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Karl-Otto Sattler
Kein Durchblick unter der Glaskuppel
Der Abend der Bundestagswahl im Reichstag: Ein
Stimmungsbericht
Am Abend der Bundestagswahl steht der Berliner
Reichstag international im Rampenlicht wie noch nie zuvor. In den
Stunden nach dem Urnengang inszeniert sich die symbiotische Welt
von Medien, Politikbetrieb und Demoskopen so augenfällig wie
selten. Die durchwachsene Stimmung auf der Bühne des
parlamentarischen Machtzentrums kündigt indes schon bald nach
dem Schließen der Wahllokale den Klimawandel in der Berliner
Republik an: In die Spannung des anlaufenden Ringens um das
Kanzleramt mischen sich Gefühle von Ratlosigkeit und
Ungewissheit.
Ein paar Minuten sind nach dem Moment X
vergangen. Der TV-Techniker, der mit einer Packung Kabel in der
Hand in die gigantische Bildschirm-, Kamera- und
Mikrofonperformance auf dem Flur vor dem Eingang zum Plenarsaal
eilt, stutzt ganz unvermittelt und sagt verwundert zu den
Umstehenden: "Das ist ja so eine gedrückte Stimmung
hier!"
Die Wahrnehmung des fleißigen Helfers
kommt nicht von ungefähr. Überall werden die fiebrig
erwarteten 18-Uhr-Prognosen von ARD und ZDF, die völlig
diffuse Mehrheitsverhältnisse andeuten, mit erstauntem
Stöhnen zur Kenntnis genommen. Und dann breitet sich in dieser
Ecke des Reichstags, die an diesem Abend zum Nervenzentrum der
Republik werden sollte, erst einmal Stille aus. Für eine Weile
tuscheln Journalisten, deren Mitarbeiter und die eintrudelnden
Politiker nur noch in gedämpfter Zimmerlautstärke
miteinander. Bis spät in die Nacht wird die seltsame Mischung
aus kribbelnder Spannung und aus einem Gefühl der Ungewissheit
und Ratlosigkeit nicht weichen - ein Indiz für das
Verwirrspiel des Machtkampfs in den nächsten Tagen und
Wochen.
In der drangvollen Enge der
zusammengepferchten Studios geht es zwischen Talkrunden und dem
Hin- und Hergeschiebe der großen und kleinen Promis von
Interview zu Interview geschäftig, ja hektisch zu. Der
DGB-Vorsitzende Michael Sommer etwa sieht sich bei fast jedem
Schritt mit neuen Kameras und Mikrofonen konfrontiert. Doch eine
Frage steht auch nach unzähligen Statements vielen ins Gesicht
geschrieben: Was nun? Sommer zieht sich übrigens in Sachen
Koalitionspräferenz stets mit der Bemerkung aus der
Affäre, er arbeite "mit jeder Regierung zusammen, die sich an
Arbeitnehmerinteressen orientiert".
Nach Schließung der Wahllokale mutiert
der Reichstag zum Thermometer für ein ungewohntes politisches
Klima, für eine gesellschaftliche Wetterlage, die Politiker,
Medien und auch Bürger bislang nicht kannten: Eine Regierung
wird an den Urnen abberufen, aber eine neue wird nicht
gewählt. Da muss selbst die erste Riege der
hauptstädtischen TV-Kommentatoren erst einmal rätseln.
Vor den nächsten Auftritten steckt man die Köpfe
zusammen, vielleicht hat ja der Kollege einen klugen Gedanken:
"Unglaublich", "Das gibt es nicht". Volker Jacobs schlendert Pfeife
rauchend über einen Flur: Man kann dem Berlin-Korrespondenten
von n-tv förmlich ansehen, wie er über seinem
nächsten Beitrag grübelt.
