Pressestimmen
El País (Spanien):
Die Deutschen haben bei der Bundestagswahl einer Reform nach
neoliberalem oder angelsächsischen Muster eine Absage erteilt.
Nun sucht man nach einem neuen Sozialpakt. (...) Das Wahlergebnis
bedeutet auch, dass Berlin der Türkei die Tür zur EU
vorerst nicht verschließen wird, wie die CDU-Chefin Angela
Merkel dies vorhatte. Allerdings weist die Bundestagswahl auch eine
gewisse Ähnlichkeit mit dem Nein der Franzosen zur
EU-Verfassung auf. Die politische Lähmung Europas schreitet
weiter voran.
Le Monde (Frankreich):
Die früher über Jahrzehnte hinweg stabile
Parteienlandschaft ist zersplittert, wobei es sich dabei aber nicht
um ein auf Deutschland begrenztes Phänomen handelt. (...) Und
doch gibt es in allem etwas speziell Deutsches. Denn die radikale
Linke hat ihre Wählerbasis vor allem im Osten. Und sie wird
sich halten können, solange die psychologische und soziale
Wiedervereinigung nicht wirklich abgeschlossen ist.
Wall Street Journal (USA):
Es war ein schlechtes Omen, als Angela Merkel, die Kandidatin
der konservativen CDU, den Rolling-Stones-Song "Angie" zu ihrem
Wahlkampflied wählte. In Wirklichkeit ist es ein Lied
über ein Scheitern. "Alle Träume, die uns so viel
bedeuteten, scheinen sich in Rauch aufzulösen", heißt es
in dem Lied - und das ist ziemlich genau das, was der CDU bei der
Wahl am vergangenen Sonntag widerfuhr, als der Sozialdemokrat
Gerhard Schröder, der in den vergangenen sieben Jahren nach
Art eines deutschen Bill Clinton Kanzler war, ein bemerkenswertes
Comeback schaffte.
The Times (Großbritannien):
Angela Merkel hat nach ihrem von Fehlern und hölzerner
Ängstlichkeit geprägten Wahlkampf den anfänglich
großen Vorsprung ihrer oppositionellen Christdemokraten
verschenkt und endete fast gleichauf mit Gerhard Schröder.
(...) Nach drei Jahren ökonomischer Stagnation und einer
wilden Außenpolitik ist er unverdientermaßen noch einmal
davon gekommen. (...) Es ist fraglich, ob eine von Frau Merkel
geführte Regierung nach ihrer Wahlkampfleistung die
nötige Autorität oder Glaubwürdigkeit aufbringen
würde.
La Republica (Italien):
Und nun? Wozu hat die Wahl überhaupt gedient? Merkel, die
als Gewinnerin in den Wahlkampf ging, kommt am Ende mit gebrochenen
Knochen an. (...) Sie hätte die sozialdemokratische SPD, die
nach sieben Regierungsjahren abgenutzt in Scherben lag, in eine
Ecke verbannen sollen. Stattdessen hat sie sie auf den Fersen, mit
gerade mal einem Prozentpunkt Unterschied.
Iswestija (Russland):
Die Christdemokraten stehen unter Schock. Man musste nur ihre
Reaktion auf die ersten Ergebnisse sehen, um das zu begreifen.
Erloschene Augen, verzweifelte Gesichter, flauer Beifall, mit dem
das Publikum Angela Merkel empfing. Dabei hatten ihr kurz zuvor
noch überfüllte Säle begeistert zugejubelt. Und der
Sprecher hatte die Vorsitzende der CDU immer als "die künftige
Bundeskanzlerin" angekündigt. Auf einmal ist sie wieder nur
Frau Merkel.
Neue Zürcher Zeitung (Schweiz):
Als großes Wahlkampfgeschenk Merkels an Schröder
stellte sich die Nominierung Paul Kirchhofs als Finanzexperte der
neuen Regierung heraus. Mit seinem untrüglichen Instinkt
für die Stimmungen im Land nahm der angeschlagene Kanzler die
unbekümmerten Gedankenspiele des "Professors aus Heidelberg"
zur Steuerpolitik auf und konstruierte daraus das
Schreckensszenario eines menschenverachtenden Sozialabbaus. Darauf
reagierte die Union offensichtlich zu spät mit einer
Gegenkampagne.
Politiken (Dänemark):
Die SPD in einer großen Koalition könnte der
Bevölkerung, die Reformen zwar will, diese aber aus
verständlichen Gründen auch fürchtet, eine gewisse
Sicherheit geben. Eine große Koalition bringt Deutschland aus
der Lähmung, die permanent alle durchgreifenden Reformversuche
bedroht.
Nirgendwo sonst auf der Welt, vielleicht mit Ausnahme der USA,
gibt es eine so breite Verteilung der Macht auf viele Zentren in
der Gesellschaft. (...) Eine große Koalition würde mit
einem Schlag die Anzahl der Kontrahenten reduzieren und die
deutsche Stimme nach außen wesentlich glaubwürdiger
machen.
Gazeta Wyborcza (Polen):
Irgendeine Regierung wird es am Ende geben. Aber es ist nicht
bekannt, ob diese neue Regierung ernsthaft die Regulierung der
Wirtschaft flexibler gestalten oder im Gegenteil das
gegenwärtige System so weit wie möglich erhalten will. Ob
die Außenpolitik eine Rückkehr zu den USA einschlägt
oder Schröders internationale Politik beibehält, die sich
auf das Bündnis mit Frankreich und das Kokettieren mit
Russland stützt. Diese Wahl hat gezeigt, dass Deutschland, das
größte Land Europas, vorerst nicht weiß, in welche
Richtung es geht.
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