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Sabine Quenot
"Ich wähl' Kaffee schwarz"
Von Wählern, Nichtwählern und
Erstwählern mit 40
Auf dem Spielplatz an den Gleisen der Ringbahn
im Prenzlauer Berg pingpongen sich junge Menschen in den Sonntag.
Bilderbuchwetter, ein sportlicher Wahltag. Auf dem Bürgersteig
aufgekratzte Bürger, die im Sonntagsstaat zielstrebig zu ihrer
Stimmabgabe spazieren. Im Wahllokal in der Schule am Ende der
Straße stehen die Wahlberechtigten Schlange. Und hier an der
Tischtennisplatte bringen sich die potentiellen Erstwähler in
Form. Anfang 20, im Prenzelberg-Look mit Trainingsjacke.
Schon wählen gewesen? "Na logo", die
prompte Antwort, "und die da hinten und die da drüben, die
waren auch schon im Wahllokal", sagt der junge Mann und zeigt mit
dem Tischtennisschläger auf ein anderes junges Paar am
Volleyballnetz und die kleine Familie mit Baby im Sandkasten. Dann
fragt er: "Sehe ich denn aus wie ein Nichtwähler?", mehr
neugierig denn beleidigt. Gute Frage. Der Nichtwähler, das
unbekannte Wesen. T-Shirts mit aufgedruckter Wahlverweigerung sind
noch nie in Mode gewesen.
Ein paar Straßenecken weiter,
außerhalb der Wahllokal-Bannmeile, laufen zwei Männer
Mitte 30 über den Zebrastreifen. Für einen sonnigen Tag
wie diesen etwas zu düster gekleidet, und auch die
Augenränder sind ganz schön dunkel. Sind Sie auf dem
Wahlgang? Der eine sagt: "Ja, ich gehe wählen. Ich wähl'
Kaffee schwarz", und lacht nicht gerade gut aufgelegt. Der andere
will noch etwas loswerden, er scheint froh zu sein, dass ihn
überhaupt einmal jemand nach seiner Meinung fragt. Aber was er
für eine Meinung hält, ist eine typische Antwort von
Nichtwählern und ein bisschen enttäuschend: "Mich
interessiert das alles nicht. Ich habe keinen Kopf
dafür…" Der Kollege will weiter. Nichtwähler
bleiben an diesem Sonntag lieber bedeckt.
Ob in Pankow oder Wedding, Lichtenberg oder
Schöneberg, ob der vierfache Vater nach dem Frühschoppen,
die berufstätige Türkin, der Auszubildende aus dem
Speckgürtel oder die älteren Damen, die über die
Staatsschulden schimpfen - alle waren oder wollen noch wählen.
Der eine oder andere gibt vielleicht nicht zu, dass er sich der
Stimme enthält. Denn Nichtwählen zugeben, ist wie beim
Schulschwänzen erwischt zu werden.
Den Nichtwählern gab das Internet-Forum
www.ich-gehe-nicht-hin.de in diesem Jahr eine Stimme. Hier konnten
sie anonym erklären, warum sie sich der Wahl verweigern.
Derjenige, der auf Weltreise ist und seine Briefwahlunterhalten
wohl nicht bekommen kann, ist noch der symphatischste und
harmloseste Nichtwähler. Manche sind nur trotzig: "Weil ich
meine Stimme nicht abgeben, sondern behalten werde." Die
Begründungen reichen von der Politikerbeschimpfung bis hin zur
umfassenden Kapitalismuskritik. Ein anderer gibt eine klare Ansage:
"Ich wähle erst wieder, 1. wenn die Politiker bei sich
anfangen zu sparen, 2. wenn Volksabstimmungen bundesweit
möglich sind, 3. wenn eine gezielte Wahl bestimmter Politiker
bundesweit möglich ist, 4. wenn Politiker in
Fernsehbefragungen nicht irgendeinen vorbereiteten Mist
erzählen, sondern auf Fragen auch antworten."
