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15. Wahlperiode
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   12. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 20. Januar 2006

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns zusammen gute, zielführende Beratungen.

   Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 12:

Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten

Jahresbericht 2004 (46. Bericht)

- Drucksache 15/5000 -

Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich erteile zunächst dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Herrn Reinhold Robbe, das Wort.

Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute zur Beratung anstehende Jahresbericht 2004 ist der letzte, der noch unter meinem Vorgänger Dr. Willfried Penner entstanden ist. Die besonderen Verdienste von Willfried Penner sind anlässlich seiner Verabschiedung gerade auch hier im deutschen Parlament von allen Seiten gewürdigt worden.

   Gestatten Sie mir an dieser Stelle, Willfried Penner darüber hinaus noch einmal persönlich meinen ausdrücklichen Dank für seine Arbeit auszusprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Er hat mir den Einstieg in meine neue Aufgabe ganz wesentlich erleichtert. Beim Amtsantritt fand ich ein gut bestelltes Haus mit engagierten und fachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor. Auch ihnen will ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich für ihre Unterstützung danken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

   Der Jahresbericht 2004 ist in erster Linie wieder ein Mängelbericht. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und bietet kein Abbild der Bundeswehr in ihrer Gänze. Er zeigt aber durchaus Entwicklungen und Tendenzen auf, die Anstoß für parlamentarisches Handeln sein können.

   Ungeachtet des grundsätzlichen Befundes, dass die Bundeswehr insgesamt eine gute Truppe ist, würde ich im Ganzen gesehen meinen verfassungsmäßigen Auftrag verfehlen, wenn ich nicht auch im Jubiläumsjahr der Streitkräfte an dieser Stelle auf Mängel, Missstände, Fehlverhalten und Defizite hinweisen würde. Die Soldaten und Soldatinnen leben heute im Spannungsfeld zwischen vermehrten sicherheitspolitischen Notwendigkeiten und aus meiner Sicht zu knapp bemessenen - das muss man ganz deutlich sagen - Haushaltsmitteln.

   Die Soldatinnen und Soldaten waren im Berichtsjahr 2004 äußerst gefordert, teilweise bis über die Grenze des Zumutbaren hinaus. Personelle Engpässe und daraus resultierende Doppel- und Mehrfachbelastungen bestimmen den Truppenalltag, und zwar im Jahr 2004 genauso wie heute. Bei vielen herrscht großer Unmut darüber, dass von ihnen die Bereitschaft zur Landesverteidigung sowie ein Beitrag zur Sicherung des Friedens und der Menschenrechte von Khartoum bis Kabul erwartet werden, während sie und ihre Familien gleichzeitig empfindliche finanzielle Einbußen erfahren müssen. Die Liste reicht von einer unterschiedlichen Besoldung in Ost und West über den Wegfall des Urlaubsgeldes bis hin zu Einschnitten beim Weihnachtsgeld. „Mehr Leistung, weniger Geld“ - auf diese kurze Formel hat ein Soldat bei einem meiner Truppenbesuche seinen Unmut gebracht.

   Das Rückgrat der Armee wird nicht von gut besoldeten Generalen und Stabsoffizieren gebildet, sondern von den Portepee-Unteroffizieren, die zusammen mit den Unteroffizieren und Mannschaften den mittleren und niederen Besoldungsgruppen angehören, wie wir alle wissen.

   Seit 15 Jahren werden die Streitkräfte nun von tief greifenden Veränderungen in Atem gehalten. Von keiner anderen Berufsgruppe in unserer Gesellschaft ist im letzten Jahrzehnt so viel an Veränderung erwartet worden und keine andere Gruppe hat dies mit größerer Professionalität und dabei mit so wenig Protest bewältigt wie unsere Soldatinnen und Soldaten. Ebenso wie mein Vorgänger sage ich: Die Streitkräfte brauchen dringend eine Phase der Konsolidierung und Erholung. Ihre Angehörigen brauchen endgültige Planungssicherheit.

   Aus der Fülle der Erkenntnisse des vorliegenden Jahresberichts 2004 möchte ich in aller gebotenen Kürze einige wichtige Elemente herausgreifen, ohne dabei die übrigen Anliegen geringer einschätzen zu wollen. Ich nenne die einzelnen Stichworte.

   Stichwort „Bundeswehr im Einsatz“: Den Soldatinnen und Soldaten ist bewusst, dass sie unter schwierigen Umständen Dienst leisten müssen. Sie wissen, dass ihr Dienst jeden Tag mit Gefahren verbunden ist. Der Gedanke an Verwundung und Tod ist vielen - zumindest unterschwellig - ein ständiger Begleiter. Gleichwohl erfüllen sie ihre Aufgabe hoch motiviert und engagiert. Dafür gebührt den Soldatinnen und Soldaten Dank und Anerkennung. Das sage ich, glaube ich, im Namen des gesamten Hauses.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Umso mehr gilt die Verpflichtung, alles dafür zu tun, den größtmöglichen Schutz durch beste Ausbildung und Ausrüstung, eine exzellente Sanitätsfürsorge einschließlich einer optimalen Rettungskette, eine fürsorgliche Betreuung auch der Familienangehörigen und die bestmögliche soziale Absicherung zu gewährleisten. Die schrecklichen Anschläge auf Bundeswehrsoldaten im Berichtsjahr wie auch danach haben uns allen vor Augen geführt, wie wichtig diese Forderungen sind.

   Manche Soldaten stellen die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Einsätze. Hier ist der Dienstherr gefordert, der Stellung bezieht und Zweifel ausräumt; denn es geht um nicht weniger als das Vertrauen in die Entscheidungen von Regierung und Parlament. Verweise auf Bundestagsbeschlüsse oder Broschüren des Einsatzführungskommandos reichen an dieser Stelle nicht aus. Besondere Bedeutung kommt hier dem Instrument der politischen Bildung in der Bundeswehr zu. Von Angesicht zu Angesicht gilt es zu vermitteln, warum und mit welchem Ziel Deutschland in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan, am Horn von Afrika, in Georgien, in Eritrea und im Sudan Verantwortung übernommen hat.

   Stichwort „Personalwesen“: Dieser Bereich macht ein gutes Drittel der Eingaben aus und bildet den Schwerpunkt der Gespräche mit den Soldaten. Beförderungswesen, Beförderungsstrategien, fehlende Weiterverpflichtungsmöglichkeiten, Versetzungen, unzulängliche Antragsbearbeitung, Probleme beim Berufsförderungsdienst sowie bei der zivilen Aus- und Weiterbildung, Personalgewinnung - auch aus der Truppe heraus - und Stellenbesetzungshoheit, das sind die Themen, die den Soldatinnen und Soldaten schwer im Magen liegen. Das Attraktivitätsprogramm der Bundeswehr hat vielen Vorteile gebracht. Für die altgedienten Portepee-Unteroffiziere hingegen ist es nach wie vor alles andere als befriedigend. Trotz ihrer großen militärischen Erfahrung und ihrer Qualitäten in der Menschenführung müssen sie immer wieder erleben, dass jüngere Kameraden, die sie teilweise selbst ausgebildet haben, an ihnen vorbeiziehen. Hier auf ein „Auswachsen“ des Problems, quasi auf eine biologische Lösung, zu setzen, hielte ich für geradezu zynisch.

   Stichwort „Frauen in der Bundeswehr“: Die Frauen sind in der Bundeswehr angekommen. Sie wünschen keine Sonderregelungen und werden durchweg von ihren Kameraden akzeptiert. Allerdings werden Fragen nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach Teilzeitmöglichkeiten und Betreuungseinrichtungen immer drängender.

   Stichwort „Misshandlungen“: Den Gesamtkomplex Coesfeld - die Verteidigungspolitiker wissen, was sich dahinter verbirgt - abschließend zu beurteilen, wäre verfrüht.

Die strafrechtlichen Verfahren dauern an, die entsprechenden Disziplinarverfahren sind so lange ausgesetzt. Aber: Coesfeld ist in Art und Ausmaß ein singuläres Ereignis geblieben. Das ist an dieser Stelle ausdrücklich festzuhalten. Es gilt, was mein Vorgänger im Dezember 2004 an dieser Stelle zu den Vorgängen in Coesfeld ausgeführt hat - ich zitiere -:

Die Bundeswehr ist keine Armee der Schleifer und Drangsalierer. Die Masse der 12 000 Ausbilder gibt dienstlich keinen Anlass zu Beanstandungen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt und damit gesellschaftlich geächtet zu werden. Ganz im Gegenteil: Sie sind rechtstreu und versehen einen wichtigen Dienst für die Bundeswehr und die Soldaten.

   Stichwort „Rechtsextremismus“: Der Bericht nennt 134 besondere Vorkommnisse, wie es heißt, mit Verdacht - ich betone: Verdacht - auf rechtsextremistischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund. In der Masse der aufgeklärten Fälle handelt es sich um so genannte Propagandadelikte, zu über 60 Prozent von Grundwehrdienstleistenden begangen. Überwiegend hat die Bundeswehr darauf angemessen und richtig reagiert.

   Stichwort „Soldatenbetreuung“: Die Betreuung der Soldatinnen und Soldaten im Inland und im Einsatz ist ein wesentliches Element der Fürsorgepflicht. Die kirchlichen Arbeitsgemeinschaften mit ihrem übergreifenden Angebot in Form von Betreuungseinrichtungen - Stichwort „Oase“ - verdienen nicht nur Anerkennung, sondern auch volle Unterstützung.

   Meine Damen und Herren, die Themen, die ich hier nur kurz aufgreifen kann, werden sich auch in dem Bericht, den ich Ihnen im März 2006 erstmals in eigener Verantwortung vorlege, allesamt wiederfinden. Nur so viel vorweg: Das Eingabeaufkommen ist bei gesunkener Truppenstärke im Prinzip unverändert hoch.

   Aus aktuellem Anlass und unabhängig vom Jahresbericht 2004 will ich abschließend die Gelegenheit nutzen, auf einen besonderen Aspekt hinzuweisen: Nicht allen Teilen der Öffentlichkeit und offensichtlich auch des Parlaments ist bewusst, dass beim deutschen Bundesnachrichtendienst auch Soldaten tätig sind und dort wichtige und nach Auffassung der Verantwortlichen unverzichtbare Aufgaben erfüllen. Ohne den Sachverstand und ohne die speziellen Fähigkeiten der Soldaten könnte der BND seine Aufgabe nicht im erforderlichen Umfang und in der gebotenen Qualität wahrnehmen. Gerade diese Soldaten, um die ich mich als Wehrbeauftragter ebenfalls zu kümmern habe, stehen aus meiner Sicht ebenso wie ihre regulär eingesetzten Kameraden bei der Bundeswehr in der Fürsorge ihres Dienstgebers und insbesondere auch des deutschen Parlaments. Auch diese Soldaten beim Bundesnachrichtendienst haben die berechtigte Erwartungshaltung - insofern mache ich mich an dieser Stelle zum Sprachrohr -, dass ihre Leistungen und besonderen Verdienste gewürdigt und anerkannt werden. Auch diese Soldaten dürfen mit Recht erwarten, dass sie gegen unbegründete Verdächtigungen in Schutz genommen werden. Ich sage das an dieser Stelle mit Bedacht und verbinde das mit der herzlichen Bitte, bei den notwendigen Debatten nicht zu vergessen, dass gerade die zivilen und militärischen Angehörigen des BND ganz besonderen persönlichen Gefahren und Gefährdungen ausgesetzt sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Gestatten Sie Ihrem ehemaligen Kollegen und dem jetzigen Wehrbeauftragten zum Abschluss ein persönliches Wort. Ich freue mich, dass der neue Präsident des Deutschen Bundestages ein offenes Ohr und auch ein Herz für die Belange der Bundeswehr hat. Ich sage das mit Nachdruck und mit großer Dankbarkeit. Die Zusammenarbeit mit ihm und mit dem gesamten Präsidium des Deutschen Bundestages erweist sich jetzt als wohltuend. Das gilt im Übrigen auch für den gesamten Verteidigungsausschuss. Auch an die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen und an die neuen Mitglieder des Verteidigungsausschusses geht mein herzlicher Dank für die gute Aufnahme und wirklich freundschaftliche und konstruktive Zusammenarbeit.

   Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Deutsche Bundestag im März 2006 nicht um persönlicher Eitelkeiten willen - darauf will ich ausdrücklich hinweisen -, sondern in dem Wissen um die Notwendigkeit der Institution Wehrbeauftragter das 50-jährige Bestehen des Verfassungsinstituts Wehrbeauftragter in angemessener Weise würdigen sollte.

   Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass nur wir in Deutschland über diese Institution, über dieses Amt verfügen. Nur wir messen dieser Funktion einen so hohen Stellenwert bei. Dass wir über diese Institution seit 50 Jahren verfügen, ist ein Grund, ein wenig zu feiern.

   Ihnen allen, meine Damen und Herren, namentlich auch der Bundesregierung unter unserer neuen Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel und auch dem Bundesverteidigungsminister Dr. Franz Josef Jung, biete ich eine vertrauensvolle und konstruktiv-kritische Zusammenarbeit an. Das schließt nicht aus, dass ich meine Stimme immer wieder warnend und mahnend erheben muss, wenn meine Sachwalterschaft für die Soldatinnen und Soldaten dies erforderlich macht.

   Ich danke Ihnen sehr für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Robbe, Sie haben gerade mit Zustimmung des ganzen Hauses den Soldatinnen und Soldaten für ihre Arbeit gedankt. Ich möchte gern vor Eintritt in die Aussprache - sicher ebenfalls im Namen des Hauses - Ihnen und all Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Ihre Arbeit danken. Ich habe vor Weihnachten Gelegenheit gehabt, mir einen persönlichen Eindruck von der Arbeit dieser Institution zu machen. Meine Vermutung ist bestätigt worden, dass die Motivation und der Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ähnlich eindrucksvoll sind, wie Sie es gerade zu Recht von den Soldaten berichtet haben.

   Im Übrigen ist Ihre Vermutung über meine Sympathie für Ihre Arbeit begründet, was sich in dem großzügigen Zuschlag für Ihre Redezeit sofort bestätigt hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, es ist das erste Mal, dass ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin an dieser Debatte teilnimmt. Herzlichen Dank, dass Sie da sind!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

   Im Herbst 2005 konnten wir auf 50 erfolgreiche Jahre Bundeswehr zurückblicken. Die Bundeswehr ist ein fester Anker unserer Demokratie. Dazu hat das Amt des Wehrbeauftragten entscheidend beigetragen. Lieber Herr Robbe, wir von der Unionsfraktion werden mit Ihnen wie schon mit Ihrem Vorgänger gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten.

