutete,
stand keineswegs Hoffnungslosigkeit von Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan und Außenminister Abdullah Gül
gegenüber. Die Türken blieben auf dem Teppich.
Selbst Angela Merkel versicherte umgehend, am 6. Oktober, dem
Start direkter Beitrittsverhandlungen, werde nicht gerüttelt.
Zwar hat die türkische Erklärung im Rahmen der
Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zur Ausweitung der Zollunion
die Diskussionen über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
neu entfacht, doch die entlische Ratspräsidentschaft tut
alles, die Klippe zu umschiffen, und hat in dieser Frage die
Kommission auf ihrer Seite. Das englische Parlament hat die
Regierung schon vor Monaten aufgefordert, die wirtschaftliche
Isolation der Zyperntürken zu beenden. Im Verhältnis zur
EU vertrauen die Türken außerdem auf Washington und
rechnen fest damit, dass Condoleezza Rice dem Neuling Merkel
Prioritäten setzt.
Die Contenance der türkischen Regierung rührt auch
daher, dass sie die dicke Kröte schon am 17. Dezember 2004
schlucken musste. Der Beschluss des Europäischen Rats zur
Aufnahme der Beitrittsverhandlungen spricht von einer prinzipiellen
Offenheit des Ergebnisses, dem Recht der EU, sie jederzeit
befristet auszusetzen, und der Möglichkeit, dauerhafte
Schutzklauseln zum Beispiel in Sachen Freizügigkeit
einzufügen. Ferner soll über die Aufnahme erst nach
Etab-lierung des EU-Finanzrahmens für 2014 befunden werden,
was heißt, dass die EU sich alle Hintertüren offen
hält und auf weitere politische Reformen drängt. In
diesem Lichte wirkt der Ausgang der Referenda für die
Türkei eher befreiend. Wenn die Europäer selbst zu
glauben scheinen, die EU übertreibe es mit ihrer Staatlichkeit
und Brüssel nehme die einzelnen Nationen zu sehr ans
Gängelband, kann die EU ihre Erwartungen an die politische
Struktur von Kandidaten nicht endlos in die Höhe schrauben. Je
flacher die Strukturen der EU, desto geringer der Widerstand gegen
die türkische Mitgliedschaft, bewertet man die neue Situation
in Ankara. Ein Zweites geht damit einher: Je lockerer der
Zusammenhalt Europas, desto geringer der Abstand zwischen
Vollmitgliedschaft und privilegierter Partnerschaft, ein
Unterschied, der noch gestern als fundamental empfunden wurde. Zwar
will die Regierung offiziell von letzterem nichts wissen, aber das
Konzept wird nun erstmals offen diskutiert.
Das muss kein Zeichen von Schwäche sein. Auch wenn der 17.
Dezember selbst für die Türkei frustrierend war, der Weg
dahin hat sich schon bezahlt gemacht. Zunächst wirtschaftlich:
Die Liberalisierung im Rahmen des IWF-Programms lässt die
Wirtschaft boomen, und das neue Image als EU-Kandidat hat
ausländisches Vertrauen in die Türkei gestärkt. Die
Inflation, Ende der 90er-Jahre noch im dreistelligen Bereich, lag
2004 bei nur neun Prozent, und die Wirtschaft legte um die gleiche
Größe zu. Trotz ihrer hohen Staatsverschuldung
erhält die Türkei heute Kredite zu vergleichsweise
niedrigen Zinssätzen, und internationale Finanzinstitute
stuften das Land zunehmend besser ein. Besonders erfreulich
entwi-ckelt sich der Export, im Mai mit einer Steigerung von
über 21 Prozent verglichen mit dem Vorjahr.
Landwirtschaftliche Produkte machen davon nur noch circa zehn
Prozent aus, der Schwerpunkt liegt auf Textilindustrie und
Fahrzeugbau. Noch sind die ausländischen Direktinvestitionen
vergleichsweise niedrig, doch als Bundeskanzler Gerhard
Schröder (SPD) im Mai mit mehr als 1.000 Unternehmern in
Istanbul war, tagte gleichzeitig ein transatlantisches
Wirtschaftsforum, Wirtschaftsminister Kürsad Tüzmen
veranstaltete einen türkisch-arabischen Ökonomiekongress,
und der zukünftige türkische Chefunterhändler mit
der EU und Schatzminister Ali Babacan, leitete ebenfalls in
Istanbul die Sitzung der Asiatischen Entwicklungsbank. Für das
Heer der Arbeitslosen zahlen sich freilich bisher weder
Wirtschaftswachstum noch Exportsteigerung aus, und auch die
Löhne sind noch auf dem Stand der Krise von 2001. So gelten 18
der 70 Millionen Türken als arm, 1,5 Millionen können
sich nicht ausreichend ernähren. Im Frühjahr gestand
Erdogan das Versagen seiner Regierung in dieser Hinsicht ein.
Wo Brot fehlt, braucht es Spiele, und weil mit demokratischen
Reformen und der EU seit Dezember kein Staat zu machen ist, greift
Erdogan auf ein altbewährtes Mittel ideologischer
Rückbindung zurück: das Nationalgefühl. Im
südanatolischen Mersin setzten zwei Jugendliche beim
kurdischen Neujahrsfest die türkische Fahne in Brand und das
gesamte Land geriet in Zorn. In Trabzon am Schwarzen Meer
verteilten Linksradikale Flugblätter gegen die Folter, und ein
2.000 Köpfe starker Mob probte Lynchjustiz. Statt
mäßigend zu wirken, überließ die Regierung das
Land dem nationalen Taumel. Justizminister Hüseyin Çelik
goss noch Öl ins Feuer und beschuldigte die Akademiker von
drei Eliteuniversitäten des "Dolchstoßes an der
türkischen Nation". Sie hatten eine Konferenz über die
Armeniermassaker der Osmanen angesetzt, und sich nicht um die
offizielle Lesart geschert. Um das Volk bei Laune zu halten, setzt
Erdogan neben dem Nationalismus zudem auf die Religion. Er wetterte
gegen das Verbot des Kopftuchs für Studentinnen an
Universitäten und verurteilte die Benachteiligung von
Schülern der Predigergymnasien beim
Universitätszugang.
