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Godrun Gaarder
Eine neue Etappe für Norwegen
Ungewohnt: Regieren mit der Mehrheit im
Rücken
Seit dem 17. Oktober hat Norwegen, eines der
reichsten Länder in Westeuropa, eine neue verjüngte
Regierung. Das Land hat damit auch erstmalig seit 20 Jahren wieder
ein Kabinett mit einer Mehrheit der Sitze im Storting, dem
norwegischen Parlament, hinter sich. Viele der verschiedenen
Koalitionen der vergangenen Jahre, so auch die letzte
bürgerliche Regierungskoalition unter Kjell Magne Bondevik
(Christliche Volkspartei), hatten keine parlamentarische Mehrheit
hinter sich und waren laufend auf das Aushandeln von Kompromissen
nach links und rechts angewiesen.
Voraussetzung für diese Arbeitsweise ist
vermutlich die Verhandlungskunst und Ausdauer nordischer Politiker.
Das Ergebnis: eine eigene pragmatische politische Kultur des
Willens zum Konsensus. Die Parteienlandschaft ist durch viele
kleine Parteien zersplittert und war lange Zeit auch noch durch
Lagerdenken beeinflusst. Daher blieb als Alternative oft nur die
Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft über die jeweiligen
Lagergrenzen hinweg. Die Ergebnisse der jüngsten
Minderheitsregierungen können sich sehen lassen.
Die Sozialdemokraten (AP) sind grösste
Partei in Norwegen, bisher wollten sie allerdings nicht koalieren.
Vor der diesjährigen regulären Parlamentswahl am 12.
September hatte der sozialdemokratische Parteichef Jens Stoltenberg
(46) die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung in den
Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt, nachdem er sich mit zwei
kleineren Parteien, der Sozialistischen Linken (SV) und der
linksbürgerlichen Zentrumspartei (SP) über eine
mögliche zukünftige Regierungszusammenarbeit
verständigt hatte. Nur über eine Mehrheit könne
Entscheidendes bewegt werden, sagte er. Der norwegische Wähler
gab dieser bisher unerprobten Konstellation zwischen ungleichen
Partnern grünes Licht. Somit sind aus dieser Wahl die
Sozialdemokraten mit 34,5 Prozent der Stimmen eindeutig als Sieger
hervorgegangen. Die bisherige Regierungskostellation aus
Christlicher Volkspartei, Konservativen (Høyre) und Liberalen
(Venstre) musste das Ruder übergeben. Die AP stellt jetzt die
weitaus stärkste Fraktion im norwegischen Storting.
Die nunmehr gebildete linke Koalition unter
Leitung von Jens Stoltenberg stellte sich am 17. Oktober erstmalig
vor dem Schloss in Oslo dem Volk vor. Eine Besonderheit dieser
Regierung: Die Hälfte der Kabinettsmitglieder sind Frauen.
Zunächst hatte traditionell König Harald VII. die
bisherige Regierung verabschiedet und die neue ernannt.
Das Kernziel des sozialdemokratischen
Parteivorsitzenden und jetzigen Regierungschefs Stoltenberg war es,
seine Partei nach Jahren der Bedeutungslosigkeit an die
Führungsspitze des Landes zurückzubringen und so an
längere Perioden in der Nachkriegszeit anzuknüpfen.
Damals ging es um den Aufbau des Landes, heute um die Verteilung
des Reichtums, der etwa aus der Produktion und dem Verkauf der
Öl- und Gasvorkommen herrührt. Es geht aber auch um
Umverteilung zwischen Arm und Reich.
17 Tage lang hatten die Koalitionsparteien im
Märchenschloss Soria Moria, einem grossen Holzbau in den vom
Trubel der Hauptstadt fern abgelegenen Wäldern des
Holmenkollen, beraten und verhandelt. Eine gemeinsame und
tragfähige politische Plattform musste her, wie auch eine
Übereinkunft über die Verteilung der Ministerposten
zwischen Parteien, deren Regierungszusammenarbeit man bisher nicht
für möglich gehalten hatte. Begonnen hatten die
Verhandlungen mit einem ausgiebigen Abendsessen. "Man muss
zunächst einmal eine gute Atmosphäre schaffen", hiess es.
