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Peter Heine
Terror - eine moderne Seuche
Islamisten wollen eine globale Scharia
durchsetzen - mit allen Mitteln
Unter Islamismus versteht man gemeinhin die
geistigen und politischen Strömungen in der islamischen Welt,
die alle Phänomene der Säkularisierung ablehnen und die
Anwendung des islamischen Rechts - der Scharia - in Gesellschaften
mit muslimischer Mehrheit fordern. Dabei spielt es keine Rolle, ob
die Trennung von Religion und Staat wie in der laizistischen
Türkei weit fortgeschritten ist oder bestimmte Bereiche des
islamischen Rechts (etwa das Personenstandsrecht in Jordanien,
Israel/Palästina, Libanon) in Kraft sind. Die Anhänger
islamistischer Vorstellungen gehen davon aus, dass die
Implementierung der Scharia alle großen gesellschaftlichen,
politischen und ökonomischen Probleme ihrer Staaten lösen
würde.
Als erste islamistische Organisation werden
in der Regel die Muslimbrüder (Ikhwân al-Muslimîn)
angesehen, 1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna (1906 - 49) in
Ägypten gegründet. Sie haben im Lauf ihrer Geschichte
eine ausgeprägte Ideologie entwickelt. Der Islam ist für
sie vor allem eine rationale Religion. Zugleich sehen sie es als
Aufgabe an, durch persönliches und gemeinschaftliches Handeln
eine Gesellschaft zu schaffen, in der das islamische Recht sich
verwirklicht und allgemeine Gerechtigkeit herrscht. Für die
Muslimbrüder stellt der Islam ein vollkommenes System für
alle Lebenssituationen dar. Er beruht auf der Offenbarung des
Korans und den Weisheiten der Prophetentradition. Er hat
Gültigkeit für alle Zeiten und an allen Orten. Die
Muslimbrüder sprechen von einer "islamischen Ordnung"
(nizâm islâmî). Den Austausch mit
gesellschaftlichen, ökonomischen, vor allem religiösen
und ideologischen Vorstellungen der modernen westlichen Welt lehnen
sie ab. Der Westen ist ein abschreckendes Beispiel für
"gewinnsüchtigen Materialismus, militanten Fanatismus,
verrottete Moral und Imperialismus" (Sayyid Outb).
Vergleichbare Organisationen entstanden
zeitgleich auf dem indischen Subkontinent auf Initiative des
Journalisten Abul-Ala al-Maududi. Die Muslimbrüder
bemühen sich, ihre Vorstellung der gesellschaftlichen Ordnung
in der gesamten islamischen Welt zu verbreiten. Dabei sind sie
nicht ohne Erfolg geblieben. Mit verschiedenen Modifikationen sind
alle heute zu beobachtenden islamistischen Organisationen von den
ideologischen Vorstellungen und praktischen Konzepten der
Muslimbrüder abhängig. Zur Durchsetzung ihrer Ziele haben
sie vor allem in den 50er-Jahren auch vor gewalttätigen
Aktionen nicht zurückgeschreckt. Derzeit verfolgen sie eine
gewaltfreie Politik und versuchen ihre Ziele durch einen "Marsch
durch die Institutionen" zu erreichen. So haben sie sich etwa in
Jordanien an Parlamentswahlen beteiligt und stellen erfolgreich
Kandidaten bei Wahlen für berufsständische Einrichtungen
auf. Einfluss gewinnen sie vor allem dort, wo der Staat sich als
unfähig erweist, seine sozialen und pädagogischen
Aufgaben zu erfüllen. Sie betreiben Krankenhäuser,
Schulen und andere karitative Einrichtungen. Inzwischen sind ihre
Ideen und Methoden in der islamischen Welt wie auch im
europäischen und amerikanischen Minderheitenislam bekannt,
auch wenn sich auf der Grundlage ihrer Ideologie von ihnen
unabhängige Organisationen gebildet haben.
Vor allem in den 70er-Jahren erschienen die
Muslimbrüder insbesondere jungen Leuten der unteren
Mittelschicht, häufig mit einer akademischen Ausbildung in
Natur- oder Ingenieurwissenschaft, als zu etabliert, zu
quietistisch. Sie wollten den islamischen Staat nicht
evolutionär durch eine langsame Veränderung der
Gesellschaft erreichen, sondern durch einen revolutionären
Akt. Der Umsturz sollte durch den Glaubenskampf erfolgen.