   Als Parlamentarier müssen wir uns den kritischen Punkten im aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten stellen. Gemessen an der Truppenstärke der Bundeswehr sind 6 154 Eingaben ein Maximum. Anders ausgedrückt: Noch nie hatten so wenige Soldaten so viele Sorgen.

   Im Jahre 2004 waren durchschnittlich 6 900 deutsche Soldaten im Auslandseinsatz, viele von ihnen in risikoreichen Regionen wie dem Kosovo oder Afghanistan. Die Soldaten benötigen einen klaren und nachvollziehbaren Maßstab bei sicherheitspolitischen Entscheidungen. Insbesondere muss der Sinn von Einsätzen aus Sicht der Soldaten erkennbar sein und erklärt werden können.

   Der Bericht von 2004 nimmt hier kein Blatt vor den Mund. Mögliche Erweiterungen von Auslandseinsätzen werden in der Truppe kritisch gesehen. Insbesondere Spezialisten wie Sanitäter, Pioniere, Logistiker und Fernmelder sehen keinen Spielraum für weitere Einsätze.

   Was folgt aus diesem Befund? Das sprunghafte Reagieren auf Krisen, der Rückgriff auf die Streitkräfte ohne Rücksicht auf begrenzte Kapazitäten ist kontraproduktiv. Wir benötigen eine Sicherheitspolitik aus einem Guss mit klaren Einsatzkriterien. Dieser überfälligen Herausforderung stellt sich die große Koalition. Wir werden unter Federführung des Verteidigungsministers ein Weißbuch vorlegen, um Sicherheitspolitik transparenter zu gestalten. Mehr Planungssicherheit für die Streitkräfte erfordert außerdem eine klare Ausrichtung unserer Wehrverfassung. Deswegen ist es zu begrüßen, dass Minister Jung an der Wehrpflicht festhalten will.

Soldat ist kein Beruf wie jeder andere. Der Soldat ist ein besonderer Leistungs- und Risikoträger im Einsatz für unser Land. Darauf hat Bundespräsident Horst Köhler in seiner bedeutenden Rede auf der 40. Kommandeurtagung eindringlich hingewiesen. Deswegen muss der Staat eine besondere Fürsorgepflicht erfüllen. Das betrifft vor allem die materielle Ausstattung und Besoldung, die Organisation und Rechtsklarheit im Dienst sowie die soziale Absicherung der Soldaten und ihrer Angehörigen.

   Die Besoldungsstruktur muss unter zwei Gesichtspunkten auf den Prüfstand: Erstens. Es ist eine längst überfällige Entscheidung, die Soldatengehälter in den neuen Bundesländern dem Westniveau anzupassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Es kann nicht sein, dass die Auslandszulagen für einen deutschen Soldaten in Afghanistan auf dem gleichen Niveau wie für einen in Brüssel tätigen deutschen Beamten liegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hier müssen wir zu Lösungen kommen, die den besonderen Risiken von Einsatzsoldaten gerecht werden.

   Handlungsbedarf sehe ich auch bei der inneren Organisation und Rechtsklarheit im Dienst. Viele Eingaben weisen auf eine undurchsichtige Beförderungssituation in der Truppe hin. Mehr Flexibilität in der Laufbahngestaltung ist zwar lobenswert; sie darf aber nicht zu Intransparenz und Ungerechtigkeit im Beförderungssystem selbst führen. Ich zitiere aus dem Bericht des Wehrbeauftragten:

Bei vielen Soldaten des Heeres ist Vertrauen in die Verlässlichkeit und die Kontinuität der Personalplanung verloren gegangen.

   Diese Entwicklung demotiviert die Truppe und schadet der Einsatzbereitschaft. Hier müssen wir dringend gegensteuern. Vor allem in der Feldwebellaufbahn ist auf die richtige Balance zwischen Seiteneinsteigern mit abgeschlossener Berufsausbildung und in der Truppe bewährten Unteroffizieren zu achten.

   Ein intaktes soziales Umfeld ist für die Motivation des Soldaten essenziell. Die Folgen der Trennung von der Familie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. Die dienstliche Belastung darf Zeit- und Berufssoldaten nicht vor die Frage „Dienst oder Familie?“ stellen. Der Bericht des Wehrbeauftragten betont deswegen zu Recht, dass es gilt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Streitkräften weiter zu verbessern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dazu gehört auch eine angemessene Betreuung von Soldatenfamilien. Kürzungen in den Familienbetreuungszentren wären der falsche Ansatz.

   Im Übrigen muss der sozialen Absicherung von im Einsatz befindlichen Soldaten und ihren Angehörigen in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Das Einsatzversorgungsgesetz ist ein wichtiger Schritt nach vorn, aber auch hier gibt es noch Optimierungsbedarf. Vor allem muss geprüft werden, inwieweit Soldaten nach einer schweren Verletzung im Einsatz ein Weiterbeschäftigungsanspruch zu garantieren ist.

   Die Ereignisse in der Kaserne von Coesfeld im Jahr 2003 haben uns für Missbrauchsfälle in der Truppe sensibilisiert. Insgesamt ist die Zahl der mitgeteilten Misshandlungen von 58 im Jahre 2003 auf 94 im Jahr 2004 gestiegen. Hier ist weiterhin erhöhte Wachsamkeit geboten; dessen ist sich die Bundeswehr bewusst. Sie hat auf die Misshandlungsvorfälle differenziert und angemessen reagiert. Es wäre aber falsch, ein Gewaltproblem in der Truppe herbeizureden. Auch zeigt die juristische Aufarbeitung der Vorgänge von Coesfeld, dass wir unsere Soldaten gegen Vorverurteilungen in Schutz nehmen müssen. Bei aller gebotenen Sensibilität ist eine realistische und einsatzbezogene Ausbildung unabdingbar.

   Der 46. Bericht des Wehrbeauftragten gibt keinen Anlass zur Beruhigung. Auf folgende Punkte kommt es an:

   Erstens. Die Transformation der Bundeswehr ist mit einem hohen Veränderungsdruck auf die Soldaten und ihre Angehörigen verbunden. Umso wichtiger ist es, dass der Wehrbeauftragte ein effektives Frühwarnsystem darstellt. Dafür ist die regelmäßige Präsenz in der Truppe erforderlich. Nur so können wir die Menschenführung innerhalb der Bundeswehr weiter verbessern.

   Zweitens. Militärische Sicherheitsvorsorge muss auch in Zeiten knapper Mittel elementare Bedürfnisse unserer Soldaten beachten. Dazu gehören eine optimale Schutzausstattung im Einsatz, eine gerechte Laufbahngestaltung und eine Besoldungsstruktur, die den Risiken von Einsatzsoldaten angemessen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Schließlich drittens. Wir müssen den Sinn des Soldatenberufs in der öffentlichen Wahrnehmung neu vermitteln und seinen gesellschaftlichen Status deutlich aufwerten; denn die Soldaten der Bundeswehr müssen stellvertretend für uns alle die Risiken künftiger Gefahrenabwehr tragen. Sie erhalten Freiheit, Sicherheit und Stabilität für unser Land.

   In diesem Sinne wünsche ich allen Soldatinnen und Soldaten ein gesundes und gutes Jahr 2006.

   Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Elke Hoff.

(Beifall bei der FDP)

Elke Hoff (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Für die Vorlage des 46. Wehrberichts danke ich Ihnen und vor allen Dingen Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich wünsche Ihnen für Ihre neue Aufgabe ein stets kritisches Auge und aufmerksames Ohr für unsere Soldatinnen und Soldaten.

   Ich darf Ihnen in Namen der FDP-Fraktion eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit anbieten.

(Beifall bei der FDP)

Sie ermöglichen es den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, sich zumindest ansatzweise ein ungeschminktes Bild von dem inneren Zustand der Truppe zu machen, ohne, um es mit den Worten des Wehrberichtes auszudrücken, den „Weichspülprozessen“ der politischen und militärischen Führung unterworfen zu werden.

   Allerdings reden wir heute über den Bericht aus dem Jahre 2004. Es ist zu hoffen, dass einige der beklagten Missstände inzwischen beseitigt wurden. In Ihrem nächsten Bericht für das Jahr 2005 werden wir es sehen.

   Die Zahl der Eingaben ist nach wie vor konstant hoch und, gemessen an der durchschnittlichen Truppenstärke, haben wir sogar das höchste Eingabeaufkommen seit Bestehen Ihres Amtes. Darin spiegelt sich auch ein erheblicher Unmut über die massiven Veränderungsprozesse bei der Bundeswehr wider. Es ist nachvollziehbar, dass für viele Betroffene die Grenzen des Mitmachenkönnens und des Mitmachenwollens irgendwann erreicht sind und dies auch artikuliert wird.

   Einige Entwicklungen in der Bundeswehr sind dennoch erfreulich und für die Motivation unverzichtbar. So ist mit dem Einsatzversorgungsgesetz für unsere Soldatinnen und Soldaten und für deren Familien endlich die nötige Sicherheit bei leider nicht immer zu vermeidenden Unfällen im Einsatz gefunden worden. Der Forderung der FDP nach kürzeren Einsatzzeiten wurde nach langem Widerstand endlich entsprochen. Die Verkürzung auf vier Monate ist ein wichtiger Schritt. Allerdings muss dann den rückkehrenden Soldatinnen und Soldaten auch die Möglichkeit eröffnet werden, zwischen ihren Einsätzen Ausbildungsdefizite aufzuholen, statt dass sie gleich wieder in den nächsten Einsatz geschickt werden.

(Beifall bei der FDP)

   Vor dem Hintergrund der angespannten Beförderungssituation in der Bundeswehr, die sich in dem vorliegenden Bericht deutlich niederschlägt, stellt die FDP-Fraktion mit Genugtuung fest, dass sich der neue Bundesverteidigungsminister unserem besonderen Anliegen einer eigenen Besoldungsordnung für die Bundeswehr annähert. Wir sind sehr gespannt, ob und wann er diese Ankündigung der ersten Wochen kraftvoll umsetzen wird. Besonders in den unteren Besoldungsgruppen rumort es kräftig. Es ist unbestritten, dass gerade in Zeiten des Umbruchs eine leistungsgerechte Besoldung die Motivation stärkt. Hier ist es insbesondere wichtig, die Differenz zwischen Ost und West zu beseitigen.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU))

   Größten Anlass zu Beschwerden gaben Probleme bei der Menschenführung und bei Personalangelegenheiten. Es ist daher völlig richtig, wenn im Bericht darauf hingewiesen wird, dass - ich zitiere - „die Achtung der Würde, Ehre und Rechte Untergebener für Vorgesetzte nicht disponibel“ ist. Einzelfälle wie beispielsweise in Coesfeld dürfen den ansonsten tadellosen Ruf der Bundeswehr in der Öffentlichkeit nicht beschädigen. Hier ist die innere Führung dauerhaft gefordert.

   Die Transformation der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz ist unumkehrbar. Wenn internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie der Kampf gegen den Terrorismus ein zentrales politisches Anliegen sind, dann darf diese Akzentsetzung aber nicht zu einer Überdehnung von Aufträgen führen. Es ist nicht hinnehmbar, dass mit der Verabschiedung des Luftsicherheitsgesetzes der Boden für eine grundlegende Rechtsunsicherheit bei den betroffenen Bundeswehrpiloten bereitet wurde, wie dies auch aus dem Bericht hervorgeht.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion hält dieses Gesetz für verfassungswidrig und begrüßt, dass es nunmehr vom Bundesverfassungsgericht auf den Prüfstand gestellt wird.

   Dass es auch anders geht, hat die von der FDP maßgeblich initiierte Entscheidung für ein Parlamentsbeteiligungsgesetz gezeigt. Es schafft Rechtssicherheit für unsere eingesetzten Soldatinnen und Soldaten und stellt klar, dass die Entscheidung über das Ob und das Wie eines Auslandseinsatzes die verantwortliche Entscheidung einer breiten Mehrheit des Deutschen Bundestages ist und bleiben wird.

(Beifall bei der FDP)

   Der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten macht leider erneut deutlich, dass die Bundeswehr weit davon entfernt ist, für ihre anspruchsvollen Aufgaben gut und vor allen Dingen modern ausgerüstet zu sein. Viele Kasernen befinden sich nach wie vor in einem beklagenswerten Zustand. Unsere Soldatinnen und Soldaten können ihr Gerät häufig erst in einem gefährlichen Einsatz selbst ausprobieren, nach dem Motto: Wenn wir schon neues Gerät haben, dann soll es nicht zu Hause herumstehen. Solche Zustände sind nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der FDP)

Unsere Soldaten können und müssen bei ihren gefährlichen Einsätzen erwarten, dass ihnen eine fundierte Ausbildung am Gerät die nötige Sicherheit und Selbstsicherheit für die reibungslose Abwicklung ihres Auslandsauftrages vermittelt. Denn nur wer sich sicher fühlt, kann auch sicher handeln.

(Beifall bei der FDP)

   Deshalb bedarf es eines hohen Maßes an professioneller Zuwendung bei der Vorbereitung und Nachbereitung von Auslandseinsätzen. Ich finde diejenigen Schilderungen des Wehrbeauftragten alarmierend, die sich mit den Problemen bei der Sinnfindung und der Reintegration unserer Soldatinnen und Soldaten bei Auslandsmissionen befassen. Jeder Auslandseinsatz muss auf einem klaren politischen und strategischen Konzept beruhen.

(Beifall bei der FDP)

   Nicht zu übersehen ist auch, wie die bundesdeutsche Bürokratie den Truppenalltag behindern kann. Dienstvorschriften, die gerade in Auslandseinsätzen zu skurrilen und oft zu behindernden Situationen führen - von der Mülltrennung bis zur ASU-Plakette -, müssen den speziellen Anforderungen vor Ort angepasst werden.

(Beifall bei der FDP)

Da sich die Partner der großen Koalition den von der FDP immer wieder geforderten Bürokratieabbau nunmehr ausdrücklich auf die Fahnen geschrieben haben, können sie zum Wohle unserer Soldatinnen und Soldaten jetzt und sofort zeigen, wie ernst es ihnen damit ist.

(Beifall bei der FDP)

   Auch ich möchte unseren Soldatinnen und Soldaten und auch deren Familien für ihren großartigen Einsatz zum Wohle unseres Landes danken und ihnen alles Gute für das neue Jahr 2006 wünschen.

   Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Hoff, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren möchte,

(Beifall)

verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. Diese können Sie umso besser leisten, je tapferer Sie der Versuchung widerstehen, die Ihnen so freundlich überreichten Präsente gleich im Plenum auszuprobieren.

   Nächste Rednerin ist die Kollegin Wegener für die SPD-Fraktion.

