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Lennart Lehmann
Mit den Stammesstrukturen muss man sich
arrangieren
Neues, altes Afghanistan nach den
Taliban
Darüber, was in Afghanistan vor sich geht,
informiert sich der Großteil der Bevölkerung aus der
Gerüchteküche. So die folgende Geschichte: Im westlichen
Grenzgebiet entsteht auf iranischer Seite bei Zahedan, traditionell
sunnitische Enklave, eine reiche sunnitisch orientierte
Koranschule. Studenten, Taliban also, genießen hier kostenlos
Studium und Unterkunft. Auch aus dem muslimischen Ausland lockt
dieses Angebot junge Männer an. Der sunnitische Extremismus in
der Region nehme zu, heißt es.
Die Frage nach dem Finanzier
beschäftigte iranische Geheimdienstler sehr. Sie fürchten
iranfeindliche Aktivitäten Pakistans oder wahabitischer
Eiferer aus den Golfstaaten, die ihren Einfluss auf Kosten des
schiitisch geprägten Irans ausbauen wollen. Das Geld werde vor
Ort gesammelt, versicherten die Betreiber der Koranschule den
Geheimdienstlern und ließen sie die Kollekte am nächsten
Markttag beobachten. Scheck über Scheck in Höhe von
mehreren tausend Dollar sollen dort von Besuchern auf ein
ausgebreitetes Tuch geworfen worden sein. Das Geld afghanischer
Drogenhändler.
Ehemalige Mudschahedin, heute Warlords
genannt, beherrschen auch drei Jahre nach der internationalen
Militärintervention der so genannten "Allianz gegen Terror"
die afghanische Provinz. Über 20 Jahre haben sie ihr Brot mit
Krieg verdient. "Jetzt fürchten sie, dass ihnen nur noch wenig
Zeit bleibt, politische Macht auszuüben", sagt ein Mitarbeiter
des Zentralasiatischen Instituts der Humboldt-Universität
Berlin, der nicht genannt werden möchte. Weil sie oft ohne
Ausbildung sind, bleibt ihnen eine Verwaltungskarriere im neuen
Afghanistan versperrt. "Also versuchen sie, schnell viel Geld zu
verdienen, egal wie."
Frühere Kommandanten setzen auf
Schlafmohn und werden einflussreiche Großgrundbesitzer. In der
weiten Provinz Afghanistans setzt sich durch, wer einen starken
Stammesverband im Rücken hat. Schwächer Gestellte suchen
den Schutz eines angeseheneren Stammes. Gegen Gefälligkeiten,
versteht sich. Auf staatlichen Schutz verlässt man sich nicht.
Lutz Rzehak, Dozent am Zentralasiatischen Institut, sieht da wenig
Alternativen. "Die Stammesstrukturen sind die Strukturen, die da
sind. Mit ihnen muss man sich arrangieren." Das scheinen auch
Hilfsorganisationen zu respektieren. Für die Teilnahme von
Frauen an Alphabetisierungskursen oder die Einführung
technischer Neuerungen holen sie die Zustimmung der traditionellen
Ältestenräte ein, berichtet Gisela Hayfa, Leiterin der
Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in
Kabul.
Stabilität, Good Governance, den Ausbau
der Zivilgesellschaft, festgeschriebene Rechte für
Minderheiten und Frauen hatte die internationale Gemeinschaft unter
Führung der USA in Reaktion auf den 11. September in
Afghanistan durchsetzen wollen, um die Region zu stabilisieren.
Drei Jahre nach der gewaltsamen Beendigung der Taliban-Herrschaft
hat Afghanistan eine international anerkannte, gewählte
Regierung und eine neue Verfassung. Doch die Sicherheitslage bleibt
kritisch. Fast täglich sterben Menschen bei Anschlägen
und kleineren Gefechten. Für internationale Aufregung sorgte
die Entführung einer Mitarbeiterin der Organisation CARE im
Mai.
Nationale Armee und Polizei sind noch im
Aufbau. Der Kontakt zwischen der Hauptstadt und der teilweise
schwer zugänglichen Provinz ist traditionell schwach. Ein
Waffenmonopol kann der Staat bisher nicht durchsetzen.