Muslimische Gelehrte hatten in den vergangenen 100 Jahren immer
wieder darauf hingewiesen, dass es sich beim Dschihad um einen
Kampf jedes einzelnen gegen die eigenen religiösen und
ethischen Unzulänglichkeiten handele. Der gewalttätige
Dschihad andererseits sei ein rein defensiver Vorgang. Die
Besetzung islamischen Landes durch fremde, nichtislamische
Mächte, wird als Aggression verstanden, gegen die ein
defensiver Dschihad geboten ist. Dabei sind nach Ansicht zumindest
einiger islamischer Gelehrter auch terroristische Methoden
gestattet.
Anders verhält es sich mit der
Bekämpfung von Muslimen. Diese dürfen nach den
Vorschriften des islamischen Rechts gegen Glaubensbrüder
grundsätzlich keinen Dschihad führen. Die radikalen
Muslime lösten diese rechtliche und religiöse Frage auf
eine Weise, wie sie heute von Mitgliedern islamistischer
Terrororganisationen angewandt wird. Man erklärt die
islamischen Staaten zu heidnischen Staaten. Diese Zuordnung wird
begründet mit der Tatsache, dass das islamische Recht dort
keine Gültigkeit habe, der Staat mit nicht-islamischen Staaten
kooperiere, dass im staatlichen Fernsehen unmoralische westliche
Programme gezeigt würden oder in Maschinen staatlicher
Fluggesellschaften Alkohol ausgeschenkt werde. Dabei spielt auch
keine Rolle, dass die politische Führung des Landes aus
Muslimen besteht oder diese die überwiegende Bevölkerung
ausmachen. Da sie dieser Definition folgend in einem
nichtislamischen Staat leben, sind sie keine Muslime, auch wenn sie
sich selbst für solche halten. Gegen diese Staaten muss aus
radikal-islamischer Sicht der Dschihad geführt werden. Dieser
wird mit politischen, vor allem gewalttätigen Mitteln wie
Attentaten, Selbstmordanschlägen sowie quasi-militärische
Operationen geführt.
Entsprechend der Lehre des islamischen
Rechts, dass Kämpfer, die im Dschihad fallen, ohne die
"Schrecken des Grabes" ins Paradies gelangen, wurden
Selbstmordaktionen zu einer häufig praktizierten Kampfform.
Die Aktionen waren aber in der Regel auf das Herkunftsland der
Täter beschränkt, hatten also keinen internationalen
Charakter. Dies gilt auch für die Konfrontation von
islamis-tischen Gruppen in Palästina gegen die israelische
Besatzung oder von islamistischen Aufständischen gegen die
amerikanischen Truppen im Irak. Gleiches gilt für
tschetschenischen Gruppen in ihrem Kampf gegen die russische Armee.
Nach anfänglichen Erfolgen konnten die
Sicherheitsbehörden verschiedener arabischer Staaten die
islamistischen Organisationen weitgehend ausschalten. Grund
dafür war auch, dass diese kaum Rückhalt in der
Bevölkerung fanden. Zu dieser Entwicklung trug auch bei, dass
sie keine konkreten Vorstellungen für die politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in einem
von ihnen geführten islamischen Staat entwickelten. Sie
erwarteten, dass Gott für einen ihm wohlgefälligen Staat
sorgen werde.
Durch einen politisch-militärischen
Vorgang von internationalem Ausmaß veränderte sich das
Ansehen radikal-islamischer Gruppen allerdings erheblich, als 1979
die Rote Armee in Afghanistan einmarschierte, um das kommunistische
Regime gegen muslimische Aufständische zu unterstützen.