Hedi Wegener (SPD):

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen eigentlich für Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, weil die Dinge, über die wir heute debattieren, den Kolleginnen und Kollegen schon aus einer Debatte im Dezember bekannt sind.

   Ich freue mich, dass sich so viele Jugendliche auf der Besuchertribüne befinden. Denn ihnen kann es einmal passieren, die Dienste des Wehrbeauftragten in Anspruch nehmen zu müssen. Man kann ihn in etwa mit einem Vertrauenslehrer an einer Schule vergleichen.

   Meine Vorredner haben es schon erwähnt: Wir sind eine der ganz wenigen Nationen, die über dieses Instrument verfügen. Der Abgeordnete Erler hat einmal gesagt: Alles, was die Bundeswehr angeht, sollen wir sehen, riechen, hören und schmecken. Das war nicht der jetzige Staatsminister im Auswärtigen Amt, sondern es war Fritz Erler 1959. Eigentlich hat diese Aussage nichts an Aktualität verloren.

   Wir behandeln heute den inzwischen 46. Bericht. Er ist noch unter dem Wehrbeauftragten Herrn Dr. Penner zustande gekommen ist. Ich will ihm - ich hoffe, er sitzt irgendwo vor einem Fernsehgerät - und seinen Mitarbeitern von dieser Stelle aus ganz herzlich danken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Er war einmal zu Besuch in meinem Wahlkreis. Ich habe damals gemerkt, mit welcher Empathie er sich der Probleme der Soldatinnen und Soldaten annimmt. Im Jahre 2004 hat es 6 154 Einwände von Soldatinnen und Soldaten gegeben, 72 mehr, als es zuvor der Fall gewesen war. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass der Wehrbeauftragte signalisiert hat: Hier bin ich, ihr könnt zu mir kommen, ihr könnt euch an mich wenden.

   Die Streitkräfte haben mit vielerlei Erfordernissen und Zwängen zu tun. Sie müssen die Würde der Soldaten achten und zig Einzelvorschriften und Erlasse - Sie haben es gerade gesagt - berücksichtigen. Darauf können sich die Soldaten berufen; aber sie können sich eben auch darauf verlassen. Sie geben immer wieder Anstöße dafür, womit wir uns rechtzeitig befassen sollten.

   In jedem Bericht gibt es ein und dasselbe Problem: Das sind die Auslandseinsätze. Deren Zahl wird nicht abnehmen; denn wir werden die Zahl unserer Auslandseinsätze vorläufig nicht reduzieren. Aus diesem Grunde wird logischerweise die Zahl der Soldatinnen und Soldaten zunehmen, die Erfahrungen bei Auslandseinsätzen machen. Da ist ein nicht gewährter Urlaub danach noch das geringste Problem.

   Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat einmal eine Studie mit dem Titel „Diener zweier Herren“ durchgeführt. Sie zeigt die Diskrepanz der Soldaten zwischen Familie und Soldatenberuf.

   Ein ganz großes Problem, das sehr einschneidend ist, ist die Reintegration in die Truppe nach einem Auslandsaufenthalt. Die Soldaten fragen sich danach: Was hat sich eigentlich geändert? Was für einen Auftrag haben wir eigentlich gehabt? Es gibt eine Vorschrift, die besagt, dass vor einem Auslandseinsatz Seminare besucht werden müssen, in denen die Einsätze begründet und den Soldaten erklärt werden sollen.

   Viele Soldaten kommen mit inneren bzw. traumatischen Verletzungen zurück, indem sie sagen: Ich bekomme die Bilder, die ich dort gesehen habe, nicht mit dem Bild zusammen, mit dem ich in den Einsatz gegangen bin. Sie wollen ihre Kameraden nicht im Stich lassen und sprechen sehr wenig darüber. Die Bundeswehr hat dieses Problem erkannt. Sie hat das so genannte posttraumatische Belastungssyndrom zu einem Thema gemacht. Eine internationale Studie hat ergeben, dass wir in Deutschland bei der Behandlung dieses Problems sehr gut sind.

   Es gilt trotzdem, Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich bin sehr stolz, dass die politische Bildung im Rahmen der Vor- und Nachbetreuung einen hohen Stellenwert einnehmen soll. Im Moment wird die entsprechende Dienstvorschrift überarbeitet. Sie nennt sich bürokratisch: 12/1. Dadurch soll die politische Bildung noch mehr in den Fokus der Vorbetreuung der Soldaten gerückt werden.

   In diesem Zusammenhang noch einen Blick auf die Reservisten. Auch die gehen in Auslandseinsätze und haben nicht das Privileg der Nachbearbeitung, wie das die Soldaten in der Truppe haben. Ich denke, wir sollten auch darauf einen Blick werfen und dafür sorgen, dass auch die Reservisten, die nach einem Auslandsaufenthalt zurückkommen, die Möglichkeit haben, das zu verarbeiten, was sie dort erlebt haben.

   Die Soldaten müssen eben überzeugt davon sein, dass ihr Auftrag notwendig und militärisch sinnvoll ist. Wir entscheiden über einen Auslandseinsatz und müssen deshalb auch erklären, warum sie ins Ausland sollen und warum wir das für erforderlich halten.

   Die politische Bildung insgesamt soll künftig einen höheren Stellenwert erhalten. Ich bin stolz darauf, dass es eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen der Bundeszentrale für politische Bildung und der Bundeswehr gibt, die jährlich zusammen eine Tagung abhalten und dieses Thema aufarbeiten.

   Meine Damen und Herren, schon bald wird es den 47. Bericht geben, bei dem sich dann der neue Wehrbeauftragte, Herr Robbe, der Diskussion stellt. Ich wünsche Ihnen, Herr Robbe, und Ihren Mitarbeitern viel Glück in diesem Amt und die gleiche Empathie für die Probleme der Soldaten, wie sie Ihr Vorgänger hatte.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich dem Dank an Herrn Penner für seinen Bericht, aber auch für seine gesamte Arbeit an. Wir diskutieren über den Berichtszeitraum 2004. Der Bericht ist am 15. März 2005 vorgelegt worden; heute schreiben wir den 20. Januar 2006. Ich finde, das geht so nicht. Das zeigt ja immer auch, welches Gewicht man einer solchen Sache beimisst. Ich denke, dass wir künftig - um das neudeutsch zu sagen - einen solchen Bericht zeitnah diskutieren sollten. Das sollten wir gemeinsam durchsetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

   Viele Themen wären anzusprechen: die nach wie vor bestehende und zu beseitigende Ungleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten in Ost und West; die überfällige großzügige Entschädigung der von Strahlenexposition betroffenen Menschen, die in der NVA und der Bundeswehr gedient haben; die Bearbeitung der im Bericht konstatierten erheblichen Defizite bei der Umsetzung des Soldatenbeteiligungsgesetzes. Das ist für mich eine Kernfrage. Denn nach meinem Verständnis ist das ein besonders wichtiges Thema für den Wehrbeauftragten, weil er im Auftrag des Parlaments kontrollieren soll, ob gewährleistet ist, dass der Staatsbürger in Uniform auch ein Staatsbürger ohne Wenn und Aber ist. Deshalb sollten wir auf diese Frage unser Augenmerk richten.

   134 „Besondere Vorkommnisse“ mit Verdacht auf rechtsextremistischen Hintergrund sind, auch wenn sich nicht alle Fälle bestätigt haben, entschieden zu viel. Der Schatten der Einsatzarmee hat die Bundeswehr in Coesfeld ereilt. Übereifrige Offiziere wollten realitätsnah ausbilden und Wehrpflichtige in Sachen Folter unterweisen. Das ist geahndet worden bzw. wird geahndet. Das ist richtig. Meines Erachtens geht es aber, lieber Herr Robbe, nicht um einen Generalverdacht, sondern es geht um das Spannungsfeld zwischen innerer Führung und Einsatzarmee. Deshalb müssen wir diese Punkte sehr sensibel und sehr sorgsam registrieren,

(Beifall bei der LINKEN)

um rechtzeitig Verstößen gegen Menschenrechte und Menschenwürde entgegentreten zu können.

   Ich will auf zwei Fälle zu sprechen kommen, die mehr sagen als langatmige Bilanzen. Im Bericht heißt es ja zu Recht: Befehle dürfen nur zu dienstlichen Zwecken und unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts erteilt werden.

   Kommen wir zum Fall Pfaff. Der Major Pfaff hat die Mitarbeit an einem Softwareprojekt verweigert, weil er den begründeten Verdacht hegte, die Ergebnisse könnten im Irakkrieg der USA Verwendung finden. Der wackere Major wurde erst psychiatrisiert, dann degradiert und musste vor Gericht ziehen. Das Bundesverwaltungsgericht gab ihm Recht und hat ausgeführt: Der Vorwurf der Gehorsamsverweigerung trifft nicht, wenn es sich um Unterstützungsleistungen für einen völkerrechtswidrigen Krieg handelt. Ich finde, es wirft kein gutes Licht auf die Bundeswehr, wenn Soldaten Grundrechte erst vor höchsten deutschen Gerichten erstreiten müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist für die Linke nicht nachvollziehbar, dass sich der Wehrbeauftragte mit diesem Fall - er ereignete sich in den Jahren 2003, 2004 - nicht befasst hat. Es ist laut Gesetz eine Kernaufgabe dieses Amtes, darüber zu wachen, dass Grundrechte der Soldaten nicht verletzt und die Grundsätze der inneren Führung streng beachtet werden. Darin hat der Wehrbeauftragte auch unsere volle Unterstützung.

   Der zweite Fall: Hauptfeldwebel, weiblich, Afghanistan. Die Betreffende wird gegen ihren Willen nicht als Sanitätssoldatin, sondern als Sicherungssoldatin eingesetzt. Sie hat sich auf die Genfer Abkommen zum humanitären Konfliktrecht berufen und auf ihrer Rolle als Nichtkombattantin bestanden. Die Soldatin wurde mit Disziplinarmaßnahmen belegt. Auch hier müssen jetzt Gerichte bemüht werden. Im Grunde geht es hier darum - anders kann ich die Handlungsweise der Vorgesetzten nicht interpretieren -, dass Soldaten davon abgeschreckt werden sollen, sich mit den rechtlichen Grundlagen und den moralischen Folgen ihres Handelns auseinander zu setzen. Der Wehrbeauftragte hat gesagt, dass er den Fall beobachtet. Beobachten ist gut. Ich finde aber, hier ist unser Engagement für die Aufhebung der Disziplinarstrafe gefragt.

(Beifall bei der LINKEN)

   Lieber Herr Robbe, Sie haben ebenfalls gesagt, dass dieses Amt einen hohen Stellenwert habe. Darin pflichte ich Ihnen ausdrücklich bei und ich kann es auch für die Fraktion Die Linke sagen. Wenn es um die Verteidigung der Prinzipien der inneren Führung und deren konsequente Durchsetzung geht, dann haben Sie unsere volle Unterstützung.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Monaten wurde der Bericht des Wehrbeauftragten vorgelegt, jedoch kommen wir jetzt erst zur Debatte. Wir alle wissen, woran das lag, nämlich an der vorzeitigen Kündigung der letzten Koalition. Wir wissen aber auch, welche Konsequenz wir daraus zu ziehen haben, nämlich dass wir den nächsten Bericht, Herr Wehrbeauftragter, auf jeden Fall wieder sehr zeitnah hier debattieren werden.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Abwarten!)

   Immer wieder ist die Klarstellung notwendig, dass wir es bei dem Bericht des Wehrbeauftragten mit einem Mängelbericht zu tun haben, der selbstverständlich nicht einfach ein Abbild des inneren Zustandes der Bundeswehr ist. Nichtsdestoweniger ist es inzwischen gute Tradition der Wehrbeauftragten, mehr daraus zu machen. Er ist nämlich in erheblichem Maße auch ein Stimmungsbericht, der wesentliche Herausforderungen benennt.

   Ich beginne bei Defiziten und Mängeln, die von oben, von höheren Ebenen von Bundeswehr und Verwaltung, verursacht werden und zu verantworten sind. Aus zehn Kasernen wurde im Jahr 2004 über Schimmelbefall, schadhafte Sanitäranlagen usw. berichtet. Dem Anspruch auf Fürsorge und Attraktivität des Dienstes sprechen solche Verhältnisse Hohn. Es wird von rückläufigen Stehzeiten von Bataillonskommandeuren berichtet. Zu Recht wird kritisiert, dass immer kürzere Stehzeiten von Bataillonskommandeuren den Aufbau eines unbedingt notwendigen Vertrauensverhältnisses mit den unterstellten Soldaten behindern. Schließlich komme ich - von einem Vorredner bereits angesprochen - zur Soldatenbeteiligung. Die Soldatenbeteiligung ist eine besondere Errungenschaft der inneren Führung der Bundeswehr. Über so etwas verfügt praktisch keine andere Armee. Umso bedauerlicher ist, dass seit vielen Jahren immer wieder von Wehrbeauftragten bemängelt werden muss, dass es hier an der sorgsamen Umsetzung fehlt.

   Im Berichtszeitraum fanden die Ausbildungsmissstände in einer Coesfelder Einheit viel öffentliche Aufmerksamkeit. Das Landgericht Münster ließ Anklagen gegen 18 Ausbilder wegen Misshandlung von Rekruten in großen Teilen nicht zu. Nur gegen einen Beschuldigten wurde die Anklage in vollem Umfang zugelassen. Ich will den Beschluss des Landgerichts nicht bewerten. Er weist aber auf jeden Fall darauf hin, dass Pflichten von Soldaten weit darüber hinausgehen, sich nur an Strafrecht zu halten. Umso wichtiger ist, wie die Bundeswehr auf diese Vorfälle reagierte. Es wurde von vornherein erkannt, dass man es hier über das Gruppenphänomen in Coesfeld hinaus mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun hat. Die Soldaten hatten insbesondere Probleme, bei so genannter realitätsnaher Ausbildung zu unterscheiden, wo die Menschenwürde verletzt wird und wo nicht.

   Es wurde schnell, konsequent und flächendeckend präventiv für künftige Vorfälle reagiert. Der Generalinspekteur stellte im April letzten Jahres im Verteidigungsausschuss einen ganzen Katalog durchgeführter Maßnahmen vor. Es ist nur schade, dass dieser Katalog nicht seinen Weg an die Öffentlichkeit fand, weil diese Vorgehensweise vorbildhaft war.

