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Stefan Jost
Eine Vielfalt von Kulturen auf engstem Raum
Die Karibik - Illusionen und Realitäten
einer angeblichen "Traumregion"
Die häufig anzutreffende europäische
Vorstellung von der Karibik - Palmenstrand, blaues Meer und Reggae
- mit einer exotisierenden Verklärung, in der Karibik das
Paradebeispiel einer geografischen Verortung der "Leichtigkeit des
Seins" zu sehen, steht in auffälligem Kontrast zur Kenntnis
der Geschichte und aktueller Probleme dieser rund 40 Millionen
Menschen zählenden Region. Die Autoren des Sammelbandes "Die
Karibik" sehen den Untersuchungsgegenstand demgegenüber
engagiert, aber illusionslos.
Die Karibik ist weder in ihrer
räumlichen noch zeitlichen Dimension exakt einzugrenzen. Sie
definiert sich über ihre innere Heterogenität und ihre
Vielfalt, und nicht über ihre Gemeinsamkeiten - von einem
grundlegenden übergreifenden Umstand abgesehen: Sie ist wie
wohl kaum eine andere Region der Welt eine Schöpfung des
Kolonialismus. Die blutige, menschenverachtende, in
europäische Politik und vor allem Kriege verwobene Geschichte
der Unterdrückung, Ausbeutung und die wechselnden
Abhängigkeiten haben zu bis heute anhaltenden Konsequenzen
geführt.
Nachdem sich Kolumbus, so ein Beitrag in dem
Sammelband, nahezu zwangsläufig über seinen Ankunftsort
irren musste, wurde die Karibik schnell zum Einfallstor in den
südlichen Teil der Neuen Welt, damit aber auch zum
außereuropäischen Schauplatz innereuropäischer
Machtkämpfe, zum Schlachtfeld und Spielball im Aufstieg und
Untergang europäischer Mächte - Spanien, England,
Frankreich, aber auch Dänemark, Niederlande und
Schweden.
Dass in dieser historischen Entwicklung die
Rolle der Piraterie, deren Übergänge zwischen auf private
Rechnung agierenden Piraten, den mit staatlicher Lizenz
operierenden Korsaren und offiziellen Flottenverbänden
durchaus fließend waren, wird anschaulich aufbereitet. Aus
einer französischen Initative entstanden, wurde in der
weiteren Entwicklung in einer Mischung aus Profitgier, Patriotismus
und nicht zuletzt protestantischem Eifer, dem katholischen Spanien
die Vormachtstellung streitig zu machen, die Verlagerung
europäischer Konflikte betrieben.
Zwei Produkte - Kaffee und Zucker -, so ein
Beobachter im Jahre 1773, haben "das Unglück zweier
großer Weltregionen" begründet: "Amerika wurde
entvölkert, weil man Land haben wollte für ihren Anbau,
und Afrika wurde entvölkert, weil man Menschen haben wollte,
die sie anbauten." Gesellschaft und Wirtschaft der Karibik sind -
mit bis zum heutigen Tage anhaltenden Langzeitfolgen - geprägt
von Genozid, Versklavung und weitgehender Monokultur.
Boom der Plantagen
Mit der arbeits- und kostenintensiven
Plantagenökonomie wurde ein agroindustrieller Komplex
geschaffen, der, allerdings ohne jeden integrativen regionalen
Ansatz, die Karibik zu einer der am schnellsten wachsenden Region
machte. Bis heute wird diskutiert, inwieweit dadurch die
Industrialisierung Englands erst ermöglicht und vorangetrieben
wurde.
Zu einem bitteren Menschheitskapitel
zählt in diesem Zusammenhang der Sklavenhandel, ohne den die
Plantagenökonomie nicht möglich gewesen wäre. Bis
zur Abschaffung des Sklavenhandels Mitte des 19. Jahrhunderts
wurden rund zehn Millionen Afrikaner verschleppt. Wie wenig die
Afrikaner selbst im Vergleich zu der nahezu ausgerotteten
indianischen Urbevölkerung als Menschen, sondern als Ware
angesehen wurden, wird durch die Empfehlung von Bartolomé des
las Casas, dem "Apostel der Indianer", klar, der den Sklaveneinsatz
befürwortete, um so die indianische Bevölkerung zu
schützen.
Afrika blieb trotz aller durch viele Prozesse
entstandenen Synkretismen bis heute für die große
Mehrheit der Bevölkerung ein, wenn nicht der
identitätsstiftende Bezugspunkt. Trotz all der Unterworfenheit
und Abhängigkeiten kam es nicht zu einem Modell
europäischer kultureller Hegemonie. Dies dürfte vor allem
darauf zurückzuführen sein, dass die weißen Herren
primär gewinnorientiert und nicht am Aufbau einer
Kolonialgesellschaft interessiert waren. Diese
Gleichgültigkeit ermöglichte den Sklaven trotz aller
Entwurzelung und Unterdrückung einen limitierten
Identitätserhalt durch Festhalten an Traditionen als Form von
Widerstand.
