Drohpotenzial für den Bundestag
Interview mit Christian Pestalozza
Der Berliner Staatsrechtler Professor Christian
Pestalozza hat die Verfassungen der Bundesländer untersucht
und sieht bei einem Selbstauflösungsrecht des Bundestages
positive Aspekte.
Das Parlament: Das
Bundesverfassungsgericht hat dem Kanzler einen weiten Spielraum
eröffnet, um das Parlament durch eine Vertrauensfrage
gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes aufzulösen. Wozu
wird denn noch ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages
benötigt?
Pestalozza: Ein
Selbstauflösungsrecht bedeutet für jedes Parlament einen
doppelten Zugewinn: Erstens hängt es nicht von der Initiative
oder Billigung irgendeines anderen Verfassungsorgans ab; das
Parlament allein entscheidet und wird damit unabhängiger.
Zweitens erhält das Parlament so ein Drohpotenzial
gegenüber der Regierung, deren Amt mit der Wahlperiode steht
und fällt. Im Moment kann sich der Bundestag von der Regierung
nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum trennen; ein
Selbstauflösungsrecht würde bedeuten, dass der Bundestag
die Regierung stürzen kann, ohne sofortigen Ersatz
bereitzustellen - allerdings um den Preis des eigenen Freitodes.
Artikel 68 des Grundgesetzes bedarf im Übrigen - nach seiner
Verzerrung und Aufweichung durch das Bundesverfassungsgericht -
dringend der Reform. Der Bundestag sollte noch ein zweites Mal
eingeschaltet werden müssen - so wie ja auch der Bundeskanzler
schon jetzt zweimal mit Vertrauensantrag und Auflösungsantrag
beteiligt ist. Zur zweiten Beteiligung des Bundestages sollte es
kommen, wenn der Bundeskanzler aus der Versagung des Vertrauens die
Konsequenz gezogen hat, den Bundespräsidenten um die
Auflösung des Bundestages zu bitten. Da dies der Zeitpunkt
ist, wo es ernst wird, sollte der Bundestag die Möglichkeit
erhalten, mit qualifizierter Mehrheit von zwei Dritteln oder drei
Vierteln die Auflösungsbitte zu unterstützen oder eben
auch nicht. Eine Auflösung des Parlamentes durch den
Bundespräsidenten dürfte dann nur erfolgen, wenn
außer dem Antrag des Kanzlers auch eine qualifizierte Mehrheit
des Bundestages bei der zweiten Abstimmung vorliegt.
Das Parlament: Entstünde durch
ein Selbstauflösungsrecht nicht die Gefahr politischer
Instabilität? Schließlich hätten die Abgeordneten
dann die Möglichkeit, sich bei großen politischen
Problemen ihrer Verantwortung zu entziehen?
Pestalozza: Diese Gefahr sehe ich
nicht; die bisherige Praxis in den Bundesländern, die ja alle
ein Selbstauflösungsrecht kennen, gibt auch keinerlei
Anhaltspunkte in diese Richtung. Alles andere wäre auch
verwunderlich. Warum sollten Abgeordnete ihr Mandat vorzeitig
aufgeben und sich dem Risiko der Nichtwiederaufstellung oder
Nichtwiederwahl aussetzen? Ich kenne niemanden, der dies getan
hätte oder tun wollte, um sich "seiner Verantwortung zu
entziehen". Mit dem Mandat übernimmt der Abgeordnete ohnehin
eine außerordentliche Verantwortung, freiwillig und
wissentlich.
Das Parlament: Schon jetzt wird
argumentiert, dass politisches Handeln zu kurzfristig sei.
Würde dieser Effekt durch ein Selbstauflösungsrecht nicht
noch verstärkt?
Pestalozza: Zehn unserer
Bundesländer kennen deswegen eine fünfjährige
Wahlperiode; die vierjährige erscheint ihnen angesichts der
Größe und Langfristigkeit der vom Parlament in Angriff zu
nehmenden Aufgaben nicht mehr ausreichend. Jede Verkürzung
durch vorzeitige Selbstauflösung läuft solchen
Überlegungen natürlich zuwider. Das gilt aber für
die Fremdauflösung genauso und ist kein wirkliches Argument,
weil man darauf vertrauen kann, dass jedes Parlament nur in
größter Not zur vorzeitigen Auflösung greifen wird;
also zum Beispiel dann, wenn langfristige Politik wegen der
aktuellen politischen Lage gerade nicht mehr möglich
ist.
Das Parlament: Die Fraktionen im
Bundestag werden immer mehr, aber auch immer kleiner. Wie kann der
Schutz von Minderheiten oder auch von einzelnen Abgeordneten bei
einem Selbstauflösungsrecht gewahrt werden?
Pestalozza: Unabhängig von der
Größe und Zahl der Fraktionen muss gewährleistet
sein, dass nicht zu viele Abgeordnete durch auflösungsbereite
Parlamentarier gegen ihren Willen ihr Mandat verlieren können.
Bereits der Antrag auf Selbstauflösung sollte deswegen nur von
einer Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gestellt werden
können, und die Entscheidung zugunsten eines solchen Antrages
sollten nur drei Viertel oder mindestens doch zwei Drittel der
Abgeordneten treffen können.
Das Parlament: Welchen weiteren
Voraussetzungen sollte ein Selbstauflösungsrecht
unterliegen?
Pestalozza: Abgesehen von den beiden
genannten Quoren sollte die Selbstauflösung an keinerlei
inhaltliche Voraussetzungen geknüpft werden. So sehen es zu
Recht auch alle Landesverfassungen. Ein parlamentarisches Votum ist
ein Votum, das für sich steht und nicht auf Motive hinterfragt
oder an Bedingungen geknüpft werden sollte.
Das Parlament: Herr Pestalozza, wir
danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Kai Nitschke
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