Soldaten äußern immer wieder Zweifel am Sinn von Einsätzen, zum Beispiel wenn sie in der Umgebung von Kunduz die Mohnfelder blühen sehen. Das gilt auch für die Märzunruhen 2004 im Kosovo, bei denen die ganzen Stabilisierungsbemühungen von Jahren zunichte gemacht wurden. Hier sind Politik und militärische Führung gefragt. Hier geht es nicht nur - natürlich geht es auch darum, aber nicht nur - um bessere politische Bildung. Es geht darum, dass Aufträge immer wieder neu und überzeugend begründet werden müssen, und zwar über eine sicherheitspolitische Insidersprache hinaus. Diese Aufträge können nur überzeugen, wenn sie eingebettet sind in energische und glaubwürdige politische Anstrengungen der Friedenskonsolidierung, der umfassenden Aufbauhilfe bei Sicherheitssektorreformen, Demilitarisierung, Drogenbekämpfung, Institutionenaufbau. Aufträge können nur überzeugen, wenn Erfolge mit der Zeit sichtbar und nachweisbar werden.

   Die vielleicht wichtigste Konsequenz aus den Zweifeln am Sinn dieser Einsätze ist, dass wir als Politiker endlich zur breiten politischen und gesellschaftlichen Debatte über die Rolle des Militärs in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik kommen müssen. Diese Debatte wird schon seit Jahren immer wieder gefordert, auch noch vor kurzem vom Bundespräsidenten auf der Kommandeurtagung. Aber wir müssen nüchtern feststellen: Sie wurde im letzten Jahr gefordert, aber wir haben sie - trotz des Jubiläumsjahres der Bundeswehr - nicht geführt.

   Ich meine allerdings, dass wir sie in diesem Jahr wirklich führen müssen. Hierzu bestehen im Rahmen des Erarbeitungsprozesses des Weißbuchs der Bundesrepublik zu ihrer Sicherheitspolitik hervorragende Möglichkeiten. Diese Debatte sollte - das ist wichtig - nicht erst stattfinden, wenn das Weißbuch vorgelegt wird, sondern während seines Erarbeitungsprozesses. Das ist das A und O.

   Ich stelle heute fest, dass an der Debatte zum Bericht des Wehrbeauftragten so viele und auch so hochrangige Kolleginnen und Kollegen des Bundestages teilnehmen wie selten zuvor. Dass die Kanzlerin bei dieser Debatte anwesend ist und dass Opposition und Koalition bei dieser Debatte hochrangig vertreten sind, ist ein ausgesprochen gutes Signal. Aber wir wissen, dass wir es nicht bei Signalen bewenden lassen sollten. Dieses Signal sollten wir in diesem Jahr in die Tat umsetzen.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, der Kollege Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem Wehrbeauftragten - es handelt sich heute um den Bericht aus dem Jahr 2004; damals war es noch der Kollege Penner - auch im Namen der Bundesregierung für seine Arbeit herzlich danken. Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich.

   Wir haben - Kollege Robbe hat gerade darauf hingewiesen - die Institution des Wehrbeauftragten 1956 in die Verfassung aufgenommen. Das liegt nun 50 Jahre zurück. Dies war eine gute und richtige Entscheidung. Es war sogar eine hervorragende Entscheidung, weil sich die Bundeswehr damit in der konstruktiven, kritischen Begleitung durch den Wehrbeauftragten positiv weiterentwickeln konnte. Deshalb bin ich dankbar für die Arbeit, die der Wehrbeauftragte leistet.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Erfolgsgeschichte der Bundeswehr ist auch mit der Praxis der inneren Führung verbunden. Das sind gerade die Punkte, die immer wieder in die Berichte aufgenommen werden und aus denen die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Die Jahresberichte dienen dazu, Mängel aufzuzeigen, auf Lösungsmöglichkeiten hinzuweisen und auf diese Weise positive Entwicklungen zu unterstützen.

   Die im Jahresbericht 2004 aufgezeigten Mängel decken sich mit unserer Lagebeurteilung und werden bzw. sind abgeschafft. Für die Bundeswehr geht es darum, sie für den Einsatz so leistungsfähig wie möglich zu machen und die Berufszufriedenheit und gesellschaftliche Integration der Soldatinnen und Soldaten zu stärken. Ich konnte mir gerade jetzt vor Weihnachten ein Bild davon machen - sei es in den Einsätzen im Kosovo, sei es in den Einsätzen in Dschibuti, sei es in den Einsätzen in Kabul, sei es bei der Erdbebenhilfe in Islamabad -, dass unsere Soldatinnen und Soldaten hoch motiviert sind, einen hervorragenden Einsatz leisten und ein positives Bild von der Bundesrepublik Deutschland vermitteln. Ich denke, wir alle können für den Einsatz, den sie dort leisten, dankbar sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Nichtsdestotrotz ist es wahr, dass im Jahr 2004 der höchste Stand an Eingaben an den Wehrbeauftragten zu verzeichnen war. Deshalb muss man sich inhaltlich damit auseinander setzen.

   Das zeigt zweierlei:

   Erstens. Der Wehrbeauftragte hat das Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten.

   Zweitens. Der Transformationsprozess fordert die Soldatinnen und Soldaten aber offensichtlich auch unmittelbar heraus; ihnen wird viel abverlangt. Deshalb wird darauf hingewiesen.

   Ich glaube - das Jahr 2004 war ja auch mit den Stationierungsentscheidungen verbunden -, es war richtig, dass wir in der Koalition vereinbart haben, im Grundsatz an diesen Beschlüssen festzuhalten; denn die Bundeswehr braucht jetzt Planungssicherheit. Hier muss etwas Ruhe einkehren, um dadurch für die Soldatinnen und Soldaten insgesamt eine positive Entwicklung zu bewirken.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, den Schwerpunkt des Jahresberichts 2004 bilden die Menschenführung und die Personalangelegenheiten. Das Thema Coesfeld ist bereits angesprochen worden. Die dortigen Vorgänge wurden konsequent aufgeklärt und die notwendigen dienstrechtlichen Maßnahmen getroffen. Aber das sind Ausnahmefälle, die man, wie ich glaube, nicht verallgemeinern darf. Dennoch müssen auch weiterhin die notwendigen Konsequenzen für die innere Führung gezogen werden.

   Innere Führung heißt für uns: Der Mensch steht im Mittelpunkt, auch in seiner soldatischen Verpflichtung. Deshalb sind die Themen, die hier angesprochen wurden - die Betreuung, die Fürsorge, die Besoldung, die Versorgung und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst -, für die Soldatinnen und Soldaten wichtig. Es ist nicht nur eine Aufgabe der Bundeswehr, sondern auch eine Aufgabe von Gesellschaft und Politik, hier die entsprechenden Akzente zu setzen.

   Da vorhin unter anderem die Besoldungsregelungen angesprochen wurden, sage ich Ihnen: Wir müssen - auch wenn wir in den Haushaltsberatungen darüber sprechen - gemeinsam die notwendigen Grundlagen dafür schaffen, dass die Soldatinnen und Soldaten ihrer Verantwortung gerecht werden können, ihre Einsätze positiv verlaufen und sie insbesondere ihre friedenssichernden Funktionen erfüllen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine Damen und Herren, wenn ich sage, der Grundsatz der inneren Führung bedeutet, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, dann muss dieser Grundsatz, wie ich finde, erst recht im Umgang mit im Einsatz verletzten Soldaten gelten. Ich denke, es ist geradezu eine Fürsorgeverpflichtung, die wir haben, für Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz verletzt werden und erhebliche Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit erleiden, die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie die Chance haben, in der Bundeswehr weiterverwendet zu werden, statt ins Abseits gestellt bzw. in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden. Derjenige, dessen Gesundheit im Rahmen eines Einsatzes beeinträchtigt wurde, hat, denke ich, einen Anspruch darauf, dass ihm Staat und Bundeswehr helfen. Wir müssen den Betroffenen unserer Fürsorgepflicht entsprechend die Chance der Weiterbeschäftigung geben. Auch diesbezüglich arbeiten wir an einer entsprechenden Initiative. Für Ihre Unterstützung unserer gesetzgeberischen Initiative in diesem Bereich wäre ich Ihnen dankbar.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Beifall bei der FDP)

   Ich könnte noch verschiedenste Punkte ansprechen, will aber nur noch schlagwortartig etwas zu der Beteiligung sagen. Ich denke, dass diese Frage vor allem nach dem Kriterium eines effektiven Einsatzes zu beurteilen ist und dass dieser Bereich im Zusammenhang mit dem Transformationsprozess weiterzuentwickeln ist. Hier müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um insbesondere das Thema innere Führung voranzutreiben.

   Ich wünsche mir - ich glaube, das ist auch notwendig; deshalb bin ich dafür dankbar, dass es für die Bundeswehr weiterhin eine breite parlamentarische Unterstützung gibt -, dass wir gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die notwendigen Grundlagen geschaffen werden, damit die Soldatinnen und Soldaten ihre wichtige friedenssichernde Aufgabe erfüllen können.

   Ich möchte noch das aufgreifen, was der Wehrbeauftragte gesagt hat, und ihm für das, was wir im Hinblick auf unsere Zusammenarbeit bereits besprochen haben, ebenfalls danken. Das ist, denke ich, eine gute Grundlage dafür, dass sich die Bundeswehr weiterhin positiv entwickelt. In diesem Sinne bitte ich auch Sie für die Zukunft um Ihre Unterstützung.

   Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion.

Petra Heß (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie bereits erwähnt, ist der 46. Bericht des Wehrbeauftragten der letzte in der Amtszeit von Dr. Willfried Penner, dem ich hiermit auch namens meiner Fraktion noch einmal ganz ausdrücklich danken möchte für seine erfolgreiche und sehr engagierte Arbeit.

   Der Bericht gibt ein umfassendes Bild der inneren Lage der Bundeswehr wieder. Da es sich um einen Mängelbericht handelt, ist er nicht repräsentativ für die Verhältnisse in der Bundeswehr. Er zeigt aber ganz klar und deutlich, welche Defizite es in bestimmten Bereichen der Truppe gibt.

    Gemessen an der durchschnittlichen Jahrestruppenstärke ist, wie aus dem Bericht hervorgeht, das höchste Aufkommen an Eingaben seit Bestehen des Amtes zu verzeichnen. Insgesamt wurden im Jahr 2004 6 154 Vorgänge erfasst. Die hohe Zahl der Eingaben ist unter anderem darin begründet, dass sich die Bundeswehr im umfangreichsten Reformprozess seit ihrem Bestehen befindet und gleichzeitig mehr Soldaten in Auslandseinsätzen ihren Dienst verrichten als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Er zeigt aber auch auf, dass das Prinzip der inneren Führung in den Streitkräften funktioniert und dass unsere Soldatinnen und Soldaten eben keine Scheu haben, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden.

   Die Bundeswehr hat bewiesen, dass sie den erhöhten Anforderungen gewachsen ist. Dennoch ist es nicht zu vermeiden, dass es in bestimmten Bereichen Defizite gibt. So führt der Bericht unter anderem aus, dass die dienstliche Belastung der Ärzte an Bundeswehrkrankenhäusern weiterhin sehr hoch ist. Konkret haben beispielsweise Ärzte aus dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm darauf aufmerksam gemacht, dass sie Wochenleistungen zwischen 80 und 100 Stunden erbringen müssen, um die Schließung von OP-Sälen hier im Inland zu verhindern. Grund hierfür ist unter anderem der verstärkte Einsatz von medizinischem Personal in Auslandseinsätzen. Mit der Reduzierung der Zahl der Bundeswehrkrankenhäuser auf künftig vier Standorte - plus einem Kooperationsmodell - geht eine Bündelung der medizinischen Ressourcen einher, die insbesondere eine bessere personelle Ausstattung der verbleibenden Krankenhäuser erwarten lassen. Für Entspannung wird in den kommenden Jahren auch das erhöhte Aufkommen von Bewerbern für die Laufbahn der Ärzte im Sanitätsdienst sorgen: Es stieg von 1 247 Bewerbern im Jahr 2003 auf 1 451 im Berichtsjahr.

   Ein Thema, welches im Bericht des Wehrbeauftragten leider immer wieder eine Rolle spielt, ist die unterschiedliche Besoldung in Ost und West. Auch im Berichtsjahr 2004 wurde der Wehrbeauftragte von Soldatinnen und Soldaten auf diese Ungleichbehandlung hingewiesen. Wir alle wissen, dass eine Angleichung so schnell wie möglich erfolgen muss. Die Bundeswehr hat seit 1990 so erfolgreich wie kaum eine andere Institution die innere Einheit vollzogen. Darum darf sie nicht länger durch eine unsichtbare Mauer geteilt werden, wie sie derzeit durch die unterschiedliche Besoldung zweifellos noch vorhanden ist. Dass das Besoldungsrecht für Beamte, Richter und Soldaten gleichermaßen gilt und auch daher eine Sonderlösung für Soldaten kurzfristig nicht möglich ist, ist eine Tatsache. Deshalb appelliere ich von hier aus auch an die Länder, den angestrebten Zeitrahmen für die Angleichung - 2007 für den einfachen und mittleren Dienst; bis 2009 für die restlichen Dienstgruppen - unbedingt einzuhalten.

   Dass der Einsatz der Bundeswehr in den verschiedenen Krisengebieten notwendig ist, zeigten nicht zuletzt die Unruhen im Kosovo im März 2004. Die gewalttätigen Ausschreitungen haben deutlich gemacht, dass die Region noch immer politisch instabil ist und schon ein kleiner Funke genügt, um heftige Unruhen auszulösen. Die Bundeswehrsoldaten haben während des Einsatzes im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr angemessen reagiert und damit auch zum Schutz der serbischen Bevölkerung beigetragen. Im konkreten Fall gab es aber Defizite in der Kommunikation, die übrigens multinationaler Art war.

   Im Bericht werden aber auch Defizite bei der Vorbereitung und der Ausrüstung der Soldaten zur Eindämmung gewalttätiger Demonstrationen aufgezeigt. Es fehlte an Schutzschilden, es fehlte an Pfefferspray. Schutzschilde wurden unverzüglich beschafft. Bei Pfefferspray gestaltete es sich schwieriger, da hierzu eine Änderung des Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen notwendig war. Die damalige Bundesregierung hat zeitnah reagiert und bereits im Juni 2004 einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Nach Beratung und Verabschiedung hier im Plenum ist die Änderung im Oktober 2004 in Kraft getreten, sodass auch diese Ausrüstungslücke nunmehr geschlossen ist.

Im Bericht wird ferner darauf eingegangen, dass es im Bereich der Einsatzvorbereitung durch fehlendes oder nicht ausreichend zur Verfügung stehendes Gerät Probleme bei der Ausbildung gegeben hat. So konnten zum Beispiel in Kunduz stationierte Soldaten erst vor Ort den Umgang mit den dort eingesetzten Funkgeräten üben, da diese während der Vorausbildung in der Heimat nicht verfügbar waren.