Auch hierin wurzelten die bis 1863 belegbaren
über 250 Sklavenaufstände. Angestoßen durch die
Französische Revolution kam es bereits 1804 nach der ersten
erfolgreichen Sklavenrevolution in Haiti zum ersten
unabhängigen Staat des Subkontinents. Allein Jamaika
verzeichnete im 18. Jahrhundert 19 große
Aufstände.
Die Rückbesinnung auf "Mutter Afrika"
weist jedoch nicht nur rückwärtsgewandte Bezüge,
sondern auch aktuelle Implikationen auf. Dies gilt zum einen
für die beeindruckende kulturelle und religiöse
Vielfalt.
Einen besonderen Beitrag leistet(e) Jamaika
für die historische und politische Bewusstseinsbildung. Es
fing an mit Marcus Garvey und seinem Versuch, mittels einer "Back
to Africa"-Bewegung eine freiwillige Repatriierung nach Afrika ins
Werk zu setzen, bis hin zur Rastafari-Bewegung, einer im vorigen
Jahrhundert entstandenen Protestbewegung gegen die
Unterdrückung durch das westliche System als dem neuen
Babylon, das vor allem durch Bob Marley und den Reggae zu einem
weltweiten Transformator dieser Botschaft wurde. Ergebnis ist, dass
das "politische Gewicht jamaikanischen Einflusses auf die
Afrika-Diskurse in der Diaspora das der geopolitischen Bedeutung
der Karibikinsel um ein Vielfaches (übersteigt)"
(Ziske).
Wie bei Lateinamerika bedarf es auch und
gerade hier eines Blicks auf das Verhältnis zu den USA.
Interventionismus war, mit durchaus unterschiedlicher
Begründung, auf der Grundlage der 1904 erweiterten
Monroe-Doktrin von 1823 Bestandteil der US-Außenpolitik. Dies
galt auch und gerade nach dem "splendid little war" von 1898, in
dem die USA Spanien besiegten, dessen Kolonialherrschaft auf Kuba
beendeten und die Grundlage für ihre bis heute andauernde
Hegemonialstellung in der Region schufen. Nachdem über
Jahrhunderte überwiegend von einer dem Wandel unterworfenen
multizentrischen Orientierung der Karibikstaaten gesprochen werden
konnte, ist die Region, Kuba ausgenommen, trotz unterschiedlicher
politischer Systeme und einer überwiegend spanisch sprechenden
Bevölkerung zu den USA orientiert und in hohem Umfange von
diesen abhängig.
Welches Konglomerat an Spannungen und
Problemen im karibischen Raum bestanden zeigt der Umstand, dass
abgesehen von Bolivien (1952) drei der bedeutendsten und
authentischen Revolutionen Lateinamerikas in dieser Region
stattfanden (Mexico 1910, Kuba 1959 und Nicaragua 1978). Jede war
auf ihre Art von weltgeschichtlicher Bedeutung - sei es durch die
nachhaltige Wirkung und die Jahrzehnte dauernde Umgestaltung eines
Landes, durch langjährige Internationalisierungsversuche
mittels staatlich finanzierten Revolutionsexports, durch ihre
Bedeutung als Schauplatz für
Stellvertreterauseinandersetzungen im Ost-West-Konflikt oder durch
den im Endergebnis etiketthaftem (Miss)brauch von an sich
ernstzunehmenden Ansätzen wie der Theologie der Befreiung.
Nicht zu vergessen eine jeweils sehr spezifische, teilweise bis
heute andauernde Mythenbildung, die umso stärker wirkt und
umso unkritischer aufgenommen wird, je weiter sie vom geografischen
Ursprung entfernt ist.
Von Kuba, dem einzigen der Hegemonialmacht
USA nach wie vor trotzenden sozialistischen Solitär der
Karibik einmal abgesehen, liegen kaum spezifische
Länderstudien der Karibik vor. Jamaika ist eine der Ausnahmen.
Auch wenn politisch deutlich stabiler als andere Karibik-Staaten,
steht Jamaika stellvertretend für viele historische wie
aktuelle Probleme dieser Region. Das politische Institutionensystem
ist am britischen Vorbild orientiert, die Queen ist nach wie vor
Staatsoberhaupt, vertreten durch einen Generalgouverneur. Die
Bevölkerung ist überwiegend afrikanischer Herkunft,
allerdings mit einer Reihe von ethnischen Minderheiten. Mit rund
2,5 Millionen Einwohnern weist Jamaika weltweit die
dritthöchste Quote gewaltsamer Tötungsdelikte in Relation
zur Bevölkerung auf.