Altmeister Friedrich Nowottny, wie die
anderen Fernseh-Stars im allgemeinen Getümmel an
improvisierten Schminktischen abgetupft und zurechtgemacht, wird am
Phönix-Stand dauerinterviewt. Er vermag den gordischen
Analyseknoten aber auch nicht durchzuschlagen. Eine junge Frau aus
der vielköpfigen Entourage des Medientrosses gewinnt dem
Ganzen indes vor allem etwas Aufregendes ab: "Das ist doch besser,
als wenn um 18 Uhr gleich alles entschieden ist", meint sie zu den
Hochrechnungsbalken auf den Bildschirmen. In der Cafeteria, wo
Bockwürste, Bouletten und Sandwichs irgendwann ausverkauft
sind, sitzen die Leute vor Biergläsern und Aschenbechern,
starren auf zwei Fernseher mit den ARD- und ZDF-Programmen und
kritzeln Ziffernkombinationen mit Prozent- und Sitzzahlen auf
Notizblätter. Zu einem plausiblen Resultat gelangt freilich
niemand.
Was für ein Abend, unerwartet,
denkwürdig, irritierend. Sitzungen des Bundestags locken immer
Journalisten an, mal mehr, mal weniger, je nach aktueller
politischer Fieberkurve. Einen solchen Ansturm hat der Reichstag
jedoch noch nie erlebt. Fast 3.000 Journalisten und technische
Mitarbeiter aus über 40 Nationen wuseln herum. Beim
arte-Studio parliert das Team vor der Sendung miteinander auf
französisch. Öfter dringen russische, türkische und
andere fremde Sprachfetzen ins Ohr. Zwischen "heute" und
"Tagesschau" fragt im Hin und Her ein Reporter des russischen
Fernsehens auf Deutsch mit heimischem Akzent plötzlich einen
Bundestagsangestellten, ob man vielleicht im Plenarsaal drehen
dürfe - nun, man darf nicht.
Ein regelrechtes Medien-Heerlager hat sich im
Regierungsviertel breit gemacht. Übertragungswagen,
Satellitenschüsseln und Werbebanner der einzelnen Sender
stehen dicht an dicht. Nachmittags mutet manche Ansammlung der
TV-High-Tech-Trucker wie eine Art Campingplatz an: Auf den
Treppenstufen dieser Caravans oder auf Klappstühlen sitzt so
mancher, um sich bei einem Kaffee und einer Zigarette vor der
Minute X um 18 Uhr noch ein wenig zu entspannen. Eine
ARD-Großbildleinwand auf der Wiese vor dem Haupteingang zeigt
vor allerlei Laufpublikum einen Porträtfilm über Angela
Merkel mit der fast prophetischen Botschaft, die
CDU-Kanzlerkandidatin sei "im Vorhof der Macht angekommen". Sat.1
hat auf der Dachterrasse ein kleines Studio aufgebaut. Auf der
Ebene vor den Fraktionssälen lässt sich N24-Moderator
Michel Friedman schminken.
Über die Spree tuckern Ausflugsschiffe
mit offenem Deck, gebannt starren deren Gäste unter dem
Blinzeln der Sonne auf den Trubel rund um den Reichstag und lassen
eifrig die Kameras für Erinnerungsfotos klicken. Das tun
drinnen selbst einige Helfer der TV-Teams, die ihren Stand samt
Kollegen knipsen: Es wabert schon etwas Historisches über
diesem Augenblick. Auf der Wiese telefoniert in bestem
pfälzischen Dialekt ein Berlin-Besucher per Handy ganz
aufgeregt den Sachstand an die Seinen zu Hause in der Provinz
durch: "Was do los is, was do für Ü-Wage sinn, das
glaubscht du net!"
Die Show der Medien: So darf man diesen
Wahlabend im Reichstag wohl nennen. Im Kern aber stimmt das so
nicht. Der Parlamentskomplex dient vielmehr als exzellente
Bühne für die Inszenierung der - gelegentlich auch
komplizierten - Symbiose von Medien- und Politikbetrieb. Diese
innige Verflechtung prägt die Landschaft nicht erst seit
heute. Aber so konzentriert wie dieses Mal lassen sich die
Verästelungen und Mechanismen dieses eigentümlichen
Netzwerks selten beobachten. Die einen benötigen die andern,
ohne die andern wären die einen nichts: Auf engstem Raum
präsentiert sich eine geballte Ladung der so genannten
Berliner Republik.