   Als weiteres Beispiel ist zu lesen, dass für die Einsatzausbildung in der zentralen Ausbildungsstätte Hammelburg nur drei Fahrzeuge des Typs Dingo zur Verfügung standen. Da unsere Einsatzkompanien im Ausland regelmäßig mit Fahrzeugen dieses Typs ausgestattet werden, führte das zu Engpässen in der Ausbildung. Auch wenn in der Stellungnahme des Ministeriums zum Bericht des Wehrbeauftragten darauf hingewiesen wird, dass grundsätzlich zehn Dingos für die Ausbildung in Hammelburg bereitstehen und der genannte Engpass nur vier Wochen andauerte, zeigen die Beispiele deutlich, dass es bei der Einsatzvorbereitung noch Verbesserungsbedarf gibt.

   Mit dem Instrument des einsatzbedingten Sofortbedarfs konnte dem bereits entgegengewirkt werden. Das setzt aber voraus, dass fehlende Dinge auch unverzüglich beschafft werden können. Hier ist zum Beispiel die Industrie gefordert, schnell auf Beschaffungswünsche der Bundeswehr zu reagieren.

   Die Vorwürfe über Misshandlungen von Soldaten in der Ausbildungskompanie in Coesfeld sind uns alle noch in Erinnerung. Sie riefen auch innerhalb der Bevölkerung eine breite Diskussion hervor. In den Debatten im Dezember 2004 im Plenum wie auch im Verteidigungsausschuss sowie im Unterausschuss innere Führung wurde das Thema ausführlich behandelt. Unter Minister Struck wurde damals unverzüglich auf die Vorfälle reagiert, umfassende Sofortmaßnahmen wurden angeordnet. Ich kann der Bundeswehr attestieren, dass sie schnell und rückhaltlos Aufklärung betrieben und bei offensichtlichen Fehlentwicklungen gegengesteuert hat. Persönlich möchte ich aber anmerken, dass die Bundeswehr mit ihren circa 250 000 Soldaten ein Spiegelbild der Gesellschaft ist und man daher nicht ausschließen kann, dass es vereinzelt zu Verfehlungen kommt. Wichtig ist, dass sie rechtzeitig erkannt und angezeigt werden und dass man sie, wie im vorliegenden Fall geschehen, unverzüglich abstellt.

   Abschließend möchte ich feststellen: Der Bericht des Wehrbeauftragten ist ein ehrlicher, umfangreicher und fairer Bericht. Die Soldatinnen und Soldaten unterstreichen mit ihrem Eingabeverhalten, dass sie verantwortungsvolle Staatsbürger in Uniform sind. Ich selbst erlebe im Rahmen meiner jährlichen Wehrübungen als Reserveoffizier, dass sich die Soldatinnen und Soldaten kritisch und selbstbewusst mit ihrem Arbeitgeber, aber auch mit ihrem Auftraggeber, nämlich uns, der Politik, auseinander setzen. Sie sind in der Regel gut informiert und motiviert. Durch die Nutzung des Instruments der Eingabe tragen sie dazu bei, dass sich die Bundeswehr im positiven Sinne fortentwickelt.

   Mein Dank gilt insbesondere dem neuen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den reibungslosen Wechsel im Amt. Ich freue mich auf eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit.

   Mein Dank gilt aber auch den Soldatinnen und Soldaten, die in einer schwierigen Phase der Transformation in hervorragender Weise ihre Pflicht erfüllen. Ich wünsche ihnen, dass sie stets bei guter Gesundheit aus ihren Einsätzen zurückkommen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Bei dieser Aussprache geht es uns wie bei vielen Einsätzen: Sie dauern länger als geplant.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

   Ich schließe nun die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberichts auf Drucksache 15/5000 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 13 sowie zu Zusatzpunkt 6:

13. Erste Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien

- Drucksache 16/297 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Karin Binder, Sevim Dagdelen, Jörn Wunderlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN

EU-Antidiskriminierungsrichtlinien durch einheitliches Antidiskriminierungsgesetz wirksam und umfassend umsetzen

- Drucksache 16/370 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache wiederum eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland braucht endlich ein Antidiskriminierungsgesetz, um an europäische Standards anzuschließen. Wie Sie wissen, ist die Frist für die Umsetzung der drei EU-Richtlinien mittlerweile verstrichen. Unserem Land drohen empfindliche Strafen. Darum ist zügiges Handeln gefragt. Deshalb werden wir als Grüne ein Aussitzen der großen Koalition bei diesem Konfliktpunkt ADG auch nicht hinnehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich freue mich über die Unterstützung der Justizministerin - heute in Person des Staatssekretärs Hartenbach - für unseren Entwurf. Wir bringen das Antidiskriminierungsgesetz erneut ein, und zwar in der Form, in der es der Bundestag im Juni 2005 bereits einmal beschlossen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben der Justizministerin die Arbeit schon abgenommen, wir haben die 40 Änderungsanträge nämlich schon eingearbeitet. Unsere Einbringung erfolgt also eins zu eins.

   Über dieses Gesetz ist viel Irreführendes erzählt worden. Der Hamburger Justizsenator ist eigens angereist und will beim Antidiskriminierungsgesetz anscheinend für aktive Sterbehilfe sorgen. Herr Kusch, das wird Ihnen nicht gelingen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass das Antidiskriminierungsgesetz Gift für die Wirtschaft und für Hamburg ist, wie Sie gesagt haben, ist doch blanker Unsinn. Großbritannien, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Schweden und Irland sind genau den Weg gegangen, den wir Ihnen jetzt vorschlagen. Ich frage Sie: Warum soll ausgerechnet die deutsche Wirtschaft ein Recht auf Diskriminierung von Behinderten, Älteren, Schwulen und Lesben erhalten? Warum? Diskriminierung schafft keine Arbeitsplätze; das müssten Sie eigentlich wissen. Diskriminierung verschwendet Potenziale. Diskriminierung ist schlecht für die Wirtschaft, schlecht für die Gesellschaft und auch schlecht für das Ansehen Deutschlands.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Kernpunkt unseres Entwurfs ist, dass wir alle Diskriminierungsgründe sowohl im Arbeitsrecht als auch im Zivilrecht berücksichtigen. Nur an einem einzigen Punkt gehen wir über etwas hinaus, was in vielen Mitgliedstaaten üblich ist, nämlich, dass Behinderte, Ältere, Juden, Lesben und Schwule vom Diskriminierungsschutz beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen ausgeschlossen werden. Genau das fordern die CDU/CSU und die FDP mit ihrem Mantra einer blinden Eins-zu-eins-Umsetzung.

   Meine Damen und Herren, wir brauchen keine dogmatischen Formeln, wir brauchen einen intelligenten Umgang mit europäischem Recht.

(Markus Grübel (CDU/CSU): Sehr gut, Frau Schewe-Gerigk!)

- Jawohl. - Das heißt aber auch, dass wir keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen dürfen. Es wäre doch wirklich absurd, wenn die Abweisung eines Menschen in einer Gaststätte wegen seiner Hautfarbe künftig zu Recht verboten ist, dieses Gesetz im gleichen Fall für einen Menschen mit Behinderung aber nicht greift. Soll denn wirklich weiter gelten: Behinderte müssen leider draußen bleiben? Das darf nicht sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

- Herr Grübel, hier hätte die CDU/CSU eigentlich auch klatschen können.

   Dem Vernehmen nach hat die CDU/CSU der SPD in den Koalitionsverhandlungen das unsittliche Angebot gemacht, man könne über die Behinderten und die Alten vielleicht noch einmal sprechen, dafür müssten aber die Homosexuellen und die Muslime draußen bleiben.

(Klaus Uwe Benneter (SPD): Waren Sie dabei?)

- Ich war nicht dabei, aber es gibt natürlich Personen, die darüber berichten, Herr Kollege. - Das wäre reine Willkür. Dann würde entlang der im Unionsweltbild grassierenden Vorurteile nach der Methode Aschenputtel - die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in Kröpfchen - sortiert. Ich finde, das ist brandgefährlich. Mit einer solchen Haltung gibt man den Menschen geradezu zur Diskriminierung frei.

   Vorurteile sind keine gute Grundlage für Gesetzgebung. Deshalb wäre es gut, wenn wir uns an Fakten halten würden. Werfen Sie einfach einmal einen Blick in die gerade veröffentlichte Studie „Deutsche Zustände“ der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer. Sie hat deutlich herausgearbeitet: Wer zu diskriminierendem Verhalten gegenüber einer Minderheit neigt, tut das auch gegenüber anderen Minderheiten. Wer also Juden ablehnt, hat meist auch etwas gegen Homosexuelle, wer Ausländer diskriminiert, verhält sich auch gegenüber Muslimen feindselig. Gerade deshalb brauchen wir einen integrierten Ansatz. Deshalb darf niemand vom Diskriminierungsschutz ausgegrenzt werden.

   Wir sind mit unserem vorgelegten Entwurf ja sehr behutsam. Es ist ein Gesetz mit Außenmaß und ein Ausgleich zwischen vielen Interessen. Mit diesem Gesetz nehmen wir gerade die Vertragsfreiheit ernst; denn sie gilt für beide Seiten, für Angebot und Nachfrage. Menschen dürfen am Markt nicht ausgegrenzt werden, weil sie eine dunkle Haut haben, weil sie eine Frau sind oder weil sie alt sind. Alle müssen eine faire Chance haben.

   Der Kollege Olaf Scholz - leider ist er heute nicht da - hat im Juni 2005 an dieser Stelle gesagt: „Dies ist ein gutes, ausgewogenes Gesetz.“ Das war vor sieben Monaten richtig und das ist auch heute noch richtig.

Für diskriminierte Gruppen in unserer Mitte ist das Antidiskriminierungsgesetz ein Signal der Anerkennung, das sagt: Die Gesellschaft lässt euch nicht allein. Es ist ein notwendiges Signal für mehr Geschlechtergerechtigkeit und auch für einen wirksamen Minderheitenschutz. Es hilft nichts, wenn alle in diesem Hause wortreich beteuern, man sei ja gegen Diskriminierung. Wir müssen endlich konkret etwas dafür tun.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr haben wir uns im Bundestag bemüht, eine rechtsstaatliche Lösung zu finden, um Aufmärsche und Demonstrationen von Neonazis an besonders geschichtsträchtigen Plätzen zu verhindern. Das heute erneut eingebrachte Antidiskriminierungsgesetz würde dagegen die Verwaltung kommunaler und privater Wohnungsbaugesellschaften zwingen, Rechtsradikalen Versammlungsräume zu überlassen, wenn sie Schadensersatzforderungen aus dem Weg gehen wollen. Das ist doch absurd.

(Christel Humme (SPD): Was für ein Quatsch! Ist ja unglaublich! - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Absurd, was Sie sagen!)

   Wir alle singen das Hohelied auf die durch Art. 5 Grundgesetz verbriefte Meinungsfreiheit. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - alle kennen das Lüth-Urteil und den Blinkfüer-Fall - ist die Meinungsfreiheit nicht auf moralisch wertvolle Aussagen begrenzt. Art. 5 Grundgesetz schützt die Meinungsfreiheit und die prononcierte gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Parteinahme selbst dann, wenn sie im geistigen Meinungskampf mit einem Boykottaufruf verbunden ist.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu welchem Gesetz sprechen Sie jetzt?)

   Wenn die dezidierte weltanschauliche Stellungnahme durch Art. 5 Grundgesetz erlaubt ist, selbst wenn sie unter Umständen mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für Dritte verbunden ist, so kann der Boykottaufrufer nicht gleichzeitig zum Vertragsabschluss mit den Gegnern seiner Position gezwungen werden. Im Gegenteil: Der Boykottaufruf zielt ja gerade auf die Verweigerung des Vertragsabschlusses ab.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Völlig neben der Sache!)

- Ich komme gleich dazu.

   Der heutige Gesetzentwurf der Grünen wird erkennbar mit dem Ziel eingebracht, ihren früheren und unseren jetzigen Koalitionspartner, die SPD, vorzuführen.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun reicht weder meine Redezeit noch Ihre Geduld dazu aus, jede einzelne Vorschrift abzuklopfen. Der Bundesrat hat in seiner Beschlussempfehlung vom 17. Juni letzten Jahres - Drucksache 445/1/05; das können Sie nachlesen - auf 14 Seiten dezidiert jede einzelne Vorschrift unter die Lupe genommen.

   Ich möchte jetzt mein Augenmerk darauf lenken, wohin die Fehlentwicklungen einer solchen Antidiskriminierungsgesetzgebung führen. Ich beschränke mich dabei nicht nur auf das Arbeitsrecht und das Zivilrecht, sondern ich beziehe mich auch auf das Verfassungsrecht und die europäische Rechtsetzung, die Gesellschaftspolitik und unsere bisher doch unisono vertretenen Wertvorstellungen.

   Zunächst einmal ist eine begriffliche Klarstellung gefordert, um nicht schon gegen eine ausufernde Verwendung des Etiketts „Diskriminierung“ im Nachteil zu sein. Nur wer die Begriffe beherrscht, kann auch eine Diskussion beherrschen. Nach unserer geltenden Privatrechtsordnung können bis jetzt mit der Besonderheit der Gleichbehandlung der Geschlechter im Arbeitsleben und wenigen anderen Ausnahmen Privat- wie Geschäftsleute grundsätzlich ihre Geschäfts- und Vertragspartner nach „Gutdünken“ wählen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dabei dürfen sie aber nicht diskriminieren!)

   Dies zu tun, heißt nicht per se, zu diskriminieren, sondern davon kann nur da gesprochen werden, wo Gleichbehandlung geboten ist. Lediglich im Verhältnis von Staat und anderen Hoheitsträgern zum Bürger wird ein Gleichbehandlungsanspruch des Bürgers begründet, wobei ich zur Klarstellung sagen muss, dass der Art. 3 Grundgesetz kein Gleichheitsgrundsatz ist, sondern ausdrücklich nur ein Willkürverbot mit der Folge ist, dass wesentlich Gleiches gleich, aber wesentlich Ungleiches nicht gleich behandelt werden darf.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kaiserrecht! Das ist vorsintflutlich, was Sie da erzählen!)

   Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht wird nach Ihrem Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes aufgegeben. In der Reichweite Ihrer Regelung schafft sie einen Gleichbehandlungsanspruch wenn nicht aller gegen alle, so doch zumindest für den Nachfrager nach Waren, Dienst- und Werkleistungen, Arbeitsplätzen oder Mieträumen gegen die Anbieter. Sie unterwirft jene in der rechtlichen Ausgestaltung durch verschiedene Finessen sogar schärferen Anforderungen als etwa eine Behörde im Verhältnis zum Bürger.

