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Susanne Balthasar
Kein sattes Land
Immer mehr Familien langt ihr monatliches Budget
nicht - aber es mangelt nicht an Geld allein
Gelegentlich ist Frau Loeser schon vor dem
Monatsende blank. Das Portemonnaie ist leer, am EC-Automaten hilft
das Drücken der Bearbeitungstaste auch nichts mehr, und das
Sparschwein wurde schon beim letzten Mal ausgeräumt. Ebbe.
Keine Lebensmittel im Kühlschrank. Nur ein paar alte Tuben
liegen vergessen im Türregal. Der Einkauf von Filzstiften
für die Kinder ist zurückgestellt, die Bezahlung der
Telefonrechnung wird noch mal verschoben. Auch das süße
Leben hat Pause: Cola, Fertigpuddings und Zuckerwatte - nun sind
sie gestrichen.
Aber Frau Loeser braucht auch nicht viel,
sagt sie. Zerbrechlich wie ein Mädchen sitzt die
Mittdreißigerin in ihrem grauen XL-Shirt auf dem formlosen
Sofa. Sie atmet den Rauch aus, um kurz darauf wieder an den
"Stickis" zu ziehen. Von denen qualmt sie eine nach der anderen.
Aber sonst? "Mir macht es nichts aus, nichts zu essen", sagt sie
und ascht in die granitschwere Steinschale. Das soll was
heißen. "Früher war sie ja verwöhnt", neckt sie Olaf
Martinek, ihr Lebensgefährte, arbeitsloser Tierpfleger,
arbeitsloser Lagerist und arbeitsloser Wachmann. Zu Hause bei
Loesers gab's Frischwurst vom Metzger. Jetzt kommt die Salami aus
der Plastikfolie auf den Tisch. Beim Discounter ist alles ein paar
Cent billiger.
Jeden Monat beginnt der Kreislauf von Neuem -
das Warten. Das Warten auf die Sozialhilfe, das Kindergeld oder das
Wohngeld. Wenn dann endlich wieder etwas auf dem Konto ist, wird
eingekauft. Es geht die Straße runter, raus aus der
Plattenbausiedlung zu dem gartencentergroßen Netto an der
Durchfahrtsstraße. "Mir macht das Hungern wie gesagt ja nix.
Aber die Tiere und die Kinder, die sollen immer was haben." Zwei
kleine Söhne und drei Tiere - das macht fünf
Mäuler.
Ein anderer Weg, den die Loesers oft gehen,
führt sie zu einem grauen Plattenbau der evangelischen
Freikirche. Das Haus liegt in einer toten Straße in
Berlin-Hellersdorf. Gegen Mittag lärmen hier täglich 150
Kinder, rennen über den abgetretenen Linoleumboden die Treppe
runter in den Speisesaal. Die Loesers sind auch hierher gekommen,
wie immer in den letzten Tagen. Hier im Untergeschoss gibt es
Kartoffeln und Porree, Spinat und Spiegelei oder Erbsensuppe. Die
Arche ist ein gemeinnütziger Verein, dessen Träger das
"Christliche Kinder- und Jugendwerk" ist. Die Arche finanziert sich
zu über 95 Prozent aus Spenden. Jeder der bedürftig ist,
kann hier warm zu Mittag essen. "Billig und nahrhaft soll es sein",
sagt Peter, der Koch, und rührt in dem waschtrommelgroßen
Bottich mit Hackepeter. Heute gibt es Nudeln mit Hackfleischsauce.
