Detlev Lücke
Posaunen, Dialekt und Dialektik
Landolf Scherzers Inspektion der innerdeutschen
Grenze
Unlängst kündigte der Kabarettist und Schauspieler
Ottfried Fischer in seiner Sendung "Ottis Schlachthof" (Bayerischer
Rundfunk) einen "wunderbaren Thüringer" an. Der betrat die
Münchner Kleinkunstbühne in einem Indianerkostüm und
teilte dem Publikum unter anderem singend mit, die Weitspringerin
Heike Drechsler aus Jena könne ebenso gut aus
Weißrussland stammen und die Kulturministerin Dagmar
Schipanski aus Sofia.
Recht seltsame landsmannschaftliche Äußerungen auf
Hochdeutsch, bis sich herausstellte, dass die lieblose Rothaut aus
einer Kölner Reihenhaussiedlung stammt und nach der Wende im
grünen Herzen Deutschlands Profilierungs- wie
Abgrenzungsmöglichkeiten suchte, die im gemütlichen
Inländergehetze der genannten Sendung wohlwollende Aufnahme
bei den fleißigen Klischeeproduzenten fand.
Landolf Scherzer ist in seinem Buch sorgfältiger
vorgegangen. Mehrere Monate lang hat er im vergangenen und in
diesem Jahr das ehemalige Grenzgebiet zwischen Thüringen sowie
Bayern und Hessen begangen. Sein Grenzgang führte ihn von
Gräfenthal im Osten bis Philippsthal im Westen. Scherzer, ein
guter, weil genauer Reporter, hat die Menschen auf beiden Seiten
der einstigen Grenze in ihren Dörfern und Kleinstädten
besucht, hat sie nach Trennendem und Verbindendem gefragt, hat bei
ihnen gegessen und übernachtet. Verbunden hat die Menschen
seit Jahrhunderten der gemeinsame fränkische Dialekt; getrennt
hat sie die einige Jahrzehnte währende unterschiedliche
Dialektik des alltäglichen Lebens im Schatten von
Wachtürmen und Stacheldraht.
Dass diese Zwangstrennung leider auch 15 Jahre nach der
Wiedervereinigung noch immer "funktioniert", zeigt Scherzer am
Beispiel der Nachbarstädte Sonneberg (Ost) und Neustadt
(West). Dort will man wenig miteinander zu tun haben. Die Euphorie
der ersten Wochen nach der Grenzöffnung ist verflogen,
wofür vor allem wirtschaftliche Gründe stehen. Neustadt
bekommt keine Zonenrandgebietsförderung mehr, Sonneberg, die
bekannte Spielzeugstadt, gelangt wieder zu jener Dominanz, die sie
schon vor dem Zweiten Weltkrieg besaß.
Dass es auch anders geht, zeigt sich am Beispiel der
Thüringer Gemeinde Heinersdorf, die im 500-Meter-Streifen an
der Grenze lag. Dort marschierten im November 1989 auf beiden
Seiten der Grenze Blasorchester auf und nahmen sich offensichtlich
die Posaunen von Jericho zum Vorbild. An diesen musikalischen
Aufstand erinnert man sich auch heute noch auf beiden Seiten
gern.
Ein Heinersdorfer hat für seine alten Eltern auf der
Höhe über dem Ort wieder eine Bank errichtet, wie sie
dort seit langem stand und von den "Grenzorganen", sprich Stasi,
aus Sicherheitsgründen entfernt worden war. Jetzt hat man
wieder einen freien Blick ins bayerische Nachbarbundesland.
Landolf Scherzer ist insgesamt 440 Kilometer auf dem ehemaligen
so genannten Kolonnenweg marschiert, einer Betonstraße
für die Patrouillen der DDR-Grenztruppen. Mancher Grenzsoldat
blieb nach seinem Dienst aus Liebesgründen in den abgelegenen
Dörfern "hängen" und diente Scherzer als kundiger
Berichterstatter über vergangene Zeiten.
Aus den Berichten der Betroffenen in den bayerischen,
thüringischen und hessischen Grenzgemeinden ist eine
lesenswerte, höchst authentische Geschichte entstanden. Die
letzten Kilometer ist Landolf Scherzer gemeinsam mit seinem
Kollegen Günter Wallraff gelaufen. Dadurch schien der Autor
etwa abgelenkt zu sein, so dass man das Buch fast ein wenig
erschöpft beiseite legt, wie Scherzer es nach seiner tour de
frontier wohl auch gewesen ist.
Man bekommt Lust, selber nach Alpha point, dem Beobachtungsturm
der Amerikaner zu schauen oder nach Spechtsbrunn zu gehen, wo jener
Teil des Rennsteigs verläuft, der zu Ostzeiten notgedrungen
zur terra incognita wurde. Oder nach jenen armen Frauen in einem
abgelegenen hessischen Weiler zu suchen, die der Meinung sind, die
Ostler würden Katzen klauen, um sie für Tierversuche zu
verkaufen. Vielleicht ein Thema für Ottis Schlachthof?
Landolf Scherzer
Der Grenzgänger.
Aufbau Verlag, Berlin 2005; 394 S., 19,90 Euro
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