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Susanne Kailitz
Marathonsitzung mit Sit-in
Damals... vor 15 Jahren am 28. September: Die
letzte Arbeitssitzung der Volkskammer
DDie letzte Arbeitssitzung der Volkskammer begann
ungewöhnlich früh: Schon um sieben Uhr am Morgen hatte
das Präsidium das Plenum einberufen. Man hoffte, rechtzeitig
fertig zu sein, damit die SPD-Abgeordenten gegen Mittag die Chance
haben würden, ihren Parteitag zu besuchen. Doch daraus wurde
nichts: Bis Mitternacht dauerte die außergewöhnlich
emotionale Sitzung, die sogar ein Sit-in beinhaltete.
Der Tag begann mit dem Bericht des Sonderausschusses zur
Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS, der am 7. Juni von der
Volkskammer eingerichtet worden war. Darin betonte der
Ausschussvorsitzende Joachim Gauck, die "Macht des MfS" sei zwar
gebrochen, dennoch bestünde die Gefahr, dass ehemalige
Stasi-Offiziere sich einflussreiche Positionen in der Wirtschaft
sichern würden, von wo sie der "Demokratie ganz
unauffällig Schaden zufügen könnten".
Wurde damit das Thema Staatssicherheit noch abstrakt behandelt,
wurde es wenig später sehr konkret, als Peter Hildebrand
(Bündnis 90/Grüne) den Abschlussbericht des
"Zweitweiligen Prüfungsausschusses hinsichtlich früherer
Mitarbeit von Abgeordenten der Volkskammer für das ehemalige
MfS/AfNS" verlas. Hinter dem sperrigen Titel verbarg sich
politischer Sprengstoff: Der Ausschuss hatte festgestellt, dass 56
Abgeordnete der Volksammer, unter ihnen auch drei Minister, in der
Zentralkartei des Ministeriums für Staatssicherheit als
Inoffizielle Mitarbeiter geführt worden waren. Von diesen 56,
so der Prüfbericht, "lagen nach Akteneinsicht 15 Fälle
so, dass unsererseits eine dringende Empfehlung zu sofortiger
Mandatsniederlegung beziehungsweise sofortigem Rücktritt
ausgesprochen wurde".
In dem Bericht waren keine Namen genannt worden, doch bereits
mehrere Tage vor der Sitzung hatte die Fraktion Bündnis
90/Grüne einen Antrag eingebracht, nach dem der
Prüfungsausschuss verpflichtet werden sollte, dies zu tun -
während der Ausschuss sich dagegen aussprach, da "einer
Veröffentlichung dieser Namen durch den Ausschuss juristische
und moralische Gründe entgegen stehen". Rolf Schwanitz,
Mitglied des Prüfungssauschusses, betonte, die
Bevölkerung erwarte zu Recht Klarheit, wer betroffen sei, doch
man müsse sich an den Grundsatz des Vertrauensschutzes halten.
Zudem könne auch umgekehrt "niemandem bescheinigt werden, dass
es über ihn keine belastende Akte gibt". Marianne Birthler
(Bündnis 90/Grüne) betonte hingegen, frühere
MfS-Informanten gehörten nicht in ein Parlament: Die
Volkskammer müsse sich öffentlich "von jenen trennen, die
ihre Wähler hintergangen haben".
Bei der folgenden Abstimmung sprach sich die Mehrheit der
Abgeordneten für die Namensnennung aus. Doch damit war der
Streit noch immer nicht beendet: Nun legte der FDP-Abgeordente
Jochen Steinecke Einspruch ein und empfahl, den
Verfassungsausschuss mit der Veröffentlichungsfrage zu
beauftragen. Als die Mehrheit dem zustimmte, hielten verschiedene
Abgeordnete von Bündnis 90/Grünen unter erregten
Diskussionen ein spontanes Sit-in auf dem Podium ab.
Schließlich beriet der Verfassungsausschuss und kam nach zwei
Stunden zu dem Urteil, der Verlesung der Namen - unter Ausschluss
der Öffentlichkeit - stünden keine verfassungsrechtlichen
Bedenken entgegen. Die Kameras der Journalisten mussten
abgeschaltet werden - doch weil der liberaldemokratische "Morgen"
während der Sitzung eine Liste der 15 am schwersten belasteten
Abgeordneten veröffentlicht hatte, wussten die Reporter
draußen ohnehin, was drinnen nun endlich verkündet werden
sollte.
Bevor dies geschah, gab Bauminister Axel Viehweger (FDP) eine
Erklärung ab: Er habe im Rahmen seiner Tätigkeit als
Stadtrat in Dresden Stasi-Kontakte gehabt. Er bereue zwar nichts
und gestehe auch keine Schuld ein - akzeptiere aber die Spielregeln
und trete zurück. Nun verlas Vizepräsident Ullmann die
Namen. Einige der genannten Abgeordneten gaben daraufhin
persönliche Erklärungen ab, in denen die meisten von
ihnen die Kontakte mit dem MfS nicht leugneten - aber bestritten,
anderen Menschen mit den gelieferten Informationen geschadet zu
haben. Zu moralischer Schuld bekannte sich keiner von ihnen.
Nach dieser langwierigen Prozedur war das Plenum auf die
Hälfte seiner Mitglieder zusammengeschmolzen. Gegen
Mitternacht verabschiedeten sie ein letztes Gesetz: Die
Strafgefangenen der DDR hatten nun das Recht, Urteile, die vor dem
1. Juli 1990 ergangen waren, durch einen unabhängigen
Ausschuss überprüfen zu lassen.
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