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Claus Leggewie
Fatale Dialektik der Vorurteile
Ein neuer Anti-Semitismus und alter
Anti-Amerikanismus verschmelzen zum neuen
Anti-Okzidentalismus
Nach den Terroranschlägen
vom 11. September 2001 wurden Amerikaner Opfer jener fatalen
Schuldzuschreibung, die Juden seit Jahrhunderten erfahren: Sie
hätten bekommen, was sie verdienten; eine imperialistische
Macht müsse sich nicht wundern, wenn ihr die Quittung
ausgestellt werde. Das Opfer sei selbst schuld an seiner
Vernichtung, lautete die Kernaussage in der These vom
"eliminatorischen Antisemitismus" (Goldhagen), der in
islamistischen Kreisen offen vertreten wird. "Treibt die Juden ins
Meer" gehört zur Spielart des sekundären Antisemitismus
nach Auschwitz - nach Verwirklichung der Ausrottungsfantasien -,
der Juden und ihre vermeintliche Schutzmacht im Übrigen wegen
Auschwitz ins Visier nimmt, da sie die Welt angeblich zur
Solidarität mit Israel erpressen.
Die Amalgamierung beider Feindbilder zum
"Anti-Okzidentalismus" ist das Neue am neuen Antisemitismus, den
man als Abwehrreaktion auf kulturelle Globalisierung, aber auch als
eine Spielart davon verstehen kann. Schon der christlich gespeiste
Judenhass besaß eine universale Bezugsgröße –
die Konkurrenz der Weltreligionen –, aber Getto isierung und
Pogrome blieben im Rahmen lokaler, traditionsgebundener
Gemeinschaften. Der moderne, säkular und ethno-nationalistisch
ausgerichtete Antisemitismus war pseudowissenschaftlich
begründet und stets gegen ein imaginiertes, konspirativ
tätiges "Weltjudentum" gerichtet, vor dem die von
Modernisierung und Entgrenzung bedrohte "Volksgemeinschaft"
geschützt werden sollte. Nach dem Aufstieg zur führenden
Industrienation und Militärmacht wurden die USA fast
zwangsläufig zum Symbol dieser Globalisierung und der
Finanzkapitalismus ("Wall Street") Projektionsfläche
antijüdischer Stereotypen.
Neu unter den Spielarten von Judenhass ist
mithin nicht die globale Dimension oder die Zuschreibung radikaler
Alterität, auch nicht die Tatsache, dass antisemitische
Einstellungen sich in Krisenzeiten zyklisch erneuern. Bemerkenswert
ist heute vor allem die Symbiose linker und rechter Feindbilder in
transnationalen Bewegungen, die sich kritisch mit der
Globalisierung auseinandersetzen und zum einen Freihandel und
Finanzkapital, zum anderen die Militärpolitik Israels und der
USA ins Visier genommen haben. Als Verbindungsglied dient der
Tiersmondismus (Dritte-Welt-Solidarität), insbesondere der
Bezug auf die islamische Welt, die pauschal als Opfer einer
kollektiven westlichen Aggression angesehen wird.
Antisemitische Stereotypen sind unter
muslimischen Einwanderern in Europa stark verbreitet: in einer
Mischung aus alten, im Koran verankerten Klischees (Juden als
Ungeziefer, Raubtiere, Blutsauger, Kindermörder – als
Weltenherrscher) mit einer mystifizierten Intifada gegen Israel,
dessen Existenzrecht negiert wird. Dabei werden der Holocaust in
der Regel verharmlost oder geleugnet, die Israelis mit Nazis
gleichgesetzt und eine Wiederholung des Massenmordes oft
wörtlich angekündigt. Antisemitische Propaganda wird
verbreitet über einschlägige Schriften (die
berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion" sind in der
arabischen Welt Longseller wie "Mein Kampf") und nationale
TV-Sender (etwa Ramadan-Serien in der Türkei und
Ägypten), die via Satellit in Europa zu empfangen
sind.