Vetternwirtschaft und Korruption wird immer wieder beklagt, ein
Gouverneursposten soll für 400.000 Dollar verschachert worden
sein. Skeptische Afghanen befürchten zudem, dass das Land
erneut zwischen den unterschiedlichen geopolitischen Interessen, in
deren Mittelpunkt die Rohstoffe Zentralasiens stehen, zerrieben
werden könnte.
An der neuen Verfassung, die Ende 2003
ausgearbeitet wurde, hatte es von säkular eingestellten
Stimmen Kritik gegeben. Dass Afghanistan dem Namen nach eine
islamische Republik sei, zeige den Einfluss, den Islamisten nach
wie vor im Land ausübten. Auch der Passus, wonach nichts
erlaubt sein soll, was gegen den Islam verstößt, erregte
Argwohn. "Aber eine Verfassung ist kein Koran", meint ein Berliner
Exilafghane. "Man kann sie noch ändern."
Präsident Hamid Karsai hat keinen
leichten Stand, geht aber nach Ansicht von Beobachtern geschickt
vor. Im September stehen Parlamentswahlen an. Während seine
Regierung immer noch auf die militärische Unterstützung
Washingtons angewiesen ist, nutzt Karsai Reizthemen wie Guantanamo,
um öffentlich Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Ethnische Minderheiten sollen sich durch
Minister aus ihren Reihen politisch in Kabul repräsentiert
fühlen. Zwei seiner größten Widersacher, den
Usbekenführer Abdul Raschid Dostum, und den ehemaligen
Gouverneur von Herat, Ismail Khan, komplimentierte er in
angesehene, aber unbedeutende Posten. Die Erkenntnis, dass
Waffenruhe nicht gegen zu viele Mitglieder der eigenen
Bevölkerung durchzusetzen ist, äußerte sich in einem
Amnestieangebot für Taliban-Krieger und ihren Führer
Mullah Omar im Mai. Der schlug das Angebot aus.
Die ethnischen Konflikte, die während
des Bürgerkrieges zwischen 1992 und 2001 zu Massakern auf
allen Seiten geführt hatten, gelten noch nicht als
ausgeräumt. Erst seit März 2005 beschäftigt sich
eine Kommission unter Leitung des ehemaligen
säkular-traditionalistischen Mudschahed Sebghatullah
Modschadeddi mit der Aufarbeitung der Zwietracht. Blutrache hat
eine lange Tradition. Die Geschichte vom Paschtunen, der 100 Jahre
nach einem Vorfall einen Rachemord ausübt und sagt, er habe
sich beeilt, wird gerne erzählt.
Nationalistisch orientierte Paschtunen sehen
sich nach wie vor als die wahren Afghanen. Der Süden des
traditionellen Paschtunengebietes wird seit der britischen
Kolonialzeit durch die Grenzen zwischen Afghanistan, Pakistan und
Iran zerschnitten. Periodisch wird von Paschtunen die Idee
lanciert, das Territorium zu einem "Paschtunistan" zu vereinen.
Mitglieder anderer Bevölkerungsgruppen wie Tadschiken, Usbeken
oder die schiitischen Hazara sind in ihren Augen
"Afghanistaner".
Als in die Verfassung diktiert wurde, "die
Afghanische Nation wird gebildet durch alle Personen, die als
Afghanen bezeichnet werden", witterten Zugehörige anderer
Ethnien einen Ausgrenzungsversuch. Gerüchten zufolge haben bei
den Wahlen im Oktober 2004 nicht nur Bürger Afghanistans,
sondern auch Paschtunen und Belutschen, die in den nördlichen
Provinzen Pakistans siedeln, sich aber ebenfalls als "Afghanen"
bezeichnen, Stimmzettel abgegeben. Das Ansehen der
ausländischen Helfer in der Bevölkerung ist gesunken. Die
Provinz fühlt sich vernachlässigt. Immer häufiger
beschweren sich Afghanen über angebliche Ineffektivität
der Organisationen. Sie unterstellen ihnen, die Hilfsgelder zur
Deckung in ihren Augen astronomisch hoher Gehälter zu
verwenden und die Preise zu verderben. 400 Dollar soll mittlerweile
ein durchschnittliches Kabuler Appartement im Monat kosten. Der
Durchschnittslohn lag 2003 bei 190 Dollar im Jahr, informiert das
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Für
Aufsehen sorgte eine Organisation, die sich ihr Hauptquartier
12.000 Dollar im Monat kosten ließ. Dazu kommen zuweilen
unsensibles Auftreten und schlechte Öffentlichkeitsarbeit: So
haben sich die meisten ausländischen Organisationen im
nobelsten Kabuler Villenviertel quasi militärisch verschanzt.