An den Kiefernholztischen sitzen die Großen und Kleinen, in
der Luft wabernder Bolognesedampf und Stimmen - die Kantine der
armen Kinder brummt. Der Mangel selbst versteckt sich. Klamotten
aus der Kleidersammlung hat hier niemand an. Streetwearhosen,
Kapuzenpullis und tadellose Turnschuhe sind angesagt. Sie sehen
zwar alle nach Billigkaufhaus aus, sind aber neu. Außerdem
sind ein Fernsehteam und die Reporterin eines Nachrichtenmagazins
da. Seit einem halben Jahr kommen ständig Journalisten, dabei
gibt es die Arche schon seit zehn Jahren. Aber erst seit Hartz IV
die Menschen beschäftigt, schockt die Einrichtung die
Öffentlichkeit: Gibt es Kinder in Deutschland, die nicht genug
zu essen bekommen?
"Ja", sagt Bernd Siggelkow ohne Umschweife.
Der Pastor der evangelischen Freikirche von Hellersdorf sitzt in
seinem Büro auf der Couch, aber viel Zeit hat er nicht - das
Telefon klingelt im Minutentakt. Gerade hat Siggelkow die erste
Arche-Filiale in Berlin-Friedrichshain eingerichtet. Am Essen fehlt
es in der ganzen Stadt. Der Pastor hat das eher zufällig
gemerkt. Vor zehn Jahren kam bei einer Umfrage heraus, dass ein
Drittel der Kinder nicht regelmäßig ein warmes
Mittagessen bekommt, seither gibt es die Arche. Deutschland ist
kein sattes Land.
Die Republik verarmt. Laut einer OECD-Studie
leben in Deutschland 10,2 Prozent der Kinder in Armut, das sind 1,4
Millionen. Seit den 90er-Jahren ist ihre Zahl um 2,7 Prozent
gewachsen. Während die Gründe für diese Entwicklung
sattsam bekannt sind, hapert es an Schlussfolgerungen. Bernd
Siggelkow jedenfalls hat dem Hunger den Kampf angesagt: "Wir wollen
ganz Deutschland mit Archen überziehen." Täglich kommen
in Hellersdorf Anfragen aus anderen deutschen Städten, auch im
reichen München sind die hungernden Kinder den Bürgern
aufgefallen. Bernd Siggelkow sagt: "Es sind Privatleute, die das
Problem sehen. Politiker melden sich nicht." Offiziell haben
Arbeitslosengeld und Sozialhilfe die Armut schließlich
abgeschafft. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Weniger Geld und
mehr Eigenverantwortung, damit sind viele
überfordert.
Birgit Loeser sitzt mit ihrer Freundin am
Tisch und redet übers Geld. Das heißt, eigentlich reden
sie über Hartz. 781,95 "Hartz-Euro" bekomme sie jetzt,
erzählt Birgit Loeser, vorher waren es 659 Euro. Ja, das sei
zwar mehr, sagt sie, aber lieber sei ihr die alte Regelung gewesen,
als sie noch einen neuen Tisch oder Kochtopf beim Amt beantragen
konnte. Dem Amt geht das Geld wenigstens nicht aus. Zeit,
Anträge zu stellen, hat sie als Langzeitarbeitslose ja genug.
Geld eigentlich auch. Oder sind fast 800 Euro nicht
ausreichend?
"Geld", sagt Pastor Siggelkow, "ist nicht
allein die Ursache." Er kennt sie alle, die Gründe, weshalb
die Menschen irgendwann mit einem Kind an der Hand vor der
Glastür der Arche stehen. Erst schämen sie sich, dass sie
da sind, aber dann erzählen sie. Der Pastor hört die
Geschichten der allein erziehenden Mütter, denen der Vater
keinen Unterhalt zahlt. Bei manchen Eltern bleiben die
Sozialleistungen für ein paar Monate aus, oder sie bekommen
gar nichts vom Staat, andere arbeiten und haben doch nicht genug
zum Leben. Häufig aber steht hinter dem wirtschaftlichen
Desaster auch die Unfähigkeit, den Überblick über
das bisschen Geld zu behalten.
