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Susanne Sitzler
Frieden in ferner Zukunft
Gaza kommt nach dem Abzug der Israelis nicht zur
Ruhe - verspielen die Palästinenser ihre Chance?
Israels Abzug aus dem Gazagebiet vor rund
eineinhalb Monaten - von vielen Friedensaktivisten lang ersehnt -
hat keine Entspannung in den israelisch-palästinensischen
Konflikt gebracht. Im Gegenteil: Er hat die Probleme
verschärft. In einem Punkt sind sich Beobachter beider Seiten
einig: Frieden in naher Zukunft ist nicht in Sicht.
In den Morgenstunden des 12. September haben
die letzten israelischen Soldaten den Gazastreifen verlassen -
seither herrschen dort Unruhe und Gewalt: "Die Gesamtsituation in
Gaza ist eine der schlechtesten seit jeher", beschreibt Suleiman
Abu Dayyeh, Projektleiter für die palästinensischen
Gebiete bei der Friedrich-Naumann-Stiftung Jerusalem, den Stand.
"Die Sicherheitslage ist sehr instabil." Bewaffnete Truppen
beherrschten die Straße - nicht aber die palästinensische
Polizei. Dabei sei Gaza ein wichtiger Test: "Wenn wir in Gaza
durchfallen, können wir jegliche Lösung für die
nächsten zehn Jahre vergessen", prophezeit der
Palästinenser.
Seit Wochen bekommt die Polizei die
bewaffneten islamistischen Gruppen dort nicht in den Griff. Clans
tragen ihre Streitereien mit Waffen aus, berichtet Abu Dayyeh. Auch
Vertreter der gemäßigten Fatah-Partei fordern deshalb ein
konsequenteres Durchgreifen der Sicherheitskräfte: Man
dürfe den Terroristen nicht das Feld überlassen,
kritisiert Abdalah Zegary, Führer der Fatah-Jugend in der
Region Bethlehem, den Kurs: "Die palästinensische Regierung
sollte hart gegen die militanten Gruppen vorgehen", sagt der
Student, weil er um die Situation in Gaza fürchtet.
Aber Palästinenser-Präsident
Mahmoud Abbas scheut die offene Konfrontation mit den Extremisten,
meint Abu Dayyeh. Er habe Angst vor einer Spaltung der
palästinensischen Bevölkerung, die letztendlich in eine
bürgerkriegsartige Situation münden
könnte.
Abu Dayyeh beruft sich auf Umfragen: Danach
unterstützen mittlerweile rund 35 Prozent der
Palästinenser des Gazagebiets die Hamas. "Viele wenden sich
ihr zu, weil die palästinensische Autorität die
Erwartungen der Menschen nicht erfüllt." Wirtschaftlich
gesehen gehe es den Leuten schlechter als vor dem Rückzug. Und
- aus palästinensischer Sicht sei der Abzug der Siedler und
Truppen nicht genug. Abu Dayyeh sagt, man könne nicht von
Souveränität sprechen, da Israel die Grenzen Gazas
weiterhin zu Land, Wasser und Luft kontrolliert: "Man hat den
Gazastreifen zu einem großen Gefängnis umgewandelt." Eine
echte Vorleistung für den Frieden sei das nicht.
Auf israelischer Seite bewertet man die
Situation freilich anders. Wie Natan Sznaider, Professor für
Soziologie am Academic College in Tel Aviv, erklärt, sei der
Rückzug ein großer symbolischer Akt: "Jeder im Land kennt
die Bedeutung von Gaza", sagt er. "Der Rückzug hat
wahrscheinlich dazu beigetragen, die nationalen Aspirationen der
Palästinenser auf Souveränität einen Schritt
näher zu bringen."
