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Helmut Merschmann
Auf dem Weg zum Kulturgut wie die Grimmschen
Märchen
Die Massaker von Erfurt, Littleton und Columbine
haben Computerspiele in Verruf gebracht. Zu Recht?
Computerspiele sind unter Jugendlichen angesagt. Zur Spielemesse
Games Convention in Leipzig kamen Ende August erneut über
130.000 jugendliche Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet. Knapp
200 neue Computer- und Konsolenspiele wurden dort vorgestellt,
davon 98 Weltpremieren. Die Branche ist in Hochstimmung: Games sind
zum Teil des Lifestyles von Jugendlichen geworden, die ihr
Taschengeld zunehmend auch für mobile Spiele auf dem Handy
opfern. Entsprechend gut steht die Spiele-Industrie da.
Wachstumsraten von mehr als 15 Prozent im Jahr kann kaum eine
andere Branche vorweisen. Alles wäre so schön, gäbe
es nicht ein klitzekleines Problem: den schlechten Leumund.
Die Massaker von Erfurt, Littleton und Columbine haben
Computerspiele nachhaltig in Verruf gebracht. Die dort Amok
laufenden Schüler waren allesamt intensive Computerspieler -
Wasser auf die Mühlen radikaler Spielekritiker. Bereits 1999
sprach der amerikanische Militärpsychologe Colonel Dave
Grossman von einer "jahrelangen Konditionierung und Brutalisierung
durch Training mit Gewaltvideospielen wie ,Doom' und ,Quake'". Und
2002 war in einem FAZ-Artikel über den Erfurter
Selbstmordattentäter von einem "Handlungscode für den
Amoklauf" und von "Software für das Massaker" die Rede. Dabei
ist seinerzeit selbst die Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Medien, verantwortlich für die
kritische Überprüfung von Computerspielen, nicht so weit
gegangen und hatte sich gegen eine Indizierung des inkriminierten
Spiels "Counterstrike" ausgesprochen.
Die Diskussion um eine Indizierung von Computerspielen begann
bereits 1976 mit dem Spiel "Death Race". Darin hatte der Spieler
mit dem Auto eine Stadt zu durchqueren und dabei möglichst
viele Fußgänger zu überfahren. Der damaligen Technik
geschuldet waren die Passanten allerdings weit davon entfernt,
realistisch zu wirken. Genauso wie die Autos bestanden sie aus
plakativen, einfarbigen Icons. Dennoch empfanden die
US-Prüfbehörden "Death Race" als amoralischen Angriff auf
das friedvolle Miteinander und befürchteten eine Nachahmung
des Dargestellten in der Realität. Das Rennspiel gelangte auf
den Index und wurde aus dem Verkehr gezogen.
Seit dieser Zeit tobt ein Streit zwischen Spielegegnern und
-befürwortern. Wissenschaftliche Studien, die sich mit der
Wirkung von Games auf den Spieler befassen, stützen mal die
eine, mal die andere Seite. Erst kürzlich kam eine
Untersuchung der katholischen Saint Leo University im
amerikanischen Florida zu dem Schluss, dass brutale Spiele - im
Jargon "Ballerspiele" oder "Shooter" genannt - aggressives
Verhalten vor allem unter männlichen Spielern fördern
können. Und zwar besonders, wenn Games nur für kurze Zeit
benutzt werden. Im März dagegen zog eine Studie der
Ruhr-Universität Bochum ein entgegengesetztes Fazit: Demnach
können Computerspiele Heranwachsende im Umgang mit Problemen
durchaus unterstützen. Denn sie organisieren Macht- und
Kontrollgelüste und trainieren objektivierendes Verhalten ein,
indem sie den Spieler zwingen, eben kein schlechter Verlierer zu
sein. Wieder eine andere Studie bestätigt, dass Computerspiele
das Koordinationsvermögen fördern. Regelmäßig
spielende Chirurgen sollen signifikant weniger Fehler bei der OP
machen.