Und noch etwas entpuppt sich in aller
Klarheit: Zu den Medienfreaks und zur Politikergarde gesellen sich
als Dritte im Bunde die Demoskopen. Im ZDF-Wahlstudio blättern
vor Sendebeginn nicht nur Bettina Schausten und Steffen Seibert in
ihren Papieren: Hinter ihren Pulten und Laptops wirkt die Truppe
der Forschungsgruppe Wahlen so angespannt wie eine
Fußballmannschaft in der Kabine vorm Auflaufen ins Stadion.
Prognosen, dann eine Hochrechnung nach der andern, für Stunden
werden diese Ziffern mit ihren Schwankungen hinter dem Komma zum
Unterfutter aller Interpretationen und Spekulationen. "Ich kenne
bislang nur die ARD-Zahlen, was sagt denn das ZDF?", klagt um 19.15
Uhr Michael Sommer beim Gedrängel zum nächsten
Interview.
Alle wollen mitspielen. Einer, der früh
da ist und unverdrossen gern in Kameras blickt und redet, ist
Hans-Olaf Henkel, Ex-BDI-Chef. Zum Inventar gehört auch der
Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Bundesweit über die
Bildschirme flimmern und mithin richtig gut rauskommen können
an diesem Abend auch Politiker, die sich gemeinhin nicht auf den
ersten Rängen tummeln. Beim Hessischen Rundfunk werden die
Gäste vor dem sinnigen Schriftzug "Vipshow" gelöchert.
Gewissermaßen in Schüben erhöht sich der Grad der
Prominenz. Zuerst tauchen Leute auf wie Wolfgang Tiefensee,
Leipzigs SPD-Oberbürgermeister, Dagmar Enkelmann von der
Brandenburger Linkspartei oder Rainer Eppelmann, Dagmar Schipanski
und Günther Nooke von der CDU.
Bis dahin läuft es auf den schmalen
Pfaden zwischen den vielen Studios noch einigermaßen
überschaubar und geordnet ab. Nun aber treffen einige
Ministerpräsidenten ein, und von da an gibt es für zwei,
drei Stunden kein Halten mehr. Matthias Platzeck ("Mal sehen, was
wird"), Roland Koch, der nichts Genaues nicht sagen will. So halten
es auch Dieter Althaus und Jürgen Rüttgers: Auf allen
Kanälen erklären die Länderfürsten so ziemlich
das Gleiche. Aber darauf kommt es nicht an: Die Sender brauchen
unbedingt bedeutsame Gesichter auf ihren Bildschirmen.
Auf den wenigen Metern von Stand zu Stand
fuchteln Reporter mit ihren Kameras und Mikrofonen förmlich
vor den Promis herum. Manche Helfer der Polit-Größen
halten auf Zetteln einen auf Minuten fixierten Zeitplan für
die einzelnen Besuche bei den diversen Sendern in der Hand, doch
das wird rasch zur Makulatur. Einmal stolpert jemand, weil ein
Journalist im Eifer des Gefechts auf dem Flur ein Kabel hinter sich
herzieht. Einem Radiomenschen vom WDR gelingt es, Rüttgers
einige Minuten für ein Hörfunkgespräch zu ergattern.
Nur einer hat seine Ruhe: In einer Ecke steht im Kreis von Getreuen
der Landesfürst von Baden-Württemberg, Günther
Oettinger, und wartet brav auf seinen abgesprochenen
Auftritt.
