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Stephan Hille
Das Plansoll der Normalisierung ist
erfüllt
Tschetschenien nach der Parlamentswahl - formal
ist das Land befriedet
Nur zwei Tage nach der friedlichen Parlamentswahl vom 27.
November kehrte der blutige Alltag nach Tschetschenien zurück.
Rebellen erschossen im Dorf Awtury, rund 30 Kilometer
südöstlich von Grosny, den Bürgermeister und seinen
Sohn in ihrem eigenen Haus. Sieht so also die "wieder hergestellte
verfassungsmäßige Ordnung" aus, zu der Russlands
Präsident Wladimir Putin am Tag nach der Wahl gratulierte?
Dass die Wahl in Russlands Unruheprovinz überhaupt glatt
über die politische Schaubühne gegangen war, feierte
Tschetscheniens Präsident Alu Alchanow bereits als "Beweis
für die Stabilität der Republik". Das Wunschziel, ein
deutlicher Sieg der Kreml-Partei "Einheitliches Russland", ist zwar
erreicht, doch von tatsächlichem Frieden und Stabilität
gibt es keine Spur. Das letzte gewählte tschetschenische
Parlament brach Ende 1999 unter den Bomben des zweiten
Tschetschenienkrieges, den Putin noch als Ministerpräsident
befohlen hatte, auseinander. Der Feldzug kostete Zehntausende das
Leben und legte die kleine Republik - so groß wie
Thüringen - erneut in Trümmer. Den damals unbekannten und
farblosen Putin machte der Krieg indessen populär und hievte
ihn schließlich auf den Präsidentensessel im Kreml.
Offiziell gilt der Krieg, den Moskau stets als
"Antiterroroperation" bezeichnet hatte, seit vier Jahren als
beendet. Tatsächlich geht der bewaffnete Untergrundkampf
bereits ins siebte Jahr.
Die jüngste Parlamentswahl, bei der knapp 600.000
Wahlberechtigte aufgerufen waren, 58 Abgeordnete für ein neues
Parlament zu bestellen, ist aus Sicht des Kremls der
abschließende Akt, die Trümmerlandschaft Tschetscheniens
nach den Interessen Moskaus politisch neu zu ordnen. Den Anfang
machte die Volksabstimmung über eine neue Verfassung im
März 2003. Nach offiziellen Angaben stimmten damals 95,5
Prozent für eine neue Verfassung und den Verbleib
Tschetscheniens in der Russischen Föderation. Im Oktober 2003
ließ der Kreml seinen loyalen Statthalter in Tschetschenien
Achmad Kadyrow zum Präsidenten wählen. Doch der einstige
Mufti von Tschetschenien, der im ersten Krieg noch gegen die Russen
gekämpft hatte, überlebte nicht einmal das erste Jahr im
Amt. Nachdem der von vielen Tschetschenen verhasste Präsident
im Mai 2004 bei einem Bombenanschlag starb, rief der Kreml die
Bevölkerung erneut an die Urnen, um den ehemaligen
Innenminister Alu Alchanow an die Spitze der Republik zu
wählen. Wie schon bei der vorherigen Wahl wurden alle anderen
aussichtsreichen Gegenkandidaten aus zum Teil fadenscheinigen
Gründen frühzeitig aus dem Rennen genommen. Bei allen
drei Abstimmungen wurde das vom Kreml erwünschte Ergebnis
unabhängigen Wahlbeobachtern zufolge nur durch massive
Manipulationen erzielt.
Der derzeitige Präsident Alchanow gilt nur als eine
Übergangsfigur. Der mächtige Mann Tschetscheniens
heißt Ramsan Kadyrow, Sohn des ermordeten Präsidenten und
Kommandeur einer gefürchteten Privatarmee, die für viele
Greueltaten in Tschetschenien verantwortlich gemacht wird. Bis zu
5.000 Mann soll der 29-Jährige unter Waffen haben. Kadyrow
junior, von Putin als "Held Russlands" ausgezeichnet, wird vom
Kreml protegiert. Nur sein Alter - die Verfassung schreibt ein
Mindestalter von 30 Jahren vor - hält ihn vom
Präsidentenamt fern. Um bei der jüngsten Wahl ein
möglichst loyales Parlament zu bestellen, ließ Kadyrow in
allen Parteien mehrheitlich seine Anhänger auf die Wahllisten
setzen. Offenbar mit Erfolg, wie das hohe Wahlergebnis zugunsten
der Kreml-Partei "Einheitliches Russland", deren Parteibuch auch
Kadyrow trägt, zeigt.