   Nun kommt die Unterscheidung zwischen hoheitlicher Verwaltung einerseits und privatwirtschaftlicher Geschäftstätigkeit, Bedarfsdeckung oder Vermögensverwaltung andererseits nicht zufällig daher, sondern sie hat ihre historische innere Notwendigkeit. Dass der Einzelne seine Angelegenheiten grundsätzlich selbstständig und selbstverantwortlich regeln und geschäftliche Entscheidungen frei treffen kann, ist Ausprägung der Privatautonomie

(Christel Humme (SPD): Da haben Sie etwas falsch verstanden!)

und wird insbesondere durch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Eigentumsgarantie geschützt. In ihnen verwirklicht sich Menschenwürde - die neuerdings auch für die Antidiskriminierungsgesetzgebung bemüht wird - nicht weniger als im Gleichheitssatz. Deswegen ist es ebenso falsch, diese Grundrechte gegeneinander ausspielen zu wollen wie Minderheiten in der Bevölkerung gegen Mehrheiten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit ist auch grundlegend für die Marktwirtschaft. Der Ordnungsrahmen, der hier gesetzt werden darf, soll dem Schutz der Freiheit und anderen Rechtsgütern dienen, nicht der partiellen Abschaffung der Vertragsfreiheit, mit der ein bestimmtes Gesellschaftsmodell der gerade regierenden Parlamentsmehrheit durchgesetzt werden soll.

   Die Abschluss- und Inhaltsfreiheit reduziert sich doch erst für marktbeherrschende Unternehmen, weil ihren Vertragspartnern ausreichende und zumutbare Alternativen fehlen. Ich verweise nur auf die §§ 19 und 20 GWB. Ansonsten setzt der Staat der Vertragsfreiheit nur durch Generalklauseln - sie sind Ihnen bekannt: §§ 134, 138 und 242 BGB, Grundsatz von Treu und Glauben -,

(Widerspruch bei der SPD)

über die die Grundrechte allenfalls mittelbare Geltung beanspruchen können, äußere Grenznormen. Er statuiert aber keine Richtnormen für das moralische Verhalten seiner Bürger in der Zivilgesellschaft.

   Der vorliegende Gesetzentwurf, aber auch die ihm zugrunde liegenden europäischen Richtlinien - darauf will ich einmal hinweisen, weil immer wieder von der Eins-zu-eins-Umsetzung die Rede ist - stellen den Kern unserer historisch gewachsenen Rechts- und Werteordnung auf den Kopf.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie setzen sich über alle kontinentaleuropäischen und verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach du liebe Güte! - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Völlig abgehoben!)

   Der Gesetzentwurf nimmt zudem arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbote, die in zwei Richtlinien, in deutschen Schutzgesetzen und im allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz wurzeln, zum Vorbild für eine generelle Reform des Zivilrechts.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In welchem Jahrhundert war das? - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist so peinlich, Herr Gehb!)

Dieser Paradigmenwechsel verkennt zudem zweierlei: Erstens geht das Arbeitsrecht von der typisch wirtschaftlichen Unterlegenheit des abhängig beschäftigten Arbeitnehmers aus und sucht ihn deshalb vor Diskriminierung zu schützen. Zweitens greifen die arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbote grundsätzlich erst bei bestehenden Arbeitsverhältnissen ein, nicht schon vorher.

   Trotz knapper Haushaltsmittel wollen Sie eine staatliche Antidiskriminierungsstelle mit umfassenden Zuständigkeiten und private Überwachungskomitees in Form von Antidiskriminierungsverbänden ins Leben rufen,

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie mal in die Richtlinien geschaut?)

die jede vermeintliche Benachteiligung verfolgen und mit Hilfe von Beweiserleichterungen jeden angeblichen Diskriminierer zwingen können, die Anständigkeit seiner Motive vor Gericht darzulegen. Zu allem Überfluss können sich Gewerkschaften und Betriebsräte als Prozessstandschafter selbst gegen den Willen des vermeintlich Diskriminierten zum Sachwalter von Rechten Dritter aufschwingen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das können sie schon heute! Wir haben es nur noch einmal hinein geschrieben!)

   Demgegenüber überlässt das Privatrecht den zivilrechtlichen Schutz gegen Angriffe auf Leben, Körper und Gesundheit nach den deliktrechtlichen Vorschriften, §§ 823 ff. BGB, allein der Autonomie des als Opfer oder Erben betroffenen Rechtssubjekts. Von einer Überantwortung solcher fundamentaler Rechtsgüter auf besondere Behörden und Verbände keine Spur.

   Es ist rechtspolitisch und rechtsethisch nicht einleuchtend, warum der Schutz soziokultureller Rechtsgüter wie Weltanschauung oder sexueller Ausrichtung einen vom Gesetzgeber eingeräumten Vorrang vor solch fundamentalen Rechtsgütern wie Leben, Körper und Gesundheit haben soll.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Kein Wunder, dass im Kampf gegen die ideelle Benachteiligung in Deutschland keine Kraft mehr bleibt, um den realen Benachteiligungen wie der Arbeitslosigkeit noch wirksam begegnen zu können.

   „Die Luft zum Atmen wird dünner,“ - sagt der Berliner Rechtsprofessor Säcker - „wenn eine umfassende Motivkontrolle und Zensur alle Lebensbereiche mit Ausnahme von Ehe und Familie“ - es fehlte gerade noch, dass es einen Anspruch auf korrekte Liebe gibt - „durchleuchtet und Wächtervereine Schuldverträge überprüfen lässt.“

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie zum Schluss kommen müssen.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss. - Wir sollten deshalb nicht normieren, was bereits geltendes Recht ist. Es gibt bereits zig Schutzgesetze. Wir sollten vielmehr durch entsprechende politische Initiativen versuchen, darauf hinzuwirken, dass auch auf der europäischen Ebene die Rangfolge von Freiheit vor Gleichheit wiederhergestellt wird.

(Christel Humme (SPD): Freiheit vor Gleichheit? Ich dachte, das sind gleichwertige Ziele!)

Gelingt uns das nicht - was ich befürchte -, dann sollten wir wenigstens über die europarechtlichen Vorgaben nicht hinausgehen.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU - Christel Humme (SPD): Unglaublich!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.

Mechthild Dyckmans (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zweifellos richtig: Wir müssen und wollen uns - das gilt auf jeden Fall für die FDP, Herr Dr. Gehb - europakonform verhalten. Das heißt, wir müssen die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU in nationales Recht umsetzen. Das Vertragsverletzungsverfahren läuft und wir können Strafzahlungen nur vermeiden, wenn wir jetzt handeln.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

   Wenn wir uns heute mit einem Gesetzentwurf befassen, der bereits im Sommer 2005 im Bundesrat keine Chance hatte und, wie ich meine, keine Chance haben wird, in dieser Form Gesetz zu werden, dann ist festzustellen, dass die Intentionen der vorlegenden Fraktion eindeutig andere sind, als eine schnelle und sachgerechte Umsetzung der EU-Richtlinien zu erreichen.

(Beifall bei der FDP)

Ich habe die Debatten vom Sommer 2005 im Protokoll nachgelesen. Ich wünsche mir, dass wir heute außerhalb des Wahlkampfes mit mehr Ruhe und Gelassenheit, mit weniger Emotionen und Gereiztheit an das Thema herangehen.

(Beifall bei der FDP)

Natürlich ist es spannend, zu sehen, wie sich die Koalition zu einem Gesetzentwurf verhält, der noch vor einem halben Jahr die Kontrahenten sehr gegeneinander aufgebracht hat. Aber wie gesagt, der Wahlkampf ist vorbei. Gehen wir also sachlich miteinander um! Stellen wir bitte nicht die einen als Gutmenschen dar und werfen den anderen, die Kritik an dem Gesetzentwurf äußern, vor, sie wollten sich nicht gegen Diskriminierung einsetzen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was haben Sie gegen Gutmenschen?)

   Für die FDP-Fraktion möchte ich deutlich feststellen, dass wir uns mit aller Entschlossenheit gegen jede Form von Diskriminierung, Intoleranz und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft wenden. Benachteiligungen sollten beseitigt und die Rechte von Minderheiten gestärkt werden. Diesem Ziel fühlt sich die FDP-Fraktion seit jeher in besonderer Weise verpflichtet.

(Beifall bei der FDP)

Wir erwarten nun einen Vorschlag der neuen Regierungskoalition zur Umsetzung der EU-Richtlinien. Wir sehen bisher keine große Notwendigkeit für eine über eins zu eins hinausgehende Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien,

(Beifall bei der FDP)

wobei man sicherlich über das eine oder andere reden muss. Ziel der Umsetzung ist aber die Harmonisierung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten. Das sollte man immer im Auge behalten.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Bei der Umsetzung sollte ganz genau geprüft werden, wo wir Regelungen brauchen und ob dies in einem eigenen Gesetz geschehen muss oder ob es nicht ausreicht, bestehende Regelungen zu ergänzen. Wir haben nämlich bereits viele Regelungen - das sind die Fakten -, die Diskriminierung untersagen.

(Christine Lambrecht (SPD): Die aber nicht ausreichen!)

Ich erinnere zum Beispiel an § 81 e des Versicherungsaufsichtsgesetzes, der eine Diskriminierung bei den Tarifen wegen Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe ausschließt. Es gibt schon viele gute Ansätze. Bereits heute ergreifen Unternehmen im Bereich des Arbeitsrechts auf freiwilliger Basis besondere, für die Branche maßgeschneiderte Maßnahmen, um Diskriminierungen vorzubeugen. Ich erinnere nur an die Teilnahme an Zertifizierungen für eine an Chancengleichheit orientierte Personalpolitik oder die gezielte Förderung älterer Arbeitnehmer.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie viele Unternehmen machen das denn?)

   Bei der nun vorzunehmenden Umsetzung der Richtlinien ist ebenfalls zu überlegen, ob man in dem Verfahren nicht noch einmal eine Anhörung der betroffenen Kreise und Verbände durchführt; denn die Reaktionen auf den Gesetzentwurf von Rot-Grün, der nun in identischer Form eingebracht wurde, im Sommer des letzten Jahres haben gezeigt, dass ein Bedürfnis nach Diskussion besteht,

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach der Anhörung haben wir 17 Änderungsanträge gestellt!)

gerade um die in der aufgeheizten Situation entstandenen Missverständnisse - bis hin zu ungerechtfertigten Anschuldigungen; ich hoffe, dass sie sich nicht wiederholen - zu überwinden.

   Lassen Sie mich ganz kurz einige konkrete Punkte ansprechen, in denen der Gesetzentwurf in die falsche Richtung geht. Alle reden von Bürokratieabbau. Aber hier wird mit der Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle des Bundes - so lautet die Forderung - eine neue, unnötige Bürokratie aufgebaut.

   Es gibt bereits heute viele Beauftragte, deren Stellung gestärkt werden könnte und die die notwendigen Kontroll- und Beratungsaufgaben übernehmen könnten.

(Beifall bei der FDP)

   Auch an anderer Stelle werden zahlreiche Regelungen eingeführt, bürokratische Organisations- und Dokumentationspflichten, die zu einer Belastung von Arbeitnehmern und Unternehmen führen.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt keine Dokumentationspflichten!)

Insgesamt gehen die Vorschriften zum zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot eindeutig über die Vorgaben der EU-Richtlinien hinaus und stellen einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Vertragsfreiheit dar.

   Auch die in § 23 Abs. 4 vorgesehene Möglichkeit der Abtretung von Schadensersatzansprüchen

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die ist verheerend!)

an die dort genannten Antidiskriminierungsverbände mit einem eigenen Klagerecht wird so von der Richtlinie nicht gefordert. Es besteht auch keine Notwendigkeit dazu.

(Beifall bei der FDP)

Bei einer solchen Abtretungsmöglichkeit ist zu befürchten, dass die Verbände aus eigenen finanziellen Interessen Klagen erheben.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ablasshandel! - Christel Humme (SPD): Das ist ausgeschlossen in unserem Gesetzentwurf! Das wüssten Sie, wenn Sie ihn gelesen hätten!)

   Nur am Rande möchte ich bemerken, dass die Freistellung von dem Verbot der außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsberatung im Zusammenhang mit einem noch zu verabschiedenden Rechtsdienstleistungsgesetz geregelt werden sollte. Da gehört sie nämlich hin.

   Abschließend möchte ich betonen, dass ich es begrüße, dass das Thema jetzt federführend bei den Rechtspolitikern gelandet ist.

(Christel Humme (SPD): Das wissen wir noch nicht genau! Abwarten!)

Das verstärkt meine Hoffnung, dass wir auf sachlicher Ebene mit mehr Kompetenz und weniger Ideologie zu der notwendigen Umsetzung gelangen werden.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bist du im Rechtsausschuss, Christel?)

Christel Humme (SPD):

Nein, bin ich nicht.

   Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gehb, nach dem juristischen Seminar sollten wir uns jetzt den politischen Argumenten zuwenden. Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz deutlich: Ich bin sehr stolz darauf, dass es uns in der letzten Legislaturperiode gelungen ist, ein einheitliches Antidiskriminierungsgesetz im Bundestag zu verabschieden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich weiß, dass es nicht in Kraft getreten ist. Der Bundesrat hat Einspruch erhoben; jeder weiß das. Heute liegt es wieder als Gesetzentwurf der Grünen vor.

   Um es gleich vorwegzunehmen: Ich stehe zu diesem Gesetz, genauso wie die SPD-Fraktion. Das ist ein gutes Gesetz; es ist ein guter Kompromiss, den wir auf den Weg gebracht haben. Wir wissen uns mit diesem Gesetz an der Seite der Betroffenen sowie an der Seite der Gewerkschaften, der Verbände und der Organisationen, die uns geholfen haben, dieses Gesetz zu gestalten. Ich nenne stellvertretend zwei Verbände: die Caritas und die Lebenshilfe. Dank der konstruktiven Kritik dieser Verbände ist es erst möglich gewesen, dass wir nach der Anhörung diesen wunderbaren Kompromiss auf dem Tisch des Hauses haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Erwartungsdruck hinsichtlich der Umsetzung der europäischen Richtlinie ist sehr hoch. Wir werden jetzt in der neuen Koalition aus CDU/CSU und SPD

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Mit mir?)