Für den Israeli, der Erez Israel als
"ethnischen Nationalstaat" bezeichnet, hat die Gebietsrückgabe
noch eine andere Dimenson: Israel müsse die besetzten
Palästinensergebiete loswerden, um die jüdische Mehrheit
im Land zu behaupten. Das liege am demografischen Faktor, also an
der Tatsache, dass Palästinenser im Schnitt mehr Nachwuchs
bekommen als Israelis. "Man hat eingesehen, dass jüdische
Souveränität durch die Besatzung ernsthaft in Frage
gestellt wird." Deshalb strebe man eine ethnische Trennung
an.
Aber wo, wenn man Sznaider folgen will,
sollten die Grenzen einer solchen ethnischen Trennungslinie
verlaufen? Die Grenzfrage ist für den Soziologen offen:
"Keiner in Israel würde sagen, dass die Grenzen von 1967
heilig sind", behauptet er. Umgekehrt sieht das Abu Dayyeh:
"Frieden bedeutet, dass Israel sich auf die Grenzen von 1967
zurückzieht" - entsprechend den Vereinbarungen, die beide
Seiten 2003 in der Roadmap trafen.
Kernpunkt des Konflikts ist die
Jerusalem-Frage. Doch auch hier, in der geteilten Stadt, die Juden
wie Moslems heilig ist, ist man jeder Lösung fern. Der
Journalist Wladimir Struminski, Korrespondent der Jüdischen
Allgemeinen, hat selbst lange dort gelebt. Er vergleicht Jerusalem
mit einer Zwiebel, deren Kern das Allerheiligste, der Tempelberg,
ist und bemerkt: "Von den Rändern trennt man sich gern, aber
wenn man beim Kern ankommt, fließen die
Tränen."
Die Verquickung der politischen, historischen
und religiösen Aspekte sei Schuld daran, dass es zu keiner
Einigung komme: "Die Gottbezogenheit auf beiden Seiten ist die
beste Garantie dafür, dass es hier keinen Frieden geben
wird."
Hochproblematisch ist auch die seit zwei
Jahren andauernde Abtrennung der Stadt durch Zaun und Mauer von der
umliegenden Westbank. Von Befürwortern gelobt, weil die
terroristischen Anschläge seither drastisch zurückgingen,
kritisieren Zivilrechtler wie Sarah Kreimer von der Organisation
"Ir Amim" ("Stadt der Völker") den andauernden Bau, weil er
die Lebensqualität der anwohnenden Menschen ignoriere. Die
Mauer schaffe Sicherheit für die Israelis, aber sie
verschlechtere die wirtschaftliche Lage der
Palästinenser.
Wohin Israel und Palästina in
nächster Zukunft steuern, ist unklar. Israels Premier Ariel
Scharon wird Abbas frühestens Ende des Monats treffen. Keiner
der beiden kann es sich unter dem Druck der eigenen Reihen derzeit
leisten, mit leeren Händen zurückzukehren: Scharon nicht,
wegen der Attacken aus dem rechten Flügel seiner Likud-Partei.
Abbas nicht, weil er politische Erfolge vorweisen muss, wenn er den
Terroristen ihre Legitimation entziehen will. Ob Abbas' Strategie,
die Hamas politisch einzubinden, aufgeht, wird sich frühestens
nach den für Januar 2006 geplanten palästinensischen
Parlamentswahlen zeigen.
Eine Prognose für die Zukunft? Wenn
alles gut läuft - die Wahlen, die Rückkehr zur Roadmap
und wenn es wieder Verhandlungen gibt - ist es vorstellbar, dass
man sich aufeinander zubewegt, sagt Abu Dayyeh. "Aber Frieden? Da
habe ich Zweifel!" Auch Sznaider will nicht von einem
Friedensprozess sprechen. Eher von einem politischen Prozess, von
dem Versuch beider Seiten, Leben zu bewahren. "Geht es im Nahen
Osten überhaupt um Frieden? Vielleicht sollte man lieber
,Waffenstillstandsprozess' oder ,Nichtkriegsprozess'
sagen."
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