Helmut Herles
Das Angedachte muss vollendet werden
Rainer Barzels Mahnungen an die
Politik
Als hätte er das Wahlergebnis geahnt, hat
Rainer Barzel kurz vor der Bundestagswahl sein jüngstes Werk
veröffentlicht. Es ist auch eine Selbsttherapie des
81-jährigen Autors nach schwerer Krankheit. Auch will es
Medizin für die Bundesrepublik Deutschland sein, denn Barzel
wehrt sich gegen Diagnosen wie die des "Dahinsiechens der
Bundesrepublik Deutschland" (Hans-Peter Schwarz).
Abermals setzt sich Barzel - und wieder in
Übereinstimmung mit seinem Freund Helmut Schmidt - für
eine Große Koalition ein. Allerdings nur für eine
Große Koalition auf Zeit, damit sie vollende, was sich Barzel
und Schmidt, die Fraktionsvorsitzenden jener Großen Koalition
von 1966 bis 1969, nur vorgenommen hatten: Die Einführung
eines Mehrheitswahlrechts für 400 in Wahlkreisen direkt zu
wählende und deshalb von ihren Parteien unabhängigere
Abgeordnete. Darüber lohnt sich tatsächlich weit mehr der
Streit als über Sympathiewerte der Demoskopie.
Barzel wusste noch nicht, wie "machtbesessen
und machtvergessen" - frei nach Richard von Weizsäcker - sich
Gerhard Schröder nach dieser vom Zaun gebrochenen
Bundestagswahl aufführen würde, als er an diesen
Bundeskanzler schrieb: "Bevor aus der Berliner Republik wieder
Weimar werden konnte, haben Sie Kraft und Mut gefunden, das
große Gewürge zu beenden. Demokratie zieht wieder ein in
Deutschland. Danke. Glück auf für uns alle! Gott segne
Sie!"
Das ist der alte, leicht übertriebene
Barzel, der manchmal einen strengeren Lektor verdient hätte.
Gelegentlich klingen solche Töne auch im Buch an. Insgesamt
aber ist es ein spannender Essay, den alle gegenwärtig
handelnden Politiker lesen sollten, und nicht nur sein
Koalitionspartner Helmut Schmidt, dessen Aufsatz in der "Zeit"
(22/2003) "Weil Deutschland sich ändern muss" mit Barzels Buch
geistig verwandt ist.
Rainer Barzels Buch ist die erweitere Fassung
eines Vortrages, den er als Zeitzeuge in den Franckeschen Stiftung
in Halle an der Saale gehalten hatte. Barzel empfiehlt eine
Parlamentsreform und bekräftigt die Kritik, wie sie
unlängst Helmut Schmidt in der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" am gegenwärtigen Talk-Show-Parlamentarismus
veröffentlicht und dabei kritisiert hatte, dass Statements auf
den Fluren wichtiger geworden seien als die Debatte im
Plenum.
Barzel stellt den Föderalismus nicht in
Frage, will aber den Bund stärken - und damit auch die von
Schröders und Münteferings Neuwahl-Streich unterbrochene
Arbeit der Föderalismuskommission. Nicht die Länder seien
zu stark, sondern der Bund sei zu schwach. Das sei mehr als die
"Entrümpelung von Kultur- und Finanzkompetenzen".
Barzels Werk ist zeitgeschichtlich wegen
seiner Rolle bei der Herstellung gedeihlicher Beziehungen zu Israel
oder wegen der Korrektur - nicht der Verhinderung! - der
Brandtschen Ostpolitik lesenswert. Sein Laudator Heinrich
Oberreuter ist mit Recht der Meinung, dass diese Leistung des
früheren Oppositionsführers, CDU-Parteivorsitzenden,
Bundesministers und Parlamentspräsidenten bisher zu wenig
gewürdigt worden sei. Die von Barzel bewirkte notwendige
Änderung des Moskauer Vertrages sei eine Grundlage der
späteren Wiedervereinigung gewesen.
Barzels Buch und seine Lebensleistung sind
Bestätigung der Kunst, Vertrauen über Parteigrenzen
hinweg zu schaffen und zu erhalten. Vertrauen setzt er auch in die
Zukunft unseres Landes. Damit will er "deutscher Verzagtheit
entgegentreten".
Rainer Barzel
Was war, wirkt nach?
Wohin geht's mit
Deutschland?
Olzog-Verlag, München 2005; 160 S.,
18,50 Euro
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