Auch wenn die kemalistische Opposition der Republikanischen
Volkspartei (CHP) jetzt wieder Zeter und Mordio schreit, haben die
populistischen Volten Erdogans wenig mit der Idee eines islamischen
Staates zu tun. Im Gegenteil, seine Partei für Gerechtigkeit
und Entwicklung (AKP) hat den politischen Islam überwunden und
in Wort und Tat bekräftigt, dass Demokratie und Islam sich
nicht ausschließen müssen.
Die EU-Mitgliedschaft war der Hebel für die demokratischen
Reformen der muslimisch-konservativen AKP in den letzten Jahren.
Diese Reformen haben im Inland die Spannung zwischen Säkularen
und Frommen vermindert und die Türkei im Ausland zu einem
Entwicklungsmodell für andere Länder mit muslimischer
Bevölkerung gemacht. Die EU-Politik der AKP hat damit
innenpolitisch einen der zentralen Konfliktpunkte entschärft
und für die Türkei außenpolitisch neue
Bewegungsfreiheit gewonnen. Auch daran liegt es, dass das
politische Beben in Europa die Türkei nicht allzu sehr
erschüttert.
Außenpolitisch bewegte die Türkei sich vor der
entschlossenen Wendung nach Europa weitgehend im Kielwasser
Washingtons. Nur wenn die USA sich distanzierten, zum Beispiel nach
der türkischen Invasion 1974 auf Zypern, wurde
außenpolitische Diversifikation mehr oder weniger erzwungen.
Der Kalte Krieg, die Revolution im Iran und die Grenzstreitigkeiten
mit Griechenland führten dazu, dass die Türkei mit ihren
Nachbarn in Europa und Nahost meist nicht auf gutem Fuße
stand, was ihre Abhängigkeit von Amerika noch verstärkte.
Die USA waren der militärisch-diplomatische, Westeuropa der
wirtschaftliche Rettungsanker. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges
und der Europapolitik der letzten Jahre wurde das Land von einem
US-abhängigen Außenposten des Westens zu einem regionalen
Akteur mit eigenen Gestaltungsmöglichkeiten.
Der Dissens zwischen den USA und Europa über den Krieg im
Irak erlaubte dem türkischen Parlament am 1. März 2003
die Ablehnung der US-Forderungen nach Stationierung von
Bodentruppen und Eröffnung einer zweiten Front im Nordirak.
Dies und die Schritte zur Demokratisierung bei gleichzeitiger
Wahrung der muslimischen Identität des Landes brachen das Eis
zwischen Ankara und den arabischen Staaten. Die Araber wollten bis
dahin von den Türken ihres Laizismus, ihrer Abhängigkeit
von den USA und ihres engen Verhältnisses zu Israel wegen
wenig wissen. Als Erdogan, im Einklang mit der EU, dann auch noch
Israels Palästinapolitik ablehnte, stieg das türkische
Ansehen in der muslimischen Welt sprunghaft, was in Europa zur
Aufwertung der Rolle des Landes im spannungsreichen Verhältnis
zwischen Islam und dem Westen führte.
Zwar schwingt das Pendel seit dem 17. Dezember wieder
zurück, kühlt sich das Verhältnis zur EU erneut ab,
ist innenpolitisch Stillstand angesagt und treten
außenpolitisch die USA und Israel wieder in den Vordergrund.
Verglichen mit der Lage vor vier Jahren aber ist der allgemeine
Fortschritt nicht zu übersehen.
Auf Zypern sind die Türken seit 30 Jahren erstmals nicht
nur in der Defensive. Mit Israel verbindet sie ein jährlicher
ziviler Handel von über 2 Milliarden Dollar und eine
Fülle militärischer Kooperationsprojekte. In der
arabischen und islamischen Welt ist das Ansehen der Türkei
wiederhergestellt, und erstmals ist ein Türke Präsident
der Organisation der Islamischen Konferenz. Syrien ist auf die
Türkei als Fenster zum Westen angewiesen, und mit der
Stabilisierung der neuen irakischen Regierung ist die Gefahr eines
kurdischen Teilstaates im Nordirak vorläufig gebannt.
Im Verhältnis mit Griechenland stehen jetzt auch
vertrauensbildende Maßnahmen der Streitkräfte auf der
Tagesordnung, mit den USA ist der Konflikt über den Irak
überwunden. Die Eröffnung der Erdölpipeline von Baku
über Tiflis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Mai
hat die Türkei auf ihrem Weg, zur Energiedrehscheibe zu
werden, ein gutes Stück weitergebracht. Russland ist Nummer
Eins in der Energieversorgung, die Türkei ist Hauptreiseziel
der russischen Touristen und mit Wladimir Putin war im Dezember
seit 32 Jahren erstmals wieder ein russischer Staatspräsident
dort. Das Land ist weder isoliert noch einseitig abhängig.
Ankara kann sich relativ gelassen auf den Beginn der Verhandlungen
vorbereiten. Auch wenn Europa blocken sollte: Isolationismus hat
allen nationalistischen Phrasen zum Trotz in der Türkei keine
Chance mehr. Es herrscht Aufbruchstimmung. Viele Türken meinen
gar, in Europa sei das zurzeit eher umgekehrt.
Günter Seufert arbeitet als Journalist in Istanbul und als
Gastdozent in Nikosia.
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