Antisemitismus ist Topos einer Kulturkritik,
die eine tiefe Krise der islamischen Zivilisation signalisiert:
Israel gilt als Sinnbild westlicher Werte und Agent der
Erniedrigung des Islams, wie Sayyid Qutb, Ideologe der
Bruderschaften ("Unser Kampf mit den Juden") schon in den
50er-Jahren darlegte, parallel zu einer radikal antiwestlichen
Einstellung, die er bei einem USA-Aufenthalt gewann. Dazu passte
ein frühes Einverständnis zwischen Nationalsozialismus
und Islamismus, personifiziert im Großmufti von Jerusalem,
Amin El-Husseini, auch die Gründer von Baath-Partei und PLO
waren davon beeinflusst. Der Antisemitismus ist eine, wenn nicht
die zentrale Identitätsfigur der muslimischen Welt geblieben,
wie man an der weithin unwidersprochenen Rede des malaysischen
Premiers Mohamad Mahathir auf dem Gipfel der islamischen Staaten im
Oktober 2003 ablesen konnte.
Antijüdische und antiamerikanische Hetze
verbreiten sich global über Al Dschasira und Al Manar und
greifen über auf muslimische Einwanderergemeinschaften. Diese
messen eigene Diskriminierungserfahrungen am Schicksal der Juden in
Europa oder die eigene Opferrolle an der vermeintlichen
Übermacht der Israelis und Amerikaner. Aus dieser Sicht gelten
die Juden als "Tätervolk", was über populäre
Webseiten und Sender sowie über Hasspredigten in
europäischen Moscheen verkündet wird. Mittlerweile hat
sich stellenweise ein antisemitisches Milieu in Vorstädten
herausgebildet, das auch Verbindungen zur rechtsradikalen Szene
unterhält. Nationalpopulistische Bewegungen agieren an dieser
Schnittfläche, indem sie als Opfer einer angeblich von einem
?Meinungskartell“ verordneten, politisch korrekten
"Schweigepflicht" auftreten (der Fall Möllemann oder Hohmann)
und sich dagegen als mutige Tabubrecher aufspielen – eine
gerissene Spekulation auf Meinungskontrolle und Zensur, die
angeblich durch große (das heißt in
jüdisch-amerikanischer Hand befindliche) Medienkonzerne
ausgeübt wird. Das Medium des Antisemitismus ist die
unveröffentlichte Meinung, die über Meinungsführer
im privaten Kreis transportiert wird.
Antisemitismus im islamischen
Einwanderer-Milieu wird in xenophilen und antizionistischen Kreisen
oft bagatellisiert. Beispielhaft war die hinausgezögerte
Veröffentlichung der Studie der Europäischen Stelle zur
Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeitvon 2002/2003,
die den Anstieg antijüdischer Diskriminierungen, Hassreden und
Gewaltakte insbesondere bei Angehörigen der zweiten und
dritten Einwanderergeneration nachweisen konnte.
Die Eskalation des Nahostkonflikts hat die
Gewaltbereitschaft erheblich gesteigert, wobei die jungen Muslime
in Notwehr zu handeln behaupten. Die Anerkennung solcher
Strömungen gilt vielen als inopportun, da sie angeblich die
Integrationsbemühungen der Einwanderer hintertreibe und deren
eigene Diskriminierungserfahrungen relativiere – solche
Schutzbehauptungen kommen auch von Personen, die sich an
geschichtspolitischer Korrektheit in Sachen Holocaust nicht
übertreffen lassen. Die Grenze zum Antisemitismus ist klar
überschritten, wenn noch so strittige israelische
Militäraktionen im Gaza-Streifen oder auf der Westbank mit dem
Völkermord an den Juden gleichgesetzt werden. Neu ist also ein
sich ausbreitender Israel-bezogener Antisemitismus, der auf
bekannte Stereotypen zurückgreift.
Wenn Antisemitismus unter dem Deckmantel des
Antizionismus agiert, wird damit eine respektable geistige Haltung,
die auch unter Juden vor wie nach Gründung Israels vorhanden
ist, ebenso kontaminiert wie seinerzeit der Antifaschismus, der zur
Herrschaftsideologie sozialistischer Repressionsregime verkam. Wenn
Teile der globalisierungskritischen Bewegung –
stellvertretend kann man Attac in Frankreich und Deutschland
anführen, insbesondere der Einfluss linksradikaler
Splittergruppen – Sympathie mit der Intifada erkennen lassen,
kann man dies auf einen älteren "Paradigmenwechsel"
zurückführen: Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 erwies sich
die europäische Linke, für die Solidarität mit den
Überlebenden der NS-Verfolgung selbstverständlich war,
zunehmend Israel-kritisch, antizionistisch und PLO-freundlich.
