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Günter Pursch
Merkel will mehr Freiheit wagen
Opposition kritisiert geplante
Mehrwertsteuererhöhung
Deutschland soll mit einer Politik der kleinen,
aber konsequenten Schritte wieder zu einer der drei stärksten
Wirtschaftsnationen in Europa werden. Dies hob Bundeskanzlerin
Angela Merkel am 30. November in ihrer ersten
Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag in Berlin
hervor. "Wir werden eine Regierung der Taten sein", versprach sie
und forderte den Mut zur Überwindung alter Rituale. Für
die Opposition warf FDP-Chef Guido Westerwelle der Kanzlerin vor,
sie betreibe eine "Politik der Trippelschritte". Die Große
Koalition sei ein Bündnis "des kleinsten gemeinsamen
Nenners".
Zunächst nahm Merkel zu der im Irak
entführten deutschen Archäologin Susanne Osthoff Stellung
und sprach den Angehörigen ihr Mitgefühl aus. Sie
kündigte einen entschiedenen Kampf gegen den Terrorismus an.
"Wir lassen uns nicht erpressen", erklärte sie. Die
Bundesregierung werde alle Anstrengungen unternehmen, um das Leben
Osthoffs und ihres irakischen Fahrers zu schützen.
Ein klares Bekenntnis legte Merkel zu den
zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarten tief greifenden Reformen ab.
Man habe viele "dicke Bretter" zu bohren. So stehe die Neuordnung
des Föderalismus an, der Arbeitmarkt müsse wieder fit
gemacht werden, Schulen und Hochschulen seien wieder an die Spitze
zu bringen und die Verschuldung müsse zurückgeführt
werden. Überflüssige Bürokratie müsse abgebaut
und das Gesundheits- und Rentensystem sowie die Pflegeversicherung
müssten in Ordnung gebracht werden. Sie sprach sich für
"eine neue Gerechtigkeit" aber auch für "weniger Missbrauch"
in der Sozialpolitik aus. Auch künftig müsse den
Schwachen geholfen werden. Dafür würden die
Arbeitsmarktreformen fortgeführt.
Ausdrücklich dankte sie ihrem
Vorgänger im Kanzleramt. Gerhard Schröder habe mit seiner
"Agenda 2010" die Tür geöffnet, um die Sozialsysteme zu
modernisieren. In Anlehnung an das Wort von Willy Brandt (SPD),
"mehr Demokratie wagen" zu wollen, formulierte Merkel: "Lasst uns
mehr Freiheit wagen."
Westerwelle nahm diesen Faden auf:
"Steuererhöhungen sind ein Stück mehr Unfreiheit für
die Bürger." Die Große Koalition müsse sich, was
Vertrauen und Anerkennung betreffe, ihren Namen erst noch
verdienen, unterstrich der FDP-Vorsitzende.
Damit die Große Koalition erfolgreich
sein kann, benötigt sie nach den Worten des
SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck vor allem Vertrauen und
Verlässlichkeit im gegenseitigen Umgang von Union und
Sozialdemokraten. Er zeigte sich optimistisch, dass das
Bündnis über die gesamte vierjährige
Legislaturperiode halten werden. Seine Fraktion werde selbstbewusst
prüfen, was die Regierung an Gesetzen vorlege. Auch
künftig werde dabei meist die Regel gelten, dass keine
Regierungsvorlage vom Bundestag unverändert verabschiedet
werde.
Für die CDU/CSU appellierte der
Fraktionsvorsitzender Volker Kauder an die Bürger, bei den
Reformvorhaben der neuen Regierung am gleichen Strang zu ziehen. Er
warnte vor einem Davonlaufen. "Weglaufen ist das Gegenteil von
Verantwortung". Wer mitmache, "dient Deutschland. Wer mitmacht, ist
ein Patriot." Zentrale Aufgabe der Großen Koalition sei die
Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Zugleich warnte Kauder
vor einem Vorpreschen einzelner Politiker innerhalb des
Bündnisses. "Die Gesundheitspolitik ist ein Beispiel
dafür, dass wir noch lernen müssen, zunächst intern
miteinander zu reden, bevor wir öffentlich Vorschläge
machen." Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) war mit
ihrem Vorstoß für die Gleichbehandlung von Privat- und
Kassenpatienten auf Kritik gestoßen.
Gregor Gysi, Fraktionschef der Linkspartei,
warf der Regierung wegen der geplanten Erhöhung der
Mehrwertsteuer eine verfehlte Politik vor. In diesem Zusammenhang
beschuldigte er die Sozialdemokraten, Wahlbetrug zu
betreiben.
Bei den "kleinen Schritten" der Regierung ist
für Fritz Kuhn, Vorsitzender der Fraktion von Bündnis
90/Die Grünen, die Richtung nicht erkennbar. Das seien
"Häppchen für jeden", aber "man weiß nicht, was es
zu essen gibt".
Die von den Oppositionsfraktionen FDP, Die
Linke sowie Bündnis 90/Die Grünen getrennt eingebrachten
Entschließungsanträge auf den Drucksachen 16/91, 16/112/
und 16/114 wurden abgelehnt.
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