Sie nutzen just die gleichen weißen Geländewagenmodellen,
die während der Taliban-Herrschaft die Kriegsfürsten und
pakistanischen Geheimdienstler führten. Ausländische
Mitarbeiterinnen provozieren mitunter durch für afghanische
Verhältnisse freizügige Kleidung. "Oft scheitert es an
kleinen Details", meint Rzehak. Das Gros der Afghanen ist zudem
kaum noch in der Lage, zwischen der Flut nicht profitorientierter
Organisationen und Unternehmern, die am Aufbau verdienen wollen, zu
unterscheiden.
Ausdruck eines zunehmenden Pessimismus ist
auch, dass sich der Blick einfacher Leute in die Vergangenheit
richtet. Beschied sich der kommunistische Machthaber Mohammed
Nadschibullah nicht mit einer Dreizimmer-Dienstwohnung, fragt man
sich in Kabuls Straßen. Die neuen Regierenden nennen teilweise
ganze Immobilienimperien im In- und Ausland ihr eigen. Und war das
Studium unter den Sowjets nicht kostenlos, während es an der
American University of Kabul 5.000 Dollar pro Jahr kosten soll?
Schon wittern manche, das Land sei zwischen die Zähne
profitgieriger Haie geraten. In einem absurd anmutenden Reflex gilt
der 1996 öffentlich gelynchte Nadschibullah heute in einigen
Kreisen als Volksheld. Auf dem Bazar kann man seine Reden kaufen.
Sein Grab ist zu einer Pilgerstätte geworden. Ein afghanisches
Sprichwort lautet: Es gibt keine schlechten Toten und keine guten
Lebenden.
Dabei hatten sich vor allem die USA durch
ihren überlegen errungenen militärischen Sieg
zunächst viel Respekt verschafft. "Jedoch sind bei der
Bevölkerung die Erwartungen an die Zukunft sehr hoch gesteckt.
Manchen geht es nicht schnell genug", urteilt GTZ-Leiterin
Hayfa.
Auch waren wohl die Vorstellungen, was nach
dem Sturz der Taliban kommen sollte, in Afghanistan andere als im
Ausland. Symbolisch auch hier die Kopftuchdebatte. Das neue
Lebensgefühl Kabuler Frauen äußerte sich nicht
darin, sich baren Hauptes in der Öffentlichkeit zu zeigen, wie
manche in Europa und USA erwartet hatten. Die Kabulerinnen kauften
sich vielmehr Hackenschuhe. Schicke Schuhe hatten die Taliban
Frauen unter Androhung von Prügeln verboten.
"Nachhaltige Entwicklung braucht Jahrzehnte",
mahnt Hayfa. Aber Zeit ist knapp. Laut UNDP gehört Afghanistan
zu den sechs ärmsten Ländern der Welt. "Afghanistan
produziert lediglich Fleisch, Obst, Gemüse, Ziegelsteine und
Opium", rechnet der Mitarbeiter der Humboldt-Universität vor,
"alles andere kommt aus dem Ausland." Die Bevölkerung
wächst schnell. Heute hat Afghanistan 26 Millionen Einwohner,
die es nicht ausreichend ernähren kann. Jede Frau bekommt im
Durchschnitt fünf bis sechs Kinder. Was macht man mit 40
Millionen? Zwei von drei Personen sind Analphabeten, nur jede
zehnte Frau kann lesen und schreiben. In der notleidenden
Peripherie bleibt vielen nur der Drogenhandel. An finanziell
überzeugenden Alternativen mangelt es nach wie vor. Wo die
Großgrundbesitzer Millionäre werden, fällt auch
für Kleinbauern überdurchschnittlich viel ab. Ein anderes
afghanisches Sprichwort lautet: "Wenn man Hunger hat, hat man keine
Religion und kein Gewissen."
Lennart Lehmann ist Islamwissenschaftler und arbeitet als freier
Journalist in Berlin.
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