"Ein katastrophales Ergebnis"
Interview mit dem Parteienforscher Eckhard
Jesse
Der Wahl- und Parteienforscher Eckhard Jesse
lehrt seit 1993 Politikwissenschaft an der Technischen
Universität Chemnitz. Auch er kann nach diesem offenen
Wahlausgang nur spekulieren, wer Deutschland in Zukunft regieren
wird. Eine Option aber lehnt er ab: Neuwahlen.
Das Parlament: Herr Jesse, hat Sie das
Wahlergebnis überrascht?
Eckhard Jesse: Es hat mich nicht nur
überrascht. Ich halte es für katastrophal. Es hat weder
zu einer schwarz-gelben noch zu einer rot-grünen Koalition
geführt. Stattdessen ist durch die Linkspartei eine
Blockadesituation entstanden, bei der wir nur die Aussicht auf zwei
gleichermaßen negative Varianten haben: eine große
Koalition und eine schwarze Ampel. Eine große Koalition bringt
Deutschland nicht weiter und wird nicht lange halten. Das gleiche
gilt für die schwarze Ampel: Sie wäre eine
Zerreißprobe, besonders für die Grünen. Kurzum: Ich
war selten so ratlos wie jetzt.
Das Parlament: Wird es also wieder
Neuwahlen geben?
Eckhard Jesse: Ich halte alle drei
Varianten für gleich wahrscheinlich: eine Große
Koalition, eine Schwarze Ampel, oder, wenn man sich nicht einigen
kann, auch Neuwahlen. Bekommt ein Kandidat im dritten Wahlgang nur
eine relative Mehrheit, kann Köhler ihn entweder ernennen oder
den Bundestag auflösen, weil er die Regierung nicht für
stabil genug hält. Allerdings lehne ich die Schlussfolgerung
ab, jetzt Neuwahlen durchzuführen. Wir können nicht so
lange wählen, bis uns das Ergebnis passt. Angesichts der
Krise, in der wir uns befinden, sollten die demokratischen Parteien
ihre machtpolitischen Interessen zurückstellen und sich bald
auf eine der genannten Varianten einigen.
Das Parlament: Wie lange kann das
dauern?
Eckhard Jesse: Es kann sein, dass es
wider Erwarten schneller geht und man die komplizierte Prozedur
innerhalb von sechs bis acht Wochen hinkriegt. Vielleicht
trägt der Druck der öffentlichen Meinung dazu bei.
Gegenwärtig haben alle Parteien noch nicht den Ernst der Lage
erkannt. Ich glaube, je länger es dauert, umso weniger
wahrscheinlich wird eine Lösung.
Das Parlament: Wie erklären Sie
sich, dass die SPD doch nicht so stark verloren hat wie angenommen,
ja fast als Wahlsieger da steht?
Eckhard Jesse: Das hängt damit
zusammen, dass die Erwartungshaltung ihr gegenüber wesentlich
geringer war. Darüber hinaus hat es die SPD verstanden, eine
große Geschlossenheit an den Tag zu legen, obwohl sie
völlig zerstritten ist. Den Bürgern war im Wahlkampf gar
nicht mehr klar, dass Schröder die Neuwahlen wollte, weil es
nicht weiterging mit der eigenen Koalition. Das war eine
strategische Meisterleistung von ihm. Er hat den Wahlkampf mit
vollem Engagement geführt, und manche Bürger haben sich
wohl gesagt: Der kann ja kämpfen.
Das Parlament: Die Union hatte eine
viel bessere Ausgangssituation: Zu Beginn des Wahlkampfes lag sie
in den Umfragen noch bei 47 Prozent, erreicht hat sie nur gut 35
Prozent. Warum?
Eckhard Jesse: Die Union hat ihre
positive Ausgangsbasis durch gravierende Fehler selbst verspielt.
Die Ursachen dafür sind vielfältig, vor allem aber hat es
die Union nicht verstanden, eine Aufbruchstimmung in Deutschland
hervorzurufen, den Bürgern plausibel zu machen, warum ein Ruck
durch Deutschland gehen wird, wenn Schwarz-Gelb an die Regierung
kommt. Als die Union Paul Kirchhof präsentierte, haben sich
die Ministerpräsidenten der Länder von ihm distanziert.
Ein gefundenes Fressen für den politischen Gegner, Kirchhof zu
demontieren! Dann brachte die Union auch noch Friedrich Merz ins
Spiel und die Wähler waren verunsichert. Sie mussten den
Eindruck bekommen, da gibt es keine Geschlossenheit, auch deshalb,
weil viele Ministerpräsidenten Merkel im Wahlkampf nicht so
den Rücken gestärkt haben, wie es eigentlich notwendig
gewesen wäre. Außerdem ist die CDU nicht ausreichend
kampagnenfähig.
Das Parlament: Der Staatsrechtler
Hans-Herbert von Arnim hat vorgeschlagen, in Deutschland das
Mehrheitswahlrecht einzuführen. Was halten Sie
davon?
Eckhard Jesse: Ein Mehrheitswahlrecht
führte zu einer klaren Mehrheit und einer klaren Opposition.
Es gäbe keine Blockierungen. So weit, so gut: Nur haben wir
mittlerweile drei Parteien mit über acht Prozent im Parlament.
Die Einführung der Mehrheitswahl würde in der
Öffentlichkeit den Charakter einer Manipulation
hervorrufen.
Das Parlament: Auf jeden Fall sorgt
Schröders Neuwahl-Coup jetzt für allerhand
Diskussionsstoff. Nur: Ist die Situation nicht im Grunde für
alle Parteien viel schlechter als vorher?
Eckhard Jesse: Eindeutig.
Schröder hat gesagt, wir wollen mit der Neuwahl die
Blockadesituation beseitigen, und jetzt hat er erreicht, dass die
Blockade noch viel schlimmer ist. Außerdem ist die Linkspartei
stärker denn je. Dafür trägt Schröder
maßgeblich die Verantwortung.
Das Interview führte Johanna Metz
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