Der Streit ist wohl nicht ganz einfach zu schlichten. Zumindest
aber sollte man Computerspiele nicht über einen Kamm scheren.
Genres wie Strategie- und Rollenspiele funktionieren vollkommen
anders als Shooter. In Spielen wie "Die Sims" oder "Die Siedler"
müssen komplette Welten nachgebildet und das soziale Verhalten
der Figuren koordiniert werden. "Counterstrike" dagegen basiert
tatsächlich nur auf dem Wegballern von Spielegegnern. Das
Alter der Spieler spielt hier eine große Rolle. Und aus diesem
Grund ist 1994 die Unterhaltungssoftware-Selbstkontrolle (USK)
gegründet worden, zu deren Aufgaben es gehört,
Altersfreigaben zu formulieren.
Auf einer Tagung über Computerspiele am Dresdener
Hygienemuseum konstatierte Ulrike Pilarczyk, Berliner
Erziehungswissenschaftlerin und USK-Gutachterin, dass
Alterskennzeichnungen von Computerspielen wohl in erster Linie den
Eltern als Orientierung dienen, von Jugendlichen hingegen ignoriert
werden. Gleichwohl entscheiden Altersfreigaben über den
Verbreitungsgrad eines Spiels und ziehen im Falle einer Indizierung
ein Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverbot nach sich. So hat
beispielsweise das Kinder-Game "Ratchet & Clank" auch im
Berufungsverfahren keine Freigabe ab sechs Jahren erhalten. Den
USK-Gutachtern erschienen die Dominanz von Kampfhandlungen und der
auf den Spieler ausgeübte Reaktionsdruck als zu stark.
Für die Hersteller, die auf die lediglich comichafte Handlung
verwiesen hatten, bedeutet dies nicht geringe
Einnahmenverluste.
Auch von den Grimmschen Märchen heißt es, dass sie
sehr brutal sind. Gleichzeitig haben sie den Bonus, als Teil
unseres Kulturguts begriffen zu werden. Dorthin möchten auch
Computerspiele gelangen. Laut Medienwissenschaftler Mathias Mertens
nehmen Games immer mehr Bezug auf "die Datenbank der kulturellen
Sozialisation durch Hollywood". So spiele "Tomb Raider" mit den
klassischen Topoi des Abenteuerfilms und weise in späteren
Versionen auch "Titanic"- und "Alien"-Level auf - mit schönem
Gruß an die jeweiligen Hollywood-Blockbuster. "Grand Theft
Auto: Vice City" (2003), ein Spiel, das von der Erkundung und
mafiösen Eroberung eines Stadtraums handelt, erinnere
ausdrücklich an die Fernsehserie "Miami Vice", so dass man,
wie Mertens sagt, "sich durch den diffusen Erinnerungsraum der
eigenen Pubertät windet".
Ob Kinder diese komplexen Bezüge zu entschlüsseln in
der Lage sind, bleibt eine berechtigte Frage. Altersfreigaben
können angesichts der manchmal überraschenden
Medienkompetenz von Kids sicherlich nur eine Hilfskonstruktion
sein. Eine Position, wie sie sich der Münchner Psychologe Rolf
Oertel leistet, der für eine maximal dreißigminütige
Spielzeit pro Tag bei Kindern und für ein kontrolliertes
Zeitmanagement durch die Eltern plädiert, erscheint dagegen
allzu altmodisch. Zu Recht beklagen fortschrittliche
Pädagogen, dass ihre Kritiker eben nie ein Computerspiel
selbst gespielt haben, und sind es leid, dass Computerspiele nur
auf ihren Gewaltaspekt reduziert würden. Mit gleichem Recht,
so wenden sie ein, ließe sich Mensch-Ärgere-Dich-Nicht
als mörderische Einführung in die Ellenbogen-Gesellschaft
verstehen.
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