Die Macher der Website vom
überparteilichen Netzwerk "politik digital", das in
Deutschland Formen der politischen Kommunikation in neuen Medien
ausprobiert, haben die Idee aus Großbritannien
übernommen. Bis zum Montag nach der Wahl, an dem dieses
Nichtwahlstudio schloss, zählten sie in zwei Monaten knapp
13.000 Einträge und 100.000 Zugriffe. Aus den Kommentaren sei
"ein gehöriges Maß an Desillusionierung mit und
Entfremdung vom politischen System zu spüren", hieß es
zum Projektende. Viele fühlten sich durch einen Urnengang alle
vier Jahre machtlos. Dennoch gab es Einträge von politisch
denkenden Menschen. Wieso sie sich vom politischen Geschehen
abwenden und wie mehr Akzeptanz des parlamentarischen Systems
erreicht werden kann, das wird die Auswertung in den nächsten
Monaten hoffentlich ans Licht bringen.
In der realen Welt des S-Bahn-Rings arbeitet
am Wahlsonntag der hoch gewachsene Schaffner. Verhalten
höflich beantwortet er die Frage der Ausflügler, was denn
ein Ticket für das Fahrrad kostet. "Immer die
ermäßigte Karte fürs Fahrrad", sagt er. Ob er denn
schon wählen war oder noch wählen wird? "Na, wie denn?
Ick hab' von acht bis 20 Uhr Dienst." Ja, wie soll er da auch
wählen gehen? Knapp und klar, als gäbe es daran nichts zu
rütteln. Und Briefwahl? Ertappt. Und schon erzählt er.
"Nee, ich sach Ihnen janz ehrlich, ick will nicht wählen. Ob
der dran bleibt oder die dran kommt, ist doch allet det selbe. Es
wird immer schlimmer." Am Ende stellt sich heraus, die CDU
wäre für ihn doch noch schlimmer als schlimmer. Denn wenn
sie gewinnt, so der S-Bahner, dann brauche er am Wochenende und im
Schichtdienst nicht mehr zu arbeiten, wenn das voll versteuert
werde. Ermäßigter Lohn, nein danke.
Mit in die S-Bahn steigt eine gestandene Frau
ein, die ganz direkt heraus sagt: "Ich gehe nicht wählen, bin
aber für die SPD!" Nach ihren Beweggründen gefragt, warum
sie mit ihrer klaren Parteienpräferenz nicht doch wählen
gehe, antwortet sie: "Das hängt ganz einfach mit meinem Umzug
zusammen. Das ist mir zu bürokratisch, mich mit den
Behörden auseinander zu setzen, ob und wo ich jetzt
wählen kann." Eine Wahlbenachrichtigung habe sie nicht
bekommen.
Im Wedding verkündet eine
24-Jährige zurück vom Wahllokal sichtlich sauer: "Ich
darf nicht wählen!" Auch sie ist unfreiwillig zur
Nichtwählerin geworden, weil sie vor einem Monat von Biesdorf
hierher gezogen ist. "Das finde ich voll blöd, auf meinem
Ausweis steht doch alles drauf, warum kann ich dann nicht
wählen?" Sie hätte sich vorher melden müssen. Zwei
verlorene Stimmen.
In einem BMW aus Köpenick sitzen vier
überzeugte Wähler. Sie suchen auf der Karte nach ihrem
Ausflugsziel und sind bester Laune. Am Steuer sitzt eine
erklärte Erstwählerin, 40 Jahre alt. Sie habe noch nie
gewählt, aber heute schon. "Ich habe überlegt, meinen
Wahlzettel ungültig zu machen, aber dieses Mal zählt
wirklich jede Stimme", sagt sie. Späte Erstwähler gab es
einige an diesem Sonntag, die sich aufgerufen fühlten, nach
jahrelanger Verweigerung zur Urne zu gehen. Ein zugezogener
Wolfsburger hält diese Abstimmung für "absolut
entscheidend" und rechnet mit einer höheren Wahlbeteiligung.
Inzwischen wissen wir, das ist leider nicht eingetreten: 77,7
Prozent Wahlbeteiligung, 1,4 Prozent weniger als bei der letzten
Bundestagswahl.