- mit Ihnen auch, mal sehen - beraten müssen. Ich appelliere ganz bewusst an Sie: Stellen wir den Schutz vor Diskriminierung in den Mittelpunkt der Beratungen und machen wir das zu unserer gemeinsamen Aufgabe! Ich möchte Sie daran erinnern, dass sich die Regierung Kohl bereits 1997 mit der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages in Art. 13 verpflichtet hat, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu bekämpfen. Gerade weil diese Ratifizierung 1997 in Ihrer Regierungszeit vorgenommen worden ist, ist das Gesetz, das jetzt auf dem Tisch des Hauses liegt, eine hervorragende Grundlage für die weiteren Beratungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

   Ich nehme natürlich die Presse wahr, keine Frage. Da nehme ich mit Erstaunen zur Kenntnis, dass gerade die Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Frau Heinen, das vorliegende Gesetz kategorisch ablehnt. So zu lesen am 12. Januar dieses Jahres.

(Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat sie!)

Sie lehnt es unter anderem ab, weil es ihrer Meinung nach zu weit über die Vorgaben der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien hinausgeht. Ich sage Ihnen: Wir haben dies in der letzten Legislaturperiode ganz bewusst getan.

(Daniela Raab (CDU/CSU): Das haben wir befürchtet, dass das bewusst war!)

- Hören Sie zu! - Wären wir nämlich nicht so vorgegangen, wäre im Zivilrecht beispielsweise das Merkmal „Behinderung“ nicht vorgesehen. Das hätte zur Folge, dass ein Mensch mit Behinderung und dunkler Hautfarbe vor Diskriminierung geschützt wird, ein Mensch mit Behinderung und weißer Hautfarbe aber nicht. Eine solche Ungleichbehandlung wollen wir nicht.

(Daniela Raab (CDU/CSU): Das ist eine grobe Unterstellung!)

Ein Antidiskriminierungsgesetz, das schon so angelegt ist, dass es Merkmale diskriminiert, ist unlogisch aufgebaut und macht keinen Sinn.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Daniela Raab (CDU/CSU): Das ist doch Unsinn!)

   Wie wir in den Reden gerade gehört haben, auch in Ihrer, Frau Dyckmans, wird gebetsmühlenartig behauptet, dieses Gesetz sei zu bürokratisch.

(Mechthild Dyckmans (FDP): Ist es auch!)

Das ist ein Argument, das oft auch von den Wirtschaftsverbänden vorgetragen wird. Offensichtlich sind sie sich da einig. Ich habe ab und zu den Verdacht, dass das pauschale Argument des zu hohen bürokratischen Aufwandes genau dann angeführt wird, wenn es darum geht, gesellschaftliche Fortschritte gerade für die Frauen zu verhindern.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist die CDU!)

Was sagen Sie als Kritiker denn den Frauen? Wie sollen sie Ihrer Meinung nach ihre Forderungen nach gleichwertigem Lohn für gleichwertige Arbeit einfordern? Was sagen Sie den Frauen, die es trotz besserer Qualifikation beim Aufstieg in die Führungsetagen noch immer bedeutend schwerer haben als ihre männlichen Mitbewerber? Das populistische Argument „zu viel Bürokratie“ hilft den Frauen nicht, Gleichstellung zu erreichen. Mit dem vorliegenden Antidiskriminierungsgesetz aber haben sie ein Instrument, das ihnen hilft, mit Unterstützung der Verbände ihre berechtigten Interessen im Kampf gegen Benachteiligung durchzusetzen.

   Es wird oft behauptet - auch Sie, Herr Gehb, haben das gemacht; Sie haben Ihre ganze Rede darauf aufgebaut -, das ADG stehe der Vertragsfreiheit entgegen.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Fundamental!)

Da frage ich mich natürlich: Welche Vertragsfreiheit meinen Sie eigentlich?

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Die, die wir seit mehreren hundert Jahren kennen!)

Meinen Sie die Vertragsfreiheit immer nur für den stärkeren Partner, zum Beispiel für die Arbeitgeber,

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Nein, das habe ich ja gerade ausgeführt!)

und nicht für den schwächeren Partner, zum Beispiel für die Behinderten?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind Jurist. Sie wissen ganz genau, dass wir Einschränkungen der so genannten Vertragsfreiheit, wie sie immer wieder beschworen wird, schon jetzt haben,

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Eben!)

zum Beispiel im Verbraucherschutzgesetz.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Eben!)

Das hat mit Antidiskriminierung also erst einmal nichts zu tun.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Hunderte von Schutznormen haben wir in Deutschland!)

   Wir müssen Vertragsfreiheit zunächst für die Gruppe der Benachteiligten erreichen. Das ist mir wichtig. Auch das ist ein Ziel des Antidiskriminierungsgesetzes und ein Gebot der Verfassung.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Humme, ich muss Sie zwischendurch auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.

Christel Humme (SPD):

Ich sage noch zwei Sätze. Dann bin ich fertig.

   Ich gebe Frau Dyckmans Recht: Wir führen die Diskussion um das Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland meiner Ansicht nach viel zu verengt und viel zu polemisch. Ich bin überzeugt: Wirksamer Diskriminierungsschutz ist nicht wirtschaftsfeindlich und kein Widerspruch zu wirtschaftlichen Interessen. Ich wünsche mir für die nachfolgenden Monate, dass wir weniger aufgeregt diskutieren und dass wir genau hinschauen und juristische Spitzfindigkeiten nicht über die Interessen der Benachteiligten setzen.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Man kann die Juristerei aber nicht ausblenden!)

Wenn wir das tun, dann bin ich davon überzeugt, Herr Gehb, dass wir es gemeinsam schaffen, auch im Interesse der Betroffenen, im Interesse der Menschen, für die wir gute Politik machen sollen, ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, auch einige Betroffene auf den Besucherrängen zu sehen. Ich weiß, dass viele dieser Debatte mit sehr großer Aufmerksamkeit folgen. Ich grüße auch Sie draußen. Die Hilfe derjenigen, die betroffen sind, dabei, dieses Gesetz - wenn es geht, ein besseres, ein stärkeres Gesetz - durchzusetzen, ist sehr dringend. Ihre Rede, Herr Kollege, hat das sehr deutlich gemacht.

   Es ist sehr wichtig, dass wir von diesem Parlament aus allen Menschen sagen, zeigen und alle Menschen auch spüren lassen: Wer diskriminiert, ist in diesem Land geächtet. Und wer diskriminiert wird, hat die Unterstützung des Staates, auch die Unterstützung aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier in diesem Parlament.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der heute wieder vorgelegte Gesetzentwurf geht nur sehr geringfügig - ich finde: viel zu wenig - über das hinaus, was die EU zwingend vorschreibt. Ich vermute sogar, wir würden uns mit den Kollegen der Grünen sehr schnell darüber einigen können, dass das eigentlich weiter gehen müsste. Es ist, finde ich, kein besonders gut ausgewogener Kompromiss, sondern ein sehr schwacher. Deshalb schlagen wir klipp und klar vor, das Gesetz mindestens an sechs Stellen zu verstärken. Ich will Ihnen auch gleich sagen, an welchen:

   Erstens geht es darum, anstelle des eingeschränkten Anwendungsbereichs des Benachteiligungsverbots ein klares Bekenntnis dafür abzugeben, dass es auf alle Schuldverhältnisse - meinetwegen mit Ausnahme des Familien- und des Erbrechts - ausgedehnt wird.

   Zweitens. Außer bei Gefahren für Leib und Leben des Betroffenen bzw. der Betroffenen oder von Dritten - darauf werde ich noch etwas näher eingehen - sollte es keine Ausnahmetatbestände beim Diskriminierungsverbot geben.

   Drittens. Wir brauchen ein echtes Verbandsklagerecht und nicht das Abtretungsrecht, wie es jetzt vorgesehen ist.

   Viertens. Das Gesetz braucht wirksame und natürlich verhältnismäßige, also dem erlittenen Schaden angemessene, und abschreckende Schadensersatz- und Schmerzensgeldregelungen, damit Diskriminierer, egal ob es sich um Personen oder Institutionen handelt, wissen, dass ihre Taten geahndet werden - momentan ist das leider nicht der Fall -, und zwar mit empfindlichen Strafen oder Geldbußen.

   Fünftens. Wir meinen, der Begriff „Rasse“ sollte in einem deutschen Gesetz nicht vorkommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Man kann anstelle dessen die Merkmale Hautfarbe, Sprache, Nationalität und Staatsangehörigkeit aufnehmen.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das steht nun mal im Europarecht!)

- Das heißt aber nicht, dass wir es nicht anders machen dürfen.

(Christine Lambrecht (SPD): Doch!)

   Sechstens. Arbeitgeber sollten zusätzlich verpflichtet werden, zum diskriminierungsfreien Verhalten innerhalb ihres Betriebs dadurch beizutragen, dass sie entsprechende Schulungen und andere auf das Verhalten zielende Maßnahmen durchführen.

   Lassen Sie mich jetzt noch zwei detaillierte Bemerkungen zu dem machen, was ich mit der Änderung der Ausnahmebestimmungen meine: Jetzt steht in § 20 des Gesetzentwurfs, dass es ausreicht, einen „sachlichen Grund“ geltend zu machen, um doch diskriminieren zu können. Was ist denn ein „sachlicher Grund“? Da kann alles Mögliche geltend gemacht werden; das ist viel zu schwammig. Deswegen sagen wir: Außer bei Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen bzw. der Betroffenen und von Dritten sollte es keine Ausnahmetatbestände geben.

(Beifall bei der LINKEN)

   Was bedeutet es, wenn in § 19 Abs. 1 des Gesetzentwurfs auf Schuldverhältnisse und Verträge abgehoben wird, die „ohne Ansehen der Person“ geschlossen werden? Da lache ich mich tot. - Entschuldigung! - Wenn ich einen Vertrag abschließe, sehe ich die Person, mit der ich den Vertrag abschließe, immer an.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Es dürfen auch Sympathie und Antipathie eine Rolle spielen! Sie müssen eine Rolle spielen! Sympathie, Antipathie, Motive! Wir haben keine Motivzensur in Deutschland!)

- Deswegen sage ich ja gerade, dass dieser Ausnahmetatbestand abgeschafft werden muss. Er bringt nichts. Wir brauchen klare Verhältnisse. Es dürfen nicht Vorschriften erlassen werden, die dazu führen, dass dem Missbrauch des Gesetzes Tür und Tor geöffnet wird.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann gibt es keine Frauensauna und keinen Behindertenparkplatz mehr! Das sind sachliche Gründe, anders zu handeln!)

- Das sind Bevorzugungen. Die kann, ja muss es geben. Ich habe nicht gesagt, dass Bevorzugungen abgeschafft werden sollen. Das sind erforderliche Nachteilsausgleiche.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Seifert, da Sie ohnehin nur noch eine knappe Redezeit haben, möchte ich einen Vorschlag machen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da es zu diesem Gegenstand ganz offenkundig spontan keine hinreichende Übereinstimmung gibt, wird es sich gar nicht vermeiden lassen, das Thema in den Ausschussberatungen vertieft zu behandeln. Im Hinblick darauf lässt sich vielleicht auch das Maß an Zwischenrufen reduzieren, sodass das Thema hier im Rahmen der vereinbarten Redezeiten für heute hinreichend behandelt werden kann.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Kollege Seifert.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident, für die freundlichen Hinweise. Die Kolleginnen und Kollegen könnten ja auch Zwischenfragen stellen. Ich denke, wir werden das auch im Ausschuss noch behandeln.

   Ich will nur noch eines sagen. Wenn in § 19 Abs. 3 steht, dass die „Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen“ ausreicht, um Diskriminierung zu begründen, dann heißt das, dass ein schwules Pärchen mit der Begründung abgelehnt werden kann, dass in der Gegend schon drei wohnen und ein viertes nicht geduldet werden kann. Das kann ja wohl nicht sein.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Doch!)

   Meine Damen und Herren, ich bitte Sie: Verhindern Sie Diskriminierung, schützen Sie die Diskriminierten! Dann werden wir vorankommen.

   Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Karin Evers-Meyer.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Karin Evers-Meyer, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Antidiskriminierungsgesetz ist aus der Sicht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen ein gutes und vor allem ein dringend notwendiges Gesetz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Daran ändern auch die neuen Mehrheiten in diesem Hause nichts. Ich stehe uneingeschränkt zu dem, was dieses Gesetz sagt, und ich weiß, dass die mehr als 6 Millionen Menschen mit Behinderungen in unserem Land auf ein solches Gesetz warten.

   Das vorweggeschickt, gehöre ich aber nicht zu denjenigen, die ihre ganze Kraft in ein Projekt stecken, das am Ende nicht mehrheitsfähig ist. Der Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, der hier heute erneut eingebracht wurde, hatte keine Mehrheit, jedenfalls nicht im Bundesrat.

(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Aus diesem Grund plädiere ich ganz entschieden dafür, dass die Bundesregierung möglichst umgehend einen eigenen Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes vorlegt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Zeit drängt. Deutschland hat bereits die Umsetzungsfristen versäumt und wir laufen jeden Tag mehr Gefahr, dass uns dieses Versäumnis nicht nur politisch, sondern auch finanziell teuer zu stehen kommt.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, Menschen mit Behinderungen brauchen einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung. Die Debatte um das Antidiskriminierungsgesetz im letzten Jahr war oft überlagert von Polemik und Halbwahrheiten, die der Sache sehr geschadet haben. Lassen Sie mich daher noch einmal kurz aus Sicht der Beauftragten für die Belange behinderter Menschen auf die Fakten eingehen:

   Im Bereich des Arbeitsrechtes haben wir mit dem § 81 SGB IX bereits heute einen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung

(Daniela Raab (CDU/CSU): Eben!)

wegen einer Schwerbehinderung, und zwar inklusive der viel zitierten Beweislastumkehr, die ja eigentlich gar keine ist, sondern lediglich eine Beweiserleichterung,

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Richtig!)

wie wir sie seit längerem etwa auch aus dem § 611 a BGB kennen. Weder der § 81 SGB IX noch § 611 a BGB haben die von Mitgliedern dieses Hauses gerne an die Wand gemalte Prozessflut ausgelöst. Im Gegenteil: Beide Regelungen haben sich in der Praxis bewährt und niemand fordert heute mehr ernsthaft eine Abkehr von diesen Regelungen.

   Das bedeutet ja nicht, dass man über die Einzelheiten in einem neuen Gesetz nicht diskutieren kann. Ich erinnere bei aller Aufgeregtheit nur noch einmal daran, dass die Spielräume so groß gar nicht sind. So sieht etwa die einschlägige Richtlinie für das Arbeitsrecht den Schutz von Menschen mit Behinderungen eindeutig vor.

   Nun wollen einige diesen Schutz behinderter Menschen im allgemeinen Zivilrecht, also beim Zugang zu Dienstleistungen, Gütern oder Wohnraum, nicht gewähren. Da gibt es starke Widerstände. Tatsächlich sieht die einschlägige EU-Richtlinie lediglich den Schutz vor geschlechtsspezifischer und ethnischer Diskriminierung vor.