Das ist offenbar gelungen, denn die Standpunkte lagen zum Teil weit
auseinander.
"Von jetzt an wird eine neue Etappe für
Norwegen eingeleitet", verspricht der neue Regierungschef. Sowohl
der Inhalt in der Politik werde sich dauerhaft verändern wie
auch die Form des Regierens. Aufgrund der parlamentarischen
Mehrheit werde eine klarere und stabile Politik betrieben werden
können, es werde mehr Verlässlichkeit geben und auch ein
neues Demokratieverständnis. Man wolle weg von neoliberalem
Denken und hin zu mehr Gemeinschaftsgeist, öffentlichem
Engagement und Solidarität mit den schwachen Gruppen im
eigenen Land und in anderen Staaten. Dem taktischen politischen
Spiel zwischen Parteien unterschiedlicher Weltanschauung sei jetzt
erst einmal ein vorläufiges Ende gesetzt, meinte Stoltenberg.
Und nicht zuletzt: "Diese Regierung ist keine
Zwischenlösung."
Die norwegischen Kommentatoren
bestätigen die historische Dimension dieser linken
Dreierkoalition. Zusätzlich zu der Tatsache, dass man seit
langem wieder mit Mehrheit im Rücken regieren kann, ist die
Zusammensetzung dieser Regierung aussergewöhnlich. Die
Sozialistische Linke (SV) brach vor etwa 40 Jahren mit ihrer
früheren sozialdemokratischen Mutterpartei und ging ihre
eigenen Wege. Die Ursache war damals vor allem die Ablehnung der
NATO-Mitgliedschaft Norwegens. Bis vor kurzem galt auch als
undenkbar, dass die Sozialdemokraten mit der Linken koalieren
würden. Trotz weiterer gegensätzlicher Auffassungen,
vornehmlich in der Außen- und Sicherheitspolitik haben sich
die Wogen inzwischen geglättet. Für diese Partei waren
die Koalitionsverhandlungen am schwierigsten, weil man einige
Steckenpferde aus Oppositionszeiten an den Nagel hängen
musste. Die NATO-Mitgliedschaft Norwegens wird inzwischen
toleriert. Spannungen in der Koalition sind allerdings in
Anbetracht der weltpolitischen Lage nicht
ausgeschlossen.
In den ersten Kommentaren ist von einem breit
angelegten Geben und Nehmen die Rede. So hat die Parteivorsitzende
von SV, Kristin Halvorsen (45), das gewichtige Finanzministerium
zugebilligt bekommen - eine enorme Verantwortung in Anbetracht der
vielen Wünsche und Versprechungen, wie auch der Versuchung,
die Milliardenreserven aus dem Reichtum an Naturschätzen auf
Kosten der kommenden Generationen anzuzapfen. Hierbei das
notwendige Augenmaß zu halten, ist die schwierigste Aufgabe
für norwegische Politiker überhaupt, insbesondere
für die Finanzministerin.
Die Partei, die neben den Sozialdemokraten
besonders zufrieden sein kann, ist die linksbürgerliche
Zentrumspartei (SP). Sie hat eine Reihe ihrer Ziele durchsetzen
können, die sich vornehmlich in der bewussten
Berücksichtigung der weit vom Zentrum und der Hauptstadt
entfernt liegenden Randgebiete Norwegens bündeln. In dem
großflächigen Land mit dünner Besiedelung ist eine
staatlich gelenkte Regionalpolitik mit entsprechender finanzieller
Förderung Voraussetzung für das Überleben der
periphären Siedlungen und Arbeitsplätze.
Bei der Verteilung von Kabinettsposten ist
die Zentrumspartei (6,6 Prozent der Stimmen) gut weggekommen.