Damit haben auch Birgit Loeser und Olaf
Martinek zu tun. Sie selber zählen sich eher zu den
Überblickern. Sie können aus dem Stand und auf den Cent
genau sagen, wie viel Sozialhilfe sie bekommen, wie viel
Kindergeld, und was die Versicherungen exakt kosten. Und wenn Herr
Martinek darüber doziert, warum es sich nicht rechnet, dass
sie beiden in einer Wohnung leben, oder wie viel er verdienen
müsste, damit am Monatsende mehr als die Sozialhilfe
herausspringt, dann könnte man meinen, dass er das wild
wuchernde Regelwerk des Staates kennt wie ein Angesteller des
Arbeitsamts. Bis er dann vorrechnet, warum das mit dem Geld nicht
klappen kann. Er nimmt den Ordner mit den Unterlagen seiner
Lebensgefährtin aus dem Wohnzimmerschrank: "Sehen sie selbst."
312, 95 Euro stehen Frau Loeser laut Sozialamt für die Miete
zu, sie zahlt aber 435,75 Euro. Für 75 Quadratmeter in einem
Plattenbau am Rande von Berlin - wo soll man Bitteschön noch
billiger wohnen? Im Badezimmer, das klein wie eine Besenkammer ist,
kann man sich die Hände waschen, die Waschmaschine abstellen,
muss man die Schmutzwäsche sortieren. Die abwaschbare
Mauertapete ist porös, die Auslegware zertreten. Manches hat
Herr Martinek schon ausgebessert und nachgestrichen, aber selbst
renovieren kostet schließlich auch. Und dann bricht seine
Beweisführung auch schon wieder zusammen. Die angemessene
Miete vom Sozialamt ist kalt angesetzt, natürlich werden die
Nebenkosten auch bezahlt, so können sie die Miete locker
bezahlen. "Naja", sagt Herr Martinek, und klappt den Ordner wieder
zu. Falsch gerechnet, das kann passieren. Mit dem Geld jedenfalls
haut's vorne und hinten nicht hin. Warum, das wissen die beiden
auch nicht. Würden sie besser zurecht kommen, wenn sie mehr
Geld bekämen? "Nein", sagt Birgit Loeser, "es ist doch immer
zu wenig."
Armut hat es immer gegeben. Früher
sagten die sozial Schwachen: Meinen Kindern soll es einmal besser
gehen, und das haben viele auch geschafft. Mittlerweile ist die
Tugend des Sparens aus der Mode gekommen. Geld in den Händen
haben, bedeutet jetzt konsumieren - die Zukunft ist keine reale
Größe mehr. Die Armut wird in vielen Familien wie ein
altes Erbstück von einer Generation zur nächsten weiter
gegeben. Es gibt mittlerweile Sozialhilfeempfänger in der
dritten Generation.
Auch Herr Martinek kommt aus einer armen
Familie. Wenn er rauchend neben Frau Loeser auf dem bunt
gemusterten Sofa sitzt, das zwar nicht schön aber bequem ist,
und sich die beiden über ihren echten Filterkaffee freuen,
dann sieht es so aus, als hätten sie es sich in ihrer Armut
gemütlich gemacht. Olaf Martinek empfindet sich auch nicht als
arm: "Einen gewissen Luxusstandard versuchen wir zu halten." Und
meint die monatliche Pre-Paid-Handykarte für zehn Euro. Und
dann gehe man mit den Kindern öfter in den Tierpark,
ergänzt Frau Loeser. Ist das zu viel? Sollten sie sich das
auch sparen? Die Tiere abschaffen? Aufhören die Stickis zu
rauchen? Ach, sagt Frau Loeser, ein Laster muss man doch haben.
Herr Martinek ergänzt: "Ich sauf schon nicht mehr."
Bernd Siggelkow spricht von einer umfassenden
Hoffnungslosigkeit. Die Hoffnungslosigkeit der Armen, jemals aus
dem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Armut heraus zu kommen.