Die Invasion wurde als Angriff auf die islamische Welt verstanden,
gegen den sich mit einem Dschihad zur Wehr zu setzen muslimische
Pflicht wurde. Mudschahedin aller islamischen Länder und aus
der Diaspora strömten nach Afghanis-tan, wurden dort
ausgebildet und mit radikal-islamischen Ideologien vertraut
gemacht. Finanziert wurden diese Organisationen vor allem durch
Spenden von Einzelpersonen, aber auch halbstaatlichen und
staatlichen Einrichtungen aus verschiedenen islamischen
Ländern, vor allem aus der Golfregion. Militärische,
logistische und diplomatische Unterstützung erhielten die
Organisationen aber auch durch westliche staatliche Agenturen. So
gelang es den Glaubenskämpfern, die sowjetischen Truppen zum
Rückzug zu zwingen.
Dies wurde in der gesamten islamischen Welt
als der erste Militärerfolg gegen den seit zwei Jahrhunderten
überlegenen Westen angesehen. Afghanistankämpfer gewannen
in ihren Heimatländern enormes Prestige. Die von ihnen
vertretenen Vorstellungen wurden vor allem für junge
Männer attraktiv. Kämpfer, die in ihren
Herkunftsländern staatliche Repressionen fürchten
mussten, nahmen danach teilweise als Legionäre an Konflikten
teil, in die Muslime verwickelt waren, so bei den Kämpfen in
Bosnien, Kaschmir, Tschetschenien oder den südlichen
Philippinen.
Afghanistan blieb, vor allem unter den
Taliban, ein Land, in das es zahlreiche junge Muslime zog, die sich
als Glaubenskämpfer ausbilden lassen wollten.
Es gab verschiedene Organisationen, die hier
Ausbildungs-Camps unterhalten. Die bekannteste ist Al Qaida (Basis)
des saudi-arabischen Millionärs Osama bin Laden. Unter
militärischen oder sicherheitspolitischen Gesichtspunkten
operiert seine Organisation mit modernen und schwer zu
bekämpfenden Methoden. Spezialisten beschreiben die Gruppe als
Netzwerk. Dies ist insofern richtig, als Al Qaida seit der
Niederlage der Taliban offenbar keine strengen Hierarchien mehr
kennt. Man kann vielmehr von mehr oder weniger spontan
zusammengesetzten Aktionsgruppen sprechen, wie sie die verzweigten
Clans oder Stämme der arabischen Halbinsel kennen. Diese
finden sich zusammen für Operationen, auf die sie sich nach
zum Teil langer Diskussion geeinigt haben. Danach lösen sie
sich wieder auf. Vergleichbar gehen die Gruppen von Al Qaida
vor.
Andere Beobachter sind der Meinung, dass bin
Laden moderne westliche Management-Techniken für Aufbau und
Führung seiner Organisation nutzt. Zu diesen gehört ein
hohes Maß an Verantwortungsübertragung und
Übereinstimmung in den Zielen. Von Bedeutung für diese
Gruppen ist ein funktionierendes und abgeschirmtes
Kommunikationssystem. Al Qaida benutzt dafür einerseits
modernste Kommunikationstechnologien, andererseits traditionelle
Methoden wie die Hawala, eine alte Art, finanzielle Mittel ohne
länger aufzubewahrende schriftliche Unterlagen zu
transferieren. Ideologisch sind bin Ladens Äußerungen
wenig originell. Als politisches Nahziel hat er die Vertreibung
amerikanischer Truppen aus Saudi-Arabien ausgerufen. Insofern hat
seine Politik einen regionalen Charakter. Im Gegensatz zu anderen
Organisationen versucht er seine Ziele aber durch Aktionen
außerhalb der Region zu erreichen.
Inzwischen haben sich seine Ziele erweitert.
Nicht zuletzt durch die positiven Reaktionen bei vielen Muslimen,
die den Regimen ihrer Länder kritisch gegenüber stehen,
fühlt er sich berufen, für die gesamte islamische Welt zu
handeln. Zweifellos erhebt er den Anspruch, der unbestrittene
Führer dieser Welt, ein neuer Kalif, zu sein. Dennoch machen
die islamistischen Radikalen und ihre Anhänger nur einen
minimalen Anteil der gesamten muslimischen Bevölkerung
aus.
Professor Peter Heine ist Islamwissenschaftler an der
Humboldt-Universität und Gründungsdirektor des
Geisteswissenschaftlichen Zentrums Moderner Orient zu
Berlin.
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