Sowohl das Ministerium für kommunale Fragen und den
ländlichen Raum, das Landwirtschaftsministerium als auch das
Öl- und Energieministerium und das Verkehrsministerium gehen
an diese Partei, die bisher ihre Regierungserfahrung mit Partnern
aus dem bürgerlichen Lager gesammelt hat. Vor dieser Wahl
wurde eine historische Entscheidung der Zusammenarbeit mit den
Sozialdemokraten getroffen, weil man mit den anderen
bürgerlichen Partnern im eher konservativen Lager aufgrund
angeblich neoliberaler Politik "nicht mehr konnte".
Die politischen Meinungsverschiedenheiten bei
innenpolitischen Fragen, wie die grundsätzliche Bereitschaft
zur Umverteilung des hiesigen öffentlichen Reichtums und der
Ausbau des Wohlfahrtsstaates durch gezielte Unterstützung von
jungen Familien, konnten offenbar etwas leichter überwunden
werden als die Aufgabe jeweiliger politischer Steckenpferde in der
Außen- und Sicherheitspolitik, der Umweltpolitik und der
Energiepolitik. Ein ganz dicker Brocken wurde von vornherein
beiseite geräumt, nämlich eine eventuelle Neuauflage
einer Entscheidung über die zukünftige EU-Mitgliedschaft.
Sie wird in dieser Legislaturperiode nicht auf die Tagesordnung
kommen, sonst platzt die Regierung. Für die beiden kleineren
Koalitionspartner, beide vehemente Gegner einer weiteren formalen
Anbindung des Landes an die EU, war diese Verpflichtung eine
Voraussetzung für ihre Beteiligung an dem Regierungsprojekt
des Sozialdemokraten Stoltenberg. Dieser hat in seiner Partei beide
Auffassungen zu berücksichtigen.
Die Außen- und Sicherheitspolitik wird
aus derzeitiger Sicht ohne radikale Veränderungen in der
bisherigen Spur gehalten werden. Das gilt auch für die
bilaterale Politik gegenüber europäischen Partnern, aber
auch für das norwegische Engagement gegenüber den
Vereinten Nationen und der NATO. Die Regierungserklärung
unterstreicht an verschiedenen Stellen auffällig stark die
Bedeutung von Beschlüssen der UNO als Voraussetzung für
die Lösung internationaler Konflikte. Die UNO war allerdings
schon immer wichtige Verankerung norwegischer Außenpolitik.
Der neue Außenminister, Jonas Gahr Støre (45), ist ein
sehr erfahrener Beamter, der führende Positionen, unter
anderem im Büro der früheren Regierungschefin Gro Harlem
Brundtland und bei Jens Stoltenberg, inne hatte und auch
internationale Erfahrung mitbringt.
Im Energiebereich steht eine Reihe von
Entscheidungen grundsätzlicher Art an. Im Hohen Norden,
vornehmlich in der Barentssee, geht es um die Frage, wie schnell
und umfangreich in Zukunft weiter nach Öl und Gas gesucht und
wie viel und wie schnell produziert werden soll. Norwegen steht als
wichtiger europäischer Energielieferant unter geopolitischem
Druck beim Wettlauf um die Energieversorgung Europas. Es geht
für norwegische Politiker darum, die eigene Position
langfristig nach allen Seiten zu behaupten.
Neben den strategischen Herausforderungen,
bei denen das Land auch Alliierte braucht, stehen Abwägungen
zwischen Wirtschaft und Umwelt auf der Tagesordnung. Die
Umweltorganisationen bringen im Falle eines erhöhten
Explorationstempos im Hohen Norden erhebliche Bedenken gegen die
Gefahr von Umweltkatastrophen vor und wollen ein erhöhtes
Engagement verhindern. Ein weiterer Punkt ist der schon lange
schwelende grundsätzliche Streit um den Bau von Gaskraftwerken
in Norwegen. Dieser kann jetzt als beigelegt angesehen werden. Die
Koalitionspartner haben sich auf die Vergabe von öffentlichen
Mitteln für eine Co2-Reinigungsanlage
verständigt.
Es gibt also viel zu tun in Norwegen. Der
politische Alltag wird vermutlich nicht so rosig werden wie es der
Auftritt der fröhlichen Koalitionäre vor dem
Märchenschloss am Holmenkollen andeutete.
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