Das Plansoll ist erfüllt: Formal hat der Kreml sein Ziel
der "Normalisierung" der geschundenen Kaukasusrepublik erreicht.
Putin hat die Befriedung des Konfliktes in örtliche Hände
- von ihm ernannte Gewährsleute - gelegt und die politische
Selbstverwaltung wieder hergestellt. Doch diese Lösung ist der
"potemkinsche" Versuch, die anhaltende Gewalt und Instabilität
in Tschetschenien zu kaschieren. Eine bedeutende Rolle dürfte
diese frisch gewählte Volksvertretung kaum spielen.
Denn die wahre Macht geht in Tschetschenien nicht von
politischen Institutionen, sondern von den Waffenträgern aus.
Und hier haben sich in den vergangenen drei Jahren die Gewichte
verschoben: Von der russischen Streitmacht zu Ramsan Kadyrows
Privatarmee, die das Land mit Morden und Entführungen in Atem
hält. Um die tschetschenischen Rebellen in den Bergen zum
Aufgeben zu bewegen, sind Kadyrows Milizen dazu übergegangen,
Familienangehörige der Rebellen als Geiseln zu nehmen. Beinahe
täglich verschwinden in Tschetschenien unschuldige Zivilisten.
De facto herrscht in der Republik ein Regime der Angst und der
absoluten Rechtlosigkeit.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schätzt,
dass in Tschetschenien seit Beginn des zweiten Krieges zwischen
3.000 und 5.000 Menschen "verschwunden" sind. Parallel vergehen
sich russische Soldaten weiterhin an der Bevölkerung, ohne
eine Strafverfolgung fürchten zu müssen. So wurden erst
vor zwei Wochen drei Zivilisten an einem russischen Armeeposten
erschossen, weil sie sich geweigert hatten, den betrunkenen
Soldaten ein Schutzgeld zu zahlen. Die andauernde Willkür und
Gewalt aber führt den Rebellen immer wieder frischen Nachwuchs
zu.
Der Konflikt in Tschetschenien läuft schon längst
nicht mehr ausschließlich entlang ethnischer Linien. Der
Zustand "weder Krieg noch Frieden" ist für viele lukrativ, die
schwarz gefördertes Öl verkaufen oder Wiederaufbaugelder
veruntreuen. Russische Soldaten und Angehörige aus der
tschetschenischen Zivilverwaltung verdienen sich bei krummen
Geschäften eine goldene Nase. Der eigentliche Wiederaufbau des
zerstörten Landes findet höchstens auf dem Papier
statt.
Über alldem hält ganz offenbar der Kreml seine
schützende Hand. Und Präsident Putin dürfte
über die katastrophale Lage im Nordkaukasus bestens informiert
sein. Erst kürzlich hatte Dimitri Kosak, ein hoher
Staatsbeamter und Putins Sonderbeauftragter für den Süden
Russlands, treffend analysiert, dass nicht der islamistische Terror
oder die Radikalisierung der Kämpfer für die explosive
und destabilisierende Lage verantwortlich seien, sondern in erster
Linie die korrupten lokalen Eliten, also die Vertreter der
russischen Staatsmacht. So verkommen Tschetschenien und inzwischen
auch die Nachbarrepubliken immer mehr zum Armenhaus unter
politischer Willkür. Die Folge, so Kosak, sei nur eine weitere
Radikalisierung innerhalb der Bevölkerung. Doch im Kreml
stieß diese Analyse offenbar auf taube Ohren. Von Frieden ist
Tschetschenien nach wie vor weit entfernt. Die Zeichen im Kaukasus
stehen eher auf Sturm.
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