Diese Haltung wurde durch das Vordringen eines radikalen Islamismus
seit Ende der 70er-Jahre nicht revidiert, sie aktualisierte sich
vielmehr im Vorfeld des Irak-Krieges, etwa in Demonstrationen
für Palästina.
Mitte 2003 wurde zum Boykott israelischer
Waren aufgerufen, und der Tonfall der Aufrufe bewirkte eine Debatte
in der globalisierungskritischen Bewegung. Ein Beispiel dafür
entnehme ich der erwähnten Webseite (muslim-markt.de), die
eine Mischung aus virtuellem Halal-Shopping und
religiös-politischer Indoktrination betreibt. Dort wird unter
dem aus den Anfängen der NS-Judenverfolgung bekannten Motto
"Kauft nicht bei Juden" zur Ablehnung israelischer Produkte
aufgerufen mit der Begründung: "'Israel'" ist ein Pseudostaat,
der auf geraubtem und enteignetem Boden aufgebaut ist. Die
Flüchtlinge dürfen auch 50 Jahre nach ihrer brutalen
Vertreibung nicht in ihre Heimat zurück. Gleichzeitig
übersät 'Israel' die gesamte Region mit Terror und
Schrecken. Die Palästinenser dürfen bis heute nur ein
minderwertiges Dasein von zionistischen Gnaden fristen. Die
Heiligen Stätten der Muslime werden immer wieder
geschändet …" Es wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass sich dieser Boykott nicht gegen die Religion des
Judentums und ihrer Anhänger richtet, sondern "gegen das
Apartheidregime von 'Israel' und dessen Unterstützer, die
mitverantwortlich an der Unterdrückung sind".
Verbraucherboykott, ein effizientes Mittel der
globalisierungskritischen Bewegung (siehe Brent Spar-Kampagne gegen
Shell) wird antizionistisch aufgeladen und missbraucht. Noch
stärker auf antisemitische Stereotypen rekurriert die für
Aufmärsche dieser Kritiker typische Inszenierung von
Feindbildern, die als Puppen oder Transparente mitgeführt
werden und den Charakter von politischem Karneval haben
sollen.
Im Oktober 2003 verabschiedete Attac
Deutschland eine Erklärung zu Antisemitismus und
Nahostkonflikt und wies alle Vorwürfe zurück, aber in
Aufrufen der Globalisierungskritiker wird die begründete
Kritik an Wirkungen des Freihandels und transnationaler
Finanzunternehmen häufig so stark emotionalisiert und
personalisiert, dass sie an die nationalpopulistische Schelte der
"Plutokratie" heranreicht und Anklänge an die eindeutig
antisemitisch kontaminierte Unterscheidung zwischen "raffendem" und
"schaffendem Kapital" nicht verbergen kann. In die
Kapitalismuskritik der Linken sind immer wieder dubiose Affekte
gegen freien Güterverkehr, westliche Zivilisation, universale
Rechte und Demokratie eingeflossen. Ihre Imperialismuskritik
reduziert sich oft auf einen platten, von Vorurteilen durchzogenen
Affekt gegen Amerika als Fast-Food-Nation mit
Cowboy-Mentalität bzw. eine Dämonisierung westlicher
Führer wie Bush, Blair oder Scharon. Hier blüht, wie die
Reaktion auf den 11. September gezeigt hat, der "paranoide Stil der
Politik" (Richard Hofstaedter). Ein rationales Konzept für die
Befriedung ist hier ebenso wenig zu erwarten wie die Anerkennung
der Leitidee der Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens
mit friedlichen Mitteln.
Problematisch ist also nicht allein der in
die globale Anti-Kriegsbewegung eingesickerte Antisemitismus,
sondern auch der ebenso aus dem Lot geratene Anti-Antisemitismus,
der jede Kritik israelischer bzw. amerikanischer Politik oder der
kapitalistischen Globalisierung mit dem Totschlagargument
"antisemitisch" im Keim ersticken will. Dass Antisemitismus und
Anti-amerikanismus sich überlagern und zu einem Syndrom des
Antiokzidentalismus verwachsen sind, liegt nicht nur an der
identischen und volatilen Struktur des zugrunde liegenden
Vorurteils, sondern auch an der seit Ende der 60er-Jahren enger
gewordenen politisch-militärischen Allianz beider Staaten und
– seit dem 11. September – in ihrer engen
Übereinstimmung bei der Terrorbekämpfung, gegen deren
Effektivität und Legitimität man vieles einwenden kann.
