|
![](../../../layout_images/leer.gif) |
Hans-Martin Schönherr-Mann
Nur eine Erinnerung
Neue Bände des
Marxismus-Wörterbuchs
Wozu heute noch ein marxistisches
Wörterbuch? Zweifellos umweht das Unternehmen des linken
Argument Verlags eine gehörige Portion Nostalgie. Denn anstatt
den Marxismus wirklich einer historisch kritischen Betrachtung zu
unterziehen, was allein die auch durch die realpolitischen
Ereignisse überholte theoretische Spreu von erhaltenswerten
Ansätzen und interessanten Perspektive trennen könnte,
konzentrieren sich die Artikel eher darauf, angesichts moderner
Abweichungen an die reine Lehre des Schulgründers zu
erinnern.
Unter dem Stichwort Imperium verteidigt das
Wörterbuch Karl Marx gegen das von Michael Hardt und Antonio
Negri im Jahr 2000 herausgebrachte Manifest "Empire". Dieses
belebte vor allem nach dem 11. September 2001 die
Globalisierungsdebatte, indem es auf marxistische Ansätze
zurückgreift, diese aber mit Theorien von Foucault und Deleuze
weiterdenkt. Der Artikel umreißt knapp aber treffend die
Thesen von Hardt/Negri, um sie dann nicht nur mit der
vielfältigen Kritik zu konfrontieren, der sich die beiden
Autoren ausgesetzt sahen. Vielmehr verweist der Aufsatz darauf,
dass doch Marx im Gegensatz zu manchen landläufigen Meinungen
beinahe das meiste schon gesagt hätte.
Nach Negri/Hardt tritt an die Stelle der
alten, miteinander konkurrierenden imperialistischen Mächte
eine supranationale Macht, nämlich die USA, die versuchen,
einen globalen Rechts- und Friedenszustand herzustellen, in dem sie
selbst eine so dominante wie integrierende Rolle einnehmen. Im
Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung, Marx hätte keine
Theorie der internationalen Beziehungen geschrieben, fänden
sich gerade in seiner "Deutschen Ideologie" viele Ansätze, die
das Geflecht imperialistischer internationaler Beziehungen besser
als Negri/Hardt erklären würden.
Sehr lange Artikel setzen sich mit den
Stichworten herrschende Klasse, herrschaftsfreie Gesellschaft und
Herrschaft auseinander. Zunächst wird Herrschaft im Sinne von
Marx auf die Eigentums- und Produktionsverhältnisse
zurückgeführt. Unter ökonomischen
Ausbeutungsbedingungen müssen die Produzenten unbezahlte
Mehrarbeit leisten, gründen darin letztlich die Herrschafts-
und Knechtschaftsbeziehungen. Im weiteren sucht der Artikel nach
einer Definition von Herrschaft, die sich als institutionalisierte
asymmetrische Machtstruktur einer hierarchischen Ordnung
präsentiert, die Marx primär ökonomisch
begründet.
Doch der Artikel greift auch auf Moses
zurück, auf Aristoteles, auf Max Weber und Hannah Arendt. Aber
die historische Betrachtung lenkt über die
Frühsozialisten den Blick wieder zu Marx und Engels, denen
allein sechs Seiten gewidmet werden - durchaus brauchbare
Darstellungen. Darüber hinaus gelangt der Weg natürlich
zu Lenin, Rosa Luxemburg, schließlich zu Gramsci und
Althusser, um dann ausführlich auf die linken Diskussionen der
68er-Zeit und auf die Debatten um den Eurokommunismus
einzugehen.
Man vergleiche das Wörterbuch mit
anderen Lexika: Im "Handbuch philosophischer Grundbegriffe" von
1973 wird das Thema Herrschaft längst nicht so
ausführlich abgehandelt. Zunächst geht es um das
Phänomen der Anerkennung von Herrschaft, dann um die damit
verbundene Entfremdung, die Fragwürdigkeit des Begriffs selbst
und die mit Herrschaft sich immer stellende Frage der Freiheit und
der Autonomie. Die von Jürgen Mittelstraß 1984
herausgegebene "Enzyklopädie Philosophie und
Wissenschaftstheorie" erläutert Herrschaft in erster Linie aus
der Perspektive Max Webers und der Frage, wie und warum einem
Befehl gehorcht wird.
Einen breiten Raum nimmt im
Marxismus-Wörterbuch das Thema Individuum ein. Verschiedene
Artikel widmen sich den Stichworten Individualismus,
Individualität, individuelle Reproduktion und Individuum. Im
Vergleich dazu kennt das Handbuch philosophischer Grundbegriffe nur
das Stichwort Individuum, während die "Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie" daneben auch die Stichworte
Individualethik, methodologischer Individualismus,
Individualität enthält.
Das Wörterbuch führt das Individuum
zunächst - im Anschluss an Marx - im Gegensatz zum
gesellschaftlich Allgemeinen von Kapital und Arbeit ein: Der
Einzelne verliert zunehmend seinen Bezug zu den gesellschaftlichen
Kollektiven und präsentiert sich als atomisiertes Subjekt, das
letztlich seinen Weltbezug und seine Einbindung in die Gemeinschaft
zurückerobern muss.
Natürlich erläutert der Artikel
auch den historischen Werdegang des Begriffs von der griechischen
Antike, über die Aufklärung, um schließlich in die
genauere Betrachtung des jungen Marx einzusteigen: Der Gegensatz
von Individuum, Staat und Gesellschaft, der ausführlich im
Sinne der marxistischen Ökonomie von
Ausbeutungsverhältnissen erläutert wird, gipfelt demnach
im Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der nach Marx erst die
individuelle Entfaltung aller Menschen möglich werden
soll.
Die neomarxistische Debatte verläuft zu
Jürgen Habermas' kommunikativem Handeln, das die
postkommunistisch längst verflossene Solidarität
wenigstens ansatzweise retten soll. Damit wird der Niedergang
marxistischen Denkens in den Individualisierungsprozessen der
Gegenwart nicht übergangen, aber vor der Überhöhung
des Individuums gewarnt und die Aktualität des jungen Marx
beschworen, der die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv
bereits adäquat erkannt habe.
Natürlich enthält jeder Artikel
eine ausführliche und nützliche Bibliografie und ein
Verzeichnis von benachbarten Stichworten. War der Marxismus eine
der großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, so hilft
das Wörterbuch, ihn nach seinem Ende aus sich selbst heraus zu
verstehen. Nicht dass es dem Verständnis des jeweiligen Themas
nicht förderlich wäre: Doch der postideologischen Welt
der Gegenwart entspricht wohl eher Max Webers Postulat der
wissenschaftlichen Sachlichkeit und weniger der Blick eines
bestimmten Weltbildes.
Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.)
Historisch-Kritisches Wörterbuch des
Marxismus.
Argument Verlag, Hamburg 2004/2005; Band
6/I Hegemonie bis Imperialismus, 864 Spalten, 79,- Euro; Bd. 6/II
Imperium bis Justiz, 899 Spalten,79,- Euro
Zurück zur Übersicht
|