Andrea Dunai
Bunte Gedächtniskulturen
Wie sich Deutsche, Tschechen und Slowaken an
ihre Geschichte erinnern
Die Debatte um ein angemessenes
Erinnern an die Vertreibungen und riesigen
Bevölkerungsströme in Mitteleuropa, die der Zweite
Weltkrieg in Gang gesetzt hat, zeigt: Eine gemeinsame
"Erinnerungskultur" zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken ist
ein hochsensibles Terrain und auch 60 Jahre danach von damaligen
Befindlichkeiten durchsetzt. Doch die Erinnerung an jene Epoche des
20. Jahrhunderts lassen sich nicht auf diesen einen Aspekt
reduzieren, wie es jüngste Diskussionen in der Bundsrepublik
manchmal erscheinen lassen. Das Buch "Diktatur-Krieg-Vertreibung"
vermittelt wertvolle Einblicke in eine über nationale Grenzen
hinausgehende Bewältigung der Vergangenheit.
Der Begriff "Erinnerungskultur" taucht im
heutigen öffentlichen Diskurs häufig auf. Publizisten und
Forscher stellen immer wieder die Frage, wie und warum sich ihre
Vorgänger an die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg erinnert
haben.
So entsteht zweifelsohne ein buntes Bild,
wenn die 60-jährige Evolution der Gedächtniskulturen
gleich mehrerer Länder nachgezeichnet wird, wie dies im
Essayband "Diktatur-Krieg-Vertreibung" geschieht. Als Christoph
Cornelißen, Roman Holec und Jiri Pe¨ek nach einer Tagung
in Brünn im März 2001 die Erinnerungskulturen des Raumes
zwischen der ehemaligen UdSSR und der Bundesrepublik zu ihrem
Forschungsgegenstand wählten, wussten sie noch nicht, wie
stark die Dynamik des historischen Denkens, vor allem in den
Ländern des einstigen Ostblocks, in diese Richtung hinweisen
würde.
Nach der Wende schien in allen betreffenden
Staaten die nahe kommunistische Vergangenheit den Diskurs zu
beherrschen. Erst einige Jahre später zeigte sich, dass die
Ablehnung der kommunistischen Diktatur als alleinige
Legitimationsgrundlage für die neuen, demokratischen
Nationalstaaten nicht ausreichte.
In eindrucksvoller Weise zeigt der Aufsatz
von Jürgen Danyel die entsprechende Entwicklung des
historischen Bewusstseins in der DDR, während K. Erik Franzen
die Politik der bundesdeutschen Vertriebenenverbände und
Andreas Langenohl die Veränderung des Bildes des Großen
Vaterländischen Krieges im Russland der 90er-Jahre untersucht.
Ein Essay von Milan Drápala beschäftigt sich mit den
Bestrebungen der – damals noch existierenden –
bürgerlichen Opposition in der Tschechoslowakei zwischen 1945
und 1948, den Hass auf alles Deutsche für die Etablierung
einer kommunistischen Diktatur zu instrumentalisieren. Eher
kulturpolitisch bedeutsam war demgegenüber das Phänomen
der "Entheroisierung" des antifaschistischen Widerstandes in der
tschechischen und slowakischen Filmkunst zur Blütezeit der
?neuen Welle“.
Die slowakische Variante der
Erinnerungskultur bietet ein noch widersprüchlicheres Bild.
Einerseits galt der slowakische Nationalaufstand gegen die
deutschen Besatzer nach wie vor als eine in Hunderten von
Denkmälern verewigte historische Tat. Andererseits mehrten
sich vor allem in der zweiten Hälfte der 90er- Jahre die
Versuche, den Quislingstaat von Tiso samt seiner Protagonisten zu
rehabilitieren.
Auf der anderen Seite zeigten sich in
Deutschland nach der Wiedervereinigung Tendenzen, die
kommunistische Vergangenheit des Ostteils des Landes in einer Art
Rivalitätsverhältnis zum Holocaust zu thematisieren.