Die Karibik insgesamt hat einen beachtlichen
demografischen Wandel erlebt. Allein zwischen 1950 und 2000 hat
sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Die Region steht vor
einer problematischen ökonomischen Zukunft. Mit ihrer kaum
diversifizierten, stark monokulturell ausgerichteten
Wirtschaftsstruktur, geprägt von immer weniger
konkurrenzfähigen Produkten, wenngleich teilweise getragen
durch einen insgesamt stabilen Tourismus, hat sich die Karibik von
einer traditionellen Einwanderer- zu einer
Auswanderungsgesellschaft vor allem in Richtung Europa, USA und
Kanada entwickelt.
In Jamaika beispielsweise erreichen die von
im Ausland lebenden Jamaikanern getätigten Überweisungen
die Höhe der aus dem Tourismus erzielten
Deviseneinnahmen.
War die Karibik, wenngleich abhängig und
ausgebeutet, in der Vergangenheit zumindest in ein
ökonomisches Netzwerk eingebunden, so droht sie in der
heutigen Form der Globalisierung immer stärker aus
übergreifenden Strukturen herauszufallen. Die
sozio-ökonomischen Probleme können durch eine in den
Anfängen steckende regionale Wirtschaftsintegration nicht
aufgefangen werden.
Die Karibik weist eine starke Diversifikation
ihrer ethnosozialen Struktur auf. Zurückzuführen ist dies
auf die drei zentralen Migrationswellen Sklavenhandel,
Kontraktarbeiter und freiwillige, vor allem aus Europa und Asien
stammende Immigranten, die in vielfältigen und sich
überlagernden Prozessen über Jahrhunderte eine
beeindruckende politische, sprachliche, ethnische, religiöse
und kulturelle Vielfalt hervorgebracht haben. In dieser
Heterogenität liegt die wesentliche Ursache dafür, dass
sich die Karibik einer überzeugenden Kulturraum-Definition
widersetzt.
Die Karibik bleibt trotz
interdisziplinärer Annäherungen "ein Widerspruch, eine
Imagination von Einheit, ausgebreitet über eine pulsierende
politische, soziale und kulturelle Heterogenität, deren
räumliche Grenzen unklar und wechselnd sind". Der Ansatz des
Sammelbandes, vor diesem Hintergrund erst gar nicht zu versuchen,
diese Widersprüchlichkeiten aufzulösen, sondern durch
eine Reihe von Einzeluntersuchungen "den Raum in seiner dynamischen
Komponente sichtbar zu machen", ist durchaus richtig.
So interessant die insgesamt zwölf,
wenngleich im einen oder anderen Fall allzu detailverliebten
Beiträge auch sind, so ist doch eine kritische Anmerkung zu
machen. Der im Untertitel zum Ausdruck kommende Anspruch,
Geschichte und Gesellschaft der Karibik bis zum Jahre 2000 zu
beleuchten, wird nicht eingelöst. Regionale
Integrationsansätze werden nur in der Einleitung erwähnt,
die Analyse des Verhältnisses zu den USA endet im Wesentlichen
mit dem Jahre 1934, eine (vergleichende) Analyse politischer
Systeme fehlt ebenso wie die unter verschiedenen Gesichtspunkten
interessante Frage nach dem Demokratiepotenzial. Dennoch: Zum
fundierten Einstieg und einer durch eine gute weiterführende
Bibliografie mögliche Weiterbeschäftigung mit der Karibik
ist dieses Buch sehr zu empfehlen.
Dies gilt deutlich weniger für das
Jamaika-Buch des ehemaligen österreichischen, mit der
Betreuung von Jamaika mitbetrauten Botschafters in Kanada. Das Buch
erhebt, was kein Nachteil sein muss, keinen wissenschaftlichen
Anspruch und bietet sicher im einen oder anderen Fall mehr
Informationen als ein kleiner Reiseführer. Über die
Gewichtung der an sich schon jeweils sehr knappen Kapitel wundert
man sich; so werden dem Sport so viele Seiten wie dem
institutionellen politischen System gewidmet. Als erste
Hinführung zu Jamaika mag das Buch, dem eine Lektorierung sehr
gut getan hätte, angehen, mehr sollte man nicht
erwarten.
Bernd Hausberger / Gerhard Pfeisinger (Hrsg.)
Die Karibik.
Geschichte und Gesellschaft 1492 -
2000.
Edition Weltregionen Band
11.
Promedia Verlag, Wien 2005; 224 S., 24,90
Euro
Wendelin Ettmayer
Jamaika - mehr als Rum und Reggae. Chancen
und Probleme eines Entwicklungslandes.
Trauner Verlag, Linz 2004; 168 S., 14,80
Euro
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