Mit anderen Worten: Dass Israel und die USA an Sympathien und "soft
power" eingebüßt haben, liegt jenseits aller hier
dargelegter Ressentiments auch an einer verfehlten Politik, die aus
fadenscheinigen Gründen ignoriert und beschönigt wird.
Anders gesagt: Zum neuen Antisemitismus trägt erstmals auch
die Politik der Stärke des Staates Israel selbst
bei.
Beispiele für die fatale Dialektik von
Antisemitismus und Anti-Antisemitismus kann man bei der Gruppe der
so genannten "Antideutschen" feststellen, die im Sinne Goldhagens
von einer prinzipiell judenfeindlichen Haltung der Bevölkerung
ausgehen und ihr eine Wiederholung des Holocaust zutrauen.
"Antideutsch" war bereits die kategorische Antwort auf die
Wiedervereinigung 1990, da man davon eine Freisetzung deutscher
Großmachtambitionen ("Viertes Reich") erwartete; um dem
vorzubeugen, überwand sich der kleinere Teil der deutschen
Linken zur Anerkennung der westlichen (sprich: amerikanischen)
Hegemonie im politisch-militärischen, aber auch kulturellen
Sinne, und zu einer bedingungslosen Verteidigung Israels, egal,
welche Regierung dort Politik macht.
In dieser Perspektive geht es allein um die
Abwehr eines deutschen Nationalismus, der in der Manier eines
negativen Nationalismus beantwortet wird und in dieser Fixierung
weder für die Lösung des Nahostkonfliktes noch für
die Bekämpfung des Terrorismus einen Gedanken übrig hat.
Schon immer hatte der Antisemitismus einen Bruder namens
Philosemitismus, und ähnlich spiegelbildlich verhalten sich
Antiamerikanismus und Amerikaphilie. Anzutreffen ist diese Haltung
nicht nur in dissidentischen und marginalen Zirkeln der linken
Szene, sondern auch bei einflussreichen Publizisten liberaler
Blätter, die sich allein deswegen für Israel und die USA
einsetzen und alles, was an "Amerikanismus" nach Europa importiert
wird, bekräftigten, weil andere gegen Amerika und Israel sind.
Pikanterweise ist dies in nicht wenigen Fällen nur die
Fortsetzung eines alten Flügelstreits in der radikalen Linken,
aus der nicht wenige "gewendete" Pro-Amerikaner und Philosemiten
stammen. In trotziger Revision ihrer Positionen bekräftigen
sie nun alles, was mit den USA angeblich wesensmäßig
verbunden ist: consumerism, ungezügelter Kapitalismus,
imperiale Republik – ein ähnlich stereotypes Bild wie
der Antiamerikanismus.
Wie zu Zeiten des Kalten Krieges werden im
globalen Antisemitismusstreit Argumente danach gewichtet, ob sie
"dem Feind" dienen könnten. Dabei hat man es heute mit einem
neuen Arrangement antisemitischer Weltbilder im "Antizionismus" und
mit einer Solidaritätserpressung für eine verfehlte
Politik im Namen des Anti-Antisemitismus zu tun. Wenn es bei Attac
antisemitische Ausfälle gab, ist das ernster zu nehmen, als es
die Stellungnahmen der Organisation für gewöhnlich
konzedieren; es darf aber nicht Anlass für eine maßlose
Beschönigung der kapitalistischen Globalisierung werden. Man
kann nur der Forderung Dan Diners zustimmen, "zum einen den
Antisemitismus zu bekämpfen, als ob es den
arabisch-jüdischen, israelisch-palästinensischen Konflikt
nicht gäbe; zum anderen alles zu unternehmen, um eben jenen
Konflikt einer beiden Seiten zuträglichen Lösung
zuzuführen – so, als gäbe es den Antisemitismus
nicht".
Professor Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Direktor
des Zentrums für Medien und Interaktivität,
Universität Gießen.
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