Die Spirale aus nicht gemachtem Hauptschulabschluss, fehlender
Berufsausbildung, Langzeitarbeitslosigkeit und
übersättigtem Arbeitsmarkt dreht sich den Menschen wie
ein Strick um den Hals. Da bleibt dann nichts mehr außer
Frust, Fernseher und Flasche. In den leeren Tagen lösen sich
Verantwortlichkeiten auf, gemeinsame Essenszeiten ersetzt der
Kühlschrank als individuelle Selbstversorgungseinrichtung, die
bei Geldmangel geschlossen bleibt. Daneben stehen hungrige Kinder.
Symptom eines Phänomens, das Jugendhelfer, Psychologen, Lehrer
und Sozialarbeiter seit den 90er-Jahren zunehmend beobachten: Das
Verschwinden der Familienstruktur, die tradierten Gesetze sind
nicht mehr gültig, die tragenden Bindungen der Mitglieder
beginnen zu bröckeln. Selbstverständlichkeiten, wie Zeit
mit den eigenen Kinder zu verbringen oder mittags den Tisch zu
decken, sind nicht mehr selbstverständlich. Dabei spielt neben
der nicht gelebten Selbstverantwortung auch die Zersetzung der
äußeren Struktur der Keimzelle eine Rolle. Ihre
Aufspaltung in Scheidungskinder und Lebensabschnittseltern, hat
inzwischen das Innere erreicht und die Zuständigkeiten
verwischt.
Die Folge sind Kinder, die entwedern hungern
oder nur Süßigkeiten essen, Kinder die zu dick oder
unterernährt oder einfach ungesund ernährt sind. Kinder,
die nicht nur materiell, sondern auch emotional verwahrlost sind.
Kinder, die nicht mehr kommunizieren können oder motorisch
gestört sind, keine Zeitstrukturen mehr kennen und keine
Konflikte austragen können. Deshalb versucht Siggelkow in der
Arche nicht nur die Mägen, sondern auch die Seelen zu
füllen. "Viele Kinder haben überhaupt kein
Selbstwertgefühl", sagt der Pastor, und bietet ihnen nach dem
Essen auch Freizeitgestaltung an: Tischtennisspielen, malen, mit
anderen Menschen zusammen sein. "Wir bilden die
Persönlichkeiten heran", sagt er. Eine Aufgabe, der viele
Eltern nicht mehr gewachsen oder der sie sich gar nicht bewusst
sind.
Unterm Strich bleibt für die Kinder
nicht viel mehr als Hoffnungslosigkeit. Als Ursache macht Bernd
Siggelkow nicht nur individuelles, sondern auch gesellschaftliches
Versagen aus: "Seit Jahren stärkt die Politik die Familie
nicht mehr als Mittelpunkt der Gesellschaft. Von Kindern wird in
den Nachrichten ein ausschließlich negatives Bild vermittelt:
Sie sind dumm, sie sind dick, sie sind arm, sie sind
gewalttätig. Wir sehen in unseren Kindern nicht die
Zukunft."
Birgit Loeser dagegen sieht nur für ihre
Kinder eine Zukunft. Für sich selber hat sie keine
Wünsche, "aber die Kinder sollen einen guten Abschluss
machen." Viel Bildung gleich ein guter Abschluss gleich ein guter
Job gleich eine gesicherte Zukunft. Zu dem Ergebnis kommt auch
Siggelkow: Bildung sei der einzige Ausweg aus der Armutsfalle. Olaf
Martinek nickt. Stolz erzählt er von dem Bildungsguthaben, das
ein Verwandter für zwei seiner Kinder angelegt hat. Die
Schulbücher sind gesichert. "Damit die Kinder eine gute
Ausbildung bekommen", sagt Herr Martinek, und freut sich, über
den Vorsprung, den nun zwei seiner elf Kinder haben. Wenn nicht
jemand anders nachgeholfen hätte, dann hätte in der
Familie Martinek/Loeser am Ende wohl auch gelegentlich das Geld
für die Schulbücher gefehlt.
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