In der nächsten Runde erscheint
Bundesprominenz. Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt, die
grünen Fraktionsvorsitzenden, schieben sich herein. Dann sind
auch zügig die Minister Jürgen Trittin und Renate
Künast präsent. Letztere ist schnell von der Medienmeute
umringt. "Fragen Sie mich nicht nach Personen", antwortet die
Grüne vielsagend-nichtssagend auf die Frage, ob sie sich
zusammen mit Guido Wes-terwelle am Kabinettstisch vorstellen
könne. Im Übrigen gehe sie jetzt erst einmal
"gestärkt auf unser Fest". Das tut sie freilich nicht: Zu
fortgeschrittener Stunde ist Künast immer noch da und
plaudert, ein Eis am Stiel in der Hand, mit dem Journalisten
Friedrich Küppersbusch.
Kurz vor der "Tagesschau" laufen sich Krista
Sager und Gregor Gysi von der Linkspartei über den Weg, man
schüttelt sich in der Eile lächelnd kurz die Hand,
"Glückwunsch", "Glückwunsch auch". Oskar Lafontaine
lässt sich ebenfalls blicken, natürlich ist der
Saarländer sehr begehrt. Schon etwas abgekämpft will er
von seinem Begleiter wissen. "Wo gehen wir denn jetzt hin" - "da
müssen wir durch", antwortet dieser, "dahinten zu
n-tv".
Gerhard Schröder, Angela Merkel, Edmund
Stoiber, Joschka Fischer und Guido Westerwelle stürzen sich
nicht ins Getümmel unter der Kuppel. Sie geben sich bei der
"Berliner Runde" von ARD und ZDF die Ehre. Vor allem aber haben sie
ihre Auftritte in den Parteizentralen: Der dortige Beifall, bei
SPD, FDP und Linkspartei besonders stark, hallt via Bildschirm auch
durch den Reichstag. In dessen Atmosphäre von Verunsicherung
und Ungewissheit, die vom hektischen Getue nicht verdrängt
wird, mutet die pralle Freude auf den anderen Berliner
Schauplätzen des Wahlkrimis leicht unwirklich, fast
befremdlich an.
Schuld an diesen Kontrasten ist jemand, der
sich am 18. September als Mitspieler verweigert hat: der
Stimmbürger. Der Wähler hat dem Trio aus Medien,
Politikbetrieb und Demoskopen einen kräftigen Strich durch die
Rechnung gemacht. Im Parlamentsgebäude dünnen sich die
Reihen der politischen Prominenz denn bald aus: Was soll man auch
schon sagen, wo angesichts der sperrigen Prozentzahlen nichts
Handfestes zu sagen ist? Irgendwann interviewen sich manche
Journalisten gegenseitig. Einer, den man nicht lange bitten muss,
ist Focus-Chef Helmut Markwort.
Im Laufe des Abends schwindet auch das
Interesse an den Hochrechnungen. Stattdessen herrscht Zulauf an
einem zuvor wenig beachteten Info-Stand, den Bundeswahlleiter
Johann Hahlen hat errichten lassen: Dort zeigen Computer den
Auszählungsstand in den 16 Ländern an, dort kann man sich
an Laptops bis in einzelne Wahlkreise durchklicken, dort outet sich
tatsächlich der Wählerwille. Es kommt ja auf jedes
Direkt-, auf jedes Überhangmandat an.
Draußen in der Dunkelheit verfolgt eine
überschaubare Schar von Neugierigen die ARD-Übertragung
auf der Großbildleinwand. Die Stimmung auf der Wiese erscheint
so durchwachsen wie drinnen. Kaum jemand applaudiert, kaum jemand
äußert Unmut. Der spektakuläre Zoff in der "Berliner
Runde" zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und
ZDF-Chefredakteur und Moderator Nikolaus Brender löst beim
Publikum gebremste Heiterkeit mit leisem Lachen und Kichern aus.
Ein paar Schritte weiter steht auf der Treppe auch zu dieser
späten Stunde noch eine große Schlange von Menschen:
Denen ist der nächtliche Blick von der Reichstagskuppel
über die Hauptstadtdächer offenbar wichtiger als die
Wahlberichterstattung im Fernsehen.
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