Obwohl dieses Vorhaben schließlich scheiterte, zeigt die
neueste Debatte um die Vertreibungen Deutscher nach 1945, dass auch
diese Frage nicht genügend reflektiert wurde und daher Stoff
für neue Irritationen bietet. Während einerseits im
Westen eine Gedenkstätte für die Opfer der Vertreibungen
gefordert wird, kam es im Osten zu einem regelrechten
"Denkmalkrieg" – Erinnerungen an zwei Weltkriege, diametral
gegensätzliche Systeme und Nationalstaaten schienen in einem
weltanschaulichen Wirrwarr aufzugehen. Dieser Trend war um so
grotesker, da die meisten der betroffenen Oststaaten in der
Ökonomie und Politik eindeutig den Weg in die Europäische
Union suchten und mehrheitlich auch gefunden haben.
In der Artikelsammlung der
Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission
– selbst die Existenz von derartigen Gremien zeugt von einem
gewachsenen Verantwortungsgefühl für die Zukunft –
finden sich Beiträge von 23 Wissenschaftlern. Bei allen
Versuchen, sie thematisch zu ordnen und in einen kausalen
Zusammenhang zu stellen, haftet der Arbeit etwas Fragmentarisches
an. Dies geben auch einige Autoren zu. So wünscht Peter
Haslinger "eine europäische Ausweitung der laufenden Debatten
(...), weil man nur so den besonderen Konstellationen Mittel- und
Ostmitteleuropas in Vergangenheit und Gegenwart gerecht werden
könne". In der Tat: Dieselben Prozesse, die zum Zerfall der
ersten Tschechoslowakischen Republik führten, verdienen einen
Vergleich mit denjenigen in Jugoslawien. Und die Entscheidungen,
aufgrund derer die mit der NS-Diktatur kollaborierenden Staaten
Slowakei und Kroatien entstanden waren, leiteten territoriale
Veränderungen zwischen Ungarn und dessen Nachbarstaaten ein.
Die von den Alliierten initiierte Vertreibungspolitik und der
Bevölkerungsaustausch nach 1945 gehören bis heute zum
Diskurs innerhalb und zwischen den Reformstaaten Ost- und
Mitteleuropas.
Im Grunde schwebt uns als Utopie eine
gesamteuropäische oder zumindest regionale
Historikerkommission vor, welche diese Fragen nun in einer
breiteren Perspektive und zukunftsorientiert erörtern soll.
Wir wissen wohl, dass die Geschichte nicht von Historikern gemacht
wird, aber sie können ihre Kompetenz für den Abbau neuer
Feindbilder und falscher Mythen, für ein besseres
Verständnis der eigenen Vergangenheit einsetzen.
Es ist lobenswert, mit welchem akribischen
Fleiß die Autoren ihre Themen bearbeitet haben und nicht nur
über ihre Forschungsergebnisse berichten, sondern aus den
Auswertungen ihrer früheren oder eben zeitgenössischen
Kollegen schöpfen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann
man dieses Buch daher durchaus als gelungen charakterisieren.
Außerdem haben die Leser die Möglichkeit, auf
weiterführende Quellen zuzugreifen.
Den Herausgebern des Bandes, Christoph
Cornelißen, Roman Holec und Jiri Pe¨ek ist es gelungen,
ihr Vorhaben und ihr definiertes Ziel zu erfüllen. Die
Betrachtungen einzelner Autoren geben tatsächlich zahlreiche
"Anstöße für die weitere Vertiefung entsprechender
Fragestellungen".
Die meisten Texte setzen fundierte
Vorkenntnisse oder zumindest großes Interesse an Details
voraus. Leser mit geringeren Ansprüchen können einfach
die Reihenfolge ändern und das Studieren in den klein
gedruckten Hinweisen beginnen. Außer ihnen werden die
Geschichtswissenschaft und andere Disziplinen nützliche und
vor allem weiterführende Impulse finden.
Christoph Cornelißen, Roman Holec und Jiri Pe¨ek
(Hrsg.)
Diktatur-Krieg-Vertreibung.
Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland
seit 1945.
Klartext Verlag, Essen 2005; 500 S., 29,90
Euro
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