Der aktive Nichtwähler, der seiner
Enthaltung Ausdruck durch eine ungültige Stimmabgabe verleiht,
ist eher selten. Bei dieser Wahl gab es 1,6 Prozent ungültige
Stimmen, ein Viertel mehr als bei der Bundestagswahl 2002, darunter
aber auch unbeabsichtigt falsch abgegebene Stimmen, nicht
abgegebene Erst- oder Zweitstimmen sowie nicht zugeklebte oder
unterschriebene Briefwahlen.
Drei Tage vor der Wahl gab die
Volkshochschule des Berliner Bezirks Mitte Wahlnachhilfe. Eintritt
frei. Dort referierte Dorothée de Nève,
Junior-Professorin an der Universität Halle, über
Ursachen und Folgen der Wahlenthaltung. Die Dozentin erforscht
Nichtwähler in ganz Europa. Eigentlich sei es ja schon ein
eigener Forschungszweig, warum man Nichtwähler nicht
untersuchen könne, sagt sie mit einem Augen-zwinkern, denn:
"Bei Umfragen lügen Nichtwähler!" Sie tauchen bei den
Umfragen als Unentschlossene auf oder sie behaupten, gewählt
zu haben. Wozu der Aufwand? "Es gibt eine Norm, dass man
wählen sollte", und deshalb lügen Nichtwähler
lieber, als dass sie ihren Ruf als gute Staatsbürger
verlieren. Die Wahlforscher beißen sich an ihnen ihre
empirischen Zähne aus. Umso aufschlussreicher sind
Internetforen wie "ich-gehe-nicht-hin", wenn auch manchmal
niveaulos, wie de Nève findet. "Da kursieren die wildesten
Vorstellungen über Politiker." Aber sie ist optimistisch, denn
im Sumpf der Nichtwähler komme durchaus das politische
Interesse zum Ausdruck, "im Parteiensystem finden sie sich nur
nicht wieder".
Die Wahlbeteiligung werde zur
Qualitätsfrage der Demokratie, sagt die Wissenschaftlerin.
Seit den 90er-Jahren steigen die Zahlen der Nichtwähler in
allen etablierten Demokratien. In den postsozialistischen
Ländern ist es viel dramatischer, ein Trend auch in den neuen
Bundesländern. Außerdem ist Wählen eine
Generationenfrage. Die Erstwähler gehen das erste Mal zur
Wahl, danach verliere der Akt an Faszination, so de
Nève.
Bei ihrer Veranstaltung an der
Volkshochschule kam es zu einer kontroversen Debatte mit
Schülern der 13. Klasse. Die Schüler meinten, die
Wähler ließen sich manipulieren. "Ich sage immer, die
Wähler sind schlau", so die gebürtige Schweizerin. Doch
die Wahlforschung kann die Wahlentscheidung genauso wie die
Wahlabstinenz nur unbefriedigend erklären. Denn Wähler
und Nichtwähler haben immer ganz individuelle Motive. Die
einen wählen eine Partei nur, weil sie sich einen Kita-Platz
erhoffen, für andere reicht es, dass eine Partei gegen den
EU-Beitritt der Türkei ist. Bei der letzten Bundestagswahl hat
de Nève fünf Gründe für Nichtwähler
ausgemacht: 1. Es gibt keine Änderung/es passiert nichts. 2.
Ich weiß nicht, wen ich wählen soll. 3. Ich habe kein
Interesse an Politik/ist mir egal. 4. Enttäuscht von
Politik/Politikern 5. Versprechen werden nicht
eingehalten.
Nun ist auch diese Wahl gelaufen. Auch die
Forscherin erstaunt das Ergebnis. Infratest dimap ermittelte
700.000 CDU-Wähler, die in das Lager der Nichtwähler
gewandert sind. "Wähler, die das letzte Mal CDU gewählt
haben, lassen die Partei in dieser entscheidenden Situation
hängen." De Nève ruft: "Das ist doch
verrückt!"
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