   Nun frage ich Sie aber, meine Damen und Herren: Schutz im Arbeitsrecht ja, beim Zugang zu alltäglichen Massengeschäften nein? Wie wollen wir das den mehr als 6 Millionen behinderten Menschen und ihren Familien in Deutschland erklären? Das können wir nicht erklären.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Keiner von uns hier im Hohen Haus kann akzeptieren, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung keinen Tisch im Restaurant bekommen oder ihnen ein Hotelzimmer verweigert wird. Wenn wir das hinnähmen, wäre das gelinde gesagt eine Schande.

(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE))

Es ist eine Schande, dass das täglich in Deutschland passiert. Ich kann Ihnen hierzu einen regen Schriftwechsel vorlegen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich denke, in diesem Punkt ist die ganz überwiegende Mehrheit im Hause - über alle Fraktionsgrenzen hinweg - meiner Meinung. Anders sieht das aber vielleicht bei den Versicherungsgeschäften aus. Da hat sich doch der eine oder andere durch die Versicherungen verunsichern lassen. Ich bin auch hier zu Gesprächen bereit, soweit sie sachlich geführt werden; denn ich bin davon überzeugt, dass am Ende auch hier jeder zu dem Ergebnis gelangen wird, dass es geradezu grotesk wäre, Menschen mit Behinderungen in diesem Bereich aus dem Diskriminierungsschutz auszuklammern. Es sind doch gerade behinderte Menschen, die oftmals einen erhöhten Versicherungsbedarf haben, und nicht die Angehörigen einer ethnischen Minderheit.

   Wie wollen Sie behinderten Menschen in Deutschland erklären, dass immer mehr private Lebensrisiken auf sie verlagert werden, immer mehr Eigenverantwortung von ihnen verlangt wird, ihnen aber auf der anderen Seite die Möglichkeit, diese Risiken zum Beispiel mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung, einer Lebensversicherung oder einer privaten Zusatzkrankenversicherung abzusichern, verwehrt bleibt? Das wäre in hohem Maße zynisch. Wer von den Menschen mehr private Vorsorge verlangt, der muss auch gewährleisten, dass alle Menschen freien Zugang zu Versicherungsleistungen bekommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Eines will ich hier und heute ebenfalls festhalten: Der Wert eines Regierungsentwurfes eines Antidiskriminierungsgesetzes wird ganz entscheidend davon abhängen, ob dieses Gesetz auch Menschen mit Behinderungen im allgemeinen Zivilrecht vor Benachteiligungen schützen wird.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Evers-Meyer, ich nutze die Gelegenheit gerne, Ihnen für Ihre neue Aufgabe als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen alles Gute zu wünschen. Sie wissen, dass Sie bei der Verfolgung dieser Aufgabe in allen Fraktionen engagierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben.

(Beifall)

   Für den Bundesrat erhält nun der Justizsenator des Freistaates Hamburg, Dr. Kusch, das Wort.

(Olaf Scholz (SPD): Hamburg ist kein Freistaat! Freie und Hansestadt!)

- Im Sinne unseres Zeitmanagements hoffe ich, dass der Justizsenator nicht einen allzu großen Teil seiner Rede auf die Klarstellung dieses Missverständnisses verwendet.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Dr. Roger Kusch, Senator (Hamburg):

Nein, denn seit der Debatte über den Bahnumzug ist Hamburg in Berlin bekannt genug. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei Ihnen, Frau Schewe-Gerigk, und Ihren Fraktionskollegen herzlich bedanken, dass Sie mir gestern Gelegenheit zu einer wunderschönen Fahrt von Hamburg nach Berlin durch das verschneite Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gegeben haben.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, so nett sind wir!)

Ich hatte eigentlich nicht vor, mich auf dieser Fahrt auf meine heutige Rede vorzubereiten,

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hätten Sie besser getan!)

sondern ich wollte Zeitung lesen.

   Ich habe also in der „Zeit“ herumgeblättert, dieses und jenes gelesen und blieb dann bei den Heiratsanzeigen hängen. Diese las ich nun nicht aus eigenem Interesse, sondern weil mich dann doch die heutige Debatte einholte. Ich wurde nämlich plötzlich stutzig und fragte mich, ob wir künftig noch das Vergnügen haben, in Zeitungen Heiratsanzeigen zu finden.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Land unter, Herr Senator! - Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach du liebe Zeit! Platter geht es nicht mehr!)

- Dann scheinen Sie eine bessere Juristin zu sein als ich. - Ich habe über diesen Punkt also nachgedacht und wurde so stutzig, dass ich mir die Mühe gemacht habe, die Experten der Justizbehörde in Hamburg anzurufen und nachzufragen, wie der Sachverhalt ist. Diese antworteten mir - das spiegelt Ihre Auffassung wider, Herr Gehb -: Der persönliche Bereich - wenn also jemand beispielsweise eine Anzeige schaltet, weil er einen Ehepartner sucht - werde vom Antidiskriminierungsgesetz nicht berührt.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig!)

Aber bei den Heiratsanzeigen von kommerziellen Heiratsvermittlern ist die Sachlage nicht so klar; denn sie diskriminieren im Interesse eines Dritten und nehmen Geld dafür.

(Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist unseriös, was Sie da machen! - Weitere Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Meinen Sie das eigentlich ernst?)

   Die Experten der Justizbehörde in Hamburg haben mir deshalb empfohlen, der Bundesregierung bei der Ausarbeitung eines neuen Gesetzentwurfs doch folgenden Ratschlag zu geben: Wenn man dieses Gewerbe schützen will - ich finde, es ist schützenswert; es hat sich noch niemand darüber beschwert, dass es Heiratsvermittler gibt -, dann müsste eine entsprechende Norm in das Gesetz aufgenommen werden, mit der der entsprechende Schutzbereich festgelegt wird.

(Ute Kumpf (SPD): Wir haben doch nicht Rosenmontag!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Dr. Roger Kusch, Senator (Hamburg):

Nein; denn es gibt noch viel zu diesem Gesetz zu sagen.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glaube ich Ihnen sofort!)

   Das zeigt die Schwierigkeit, vor der diese Bundesregierung steht und vor der die rot-grüne Bundesregierung vor einem Jahr stand. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, unglaublich komplexe Sachverhalte in Gesetzesform gießen zu wollen. Der Anspruch, dass Sie zentrale Erscheinungen unserer Gesellschaft in einige Paragrafen gießen und durch diese Paragrafen unsere Gesellschaft toleranter, gerechter und besser machen wollen, ist ein hybrider gesetzgeberischer Anspruch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich stimme Ihnen zu, Herr Gehb: Die EU-Normen sind aus Sicht eines Mitglieds der deutschen Gesellschaft zu weitgehend. Aber sie sind da und wir müssen sie umsetzen. Deshalb freut es mich, dass im Koalitionsvertrag steht, dass die Koalition aus CDU/CSU und SPD eine Eins-zu-eins-Umsetzung vorlegen wird. Selbstverständlich wird Hamburg einer solchen Eins-zu-eins-Umsetzung im Bundesrat zustimmen.

   Ich kann Ihnen aber auch sagen, welchem Gesetzentwurf wir auf keinen Fall zustimmen werden: einem Gesetzentwurf, in dessen Folge 5,6 Millionen Euro für eine überflüssige Institution ausgegeben werden. Wir haben nicht das Geld, für eine überflüssige Institution 5,6 Millionen Euro auszugeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Senator, es gibt einen neuen Wunsch der Kollegin Schewe-Gerigk zu einer Zwischenfrage.

Dr. Roger Kusch, Senator (Hamburg):

Da ich Sie sowieso ansprechen wollte, bitte ich Sie, auf Ihre Zwischenfrage zu verzichten.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist aber schade!)

   Mir ist aufgefallen, Frau Schewe-Gerigk: Die Sicht eines Regierungsabgeordneten scheint eine ganz andere zu sein als die eines Oppositionsabgeordneten.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich wollte über den Koalitionsvertrag sprechen!)

Wir hatten nämlich schon vor einem Jahr zusammen mit Herrn Röttgen und Herrn Scholz das Vergnügen, über dieses Thema zu diskutieren. Es ist Ihnen gelungen, mich mit einem Beispiel zu verblüffen, das ich ganz originell fand. Sie sagten mit relativ kämpferischem Gesichtsausdruck: Ich will nicht, dass jemand an einer Diskothek vom Türsteher abgewiesen wird, nur weil er Türke ist.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von einer Diskothek und einem Türsteher habe ich nicht gesprochen!)

- Das haben Sie gesagt.

(Widerspruch der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

- Doch, ich erinnere mich sehr gut, dass Sie von „Diskothek“ gesprochen haben.

(Ute Kumpf (SPD): Das heißt jetzt „Club“ bei uns!)

Ich bin nämlich auf dieses Beispiel eingegangen und habe Ihnen schon damals gesagt, dass ich den Umstand, dass wir in Großstädten wie Berlin, Hamburg, München und Frankfurt Diskotheken unterschiedlichen Zuschnitts haben und die einen 3 Euro für das Bier verlangen und die anderen 13 Euro - vielleicht gibt es sogar Diskotheken, in denen ein Bier 33 Euro kostet -, als gesellschaftliche Vielfalt und nicht als Diskriminierung empfinde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Christine Lambrecht (SPD): Das ist ja hochinteressant! Wir bekommen Ausgehtipps!)

   Frau Schewe-Gerigk, nun haben Sie Ihr Beispiel geändert. Das Jahr, das seitdem vergangen ist, scheint Sie von den Realitäten unserer deutschen Gesellschaft noch weiter entfernt zu haben, als Sie es ohnehin schon waren. Denn heute haben Sie ein Beispiel gebracht, das an Absurdität überhaupt nicht zu überbieten ist. Ich habe nicht ein einziges Mal in Deutschland die Situation erlebt, dass jemand wegen seiner Hautfarbe aus einem Restaurant geschmissen wurde.

(Christine Lambrecht (SPD): Das heißt doch aber nicht, dass es das nicht gibt! Diese Arroganz ist unglaublich! - Weitere Zurufe von der SPD)

- Es kann sein, dass ich nicht alles kenne, was in Deutschland passiert. Aber wenn Ihnen die Diskriminierungsbekämpfung wirklich am Herzen läge, dann würden Sie sich für ganz andere Sachverhalte interessieren.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für welche denn?)

Dann würden Sie sich zum Beispiel für den Sachverhalt interessieren, dass es Strafverfahren wegen sehr schrecklicher Verbrechen gibt, denen eine Diskriminierung zugrunde liegt,

(Christine Lambrecht (SPD): Kommen Sie doch zum Thema! - Gegenruf der Abg. Daniela Raab (CDU/CSU): Wir sind beim Thema!)

zum Beispiel dann, wenn eine Bande türkischer Jugendlicher eine zahlenmäßig etwas geringere Bande von Deutschrussen zusammenschlägt.

(Christine Lambrecht (SPD): Das ist nicht das Thema!)

Das ist Diskriminierung und schrecklich. Dafür gibt es aber Gott sei Dank schon Strafgesetze.

(Abg. Sebastian Edathy (SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

   Meine Damen und Herren, ich kann es mir nicht verkneifen, noch einen kurzen Gedanken an den Ergänzungsvorschlag der Linken zu verschwenden.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Senator, darf ich zwischendurch fragen, ob meine Vermutung richtig ist, dass Sie keine Zwischenfragen zulassen wollen?

Dr. Roger Kusch, Senator (Hamburg):

Ja.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Denn es hat jetzt mehrfach Anmeldungen gegeben. Das sortiert dann möglicherweise entsprechende Initiativen.

Dr. Roger Kusch, Senator (Hamburg):

Die Linken wollen jetzt, weil wir im bisherigen Entwurf viel zu wenige Diskriminierungsmerkmale haben, weitere Merkmale hinzufügen, zum Beispiel die Hautfarbe. Da frage ich mich: Warum nicht auch die Augenfarbe?

(Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Es gibt genügend Leute, die schon ob ihrer Augenfarbe auf Ablehnung gestoßen sind. Zum Beispiel erinnere ich mich an ein Lied der neuen deutschen Welle, der Gruppe „Ideal“, das „Deine blauen Augen“ hieß. Es war damals ein Lieblingslied von mir, vielleicht deswegen, weil ich keine blauen Augen habe.

(Christine Lambrecht (SPD): Das interessiert uns alle aber mächtig!)

   Sie können die Diskriminierungsmerkmale doch beliebig erweitern. Wenn Sie diesen Gedanken einmal zu Ende denken, dann muss man sich fragen, was das Diskriminierendste in Deutschland ist. Das Diskriminierendste ist, kein Geld zu haben. Das diskriminiert wirklich. Gehen Sie einmal durch die Friedrichstraße und drücken Sie Ihre Nase an den Schaufenstern platt, in denen Autos stehen, die für die meisten hier und für mich unbezahlbar sind. Es ist doch ziemlich diskriminierend, dass einige hineingehen und ein solches Auto kaufen können und es andere nicht können und ihre Nase platt drücken müssen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt)

   Wollen Sie vielleicht auch noch die Armut im Gesetz als Diskriminierungsmerkmal verbieten? Mit einem Gesetz hätten Sie die gerechte Gesellschaft, von der Sie immer geträumt haben.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie werden mit dem Antidiskriminierungsgesetz einige Unschärfen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bereinigen. Dabei wird Sie Hamburg im Bundesrat unterstützen, bei Übertreibungen aber nicht.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jerzy Montag.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Danke, Frau Präsidentin! - Herr Senator, ich wollte Ihnen sagen, dass ich es für keinen sehr guten parlamentarischen Stil halte, wenn Sie hier in den Deutschen Bundestag kommen - was Ihr verfassungsmäßiges Recht ist -, um als Mitglied einer Landesregierung zu reden, und wenn Sie sich dann Zwischenfragen so verweigern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN - Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Lieber Gott noch mal!)

   Ich will Ihnen allerdings auch sagen, dass ich Ihnen für den Beitrag, den Sie hier geleistet haben, dankbar bin, weil er in aller Öffentlichkeit klar macht,

(Zuruf von der SPD: Wo Sie stehen!)

zu welchen Gedankengängen Sie greifen müssen, um unser gutes Gesetz ablehnen zu können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

   Wenn Sie noch nie gehört haben, dass in Deutschland ein Mensch wegen seiner Hautfarbe an einer Gaststättentür abgewiesen worden ist, dann sind Sie blind und taub durch Ihr Leben gegangen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es gibt neben vielen anderen, Herr Senator, einen Verband deutscher Staatsangehöriger schwarzer Hautfarbe; bei diesem Bundesverband können Sie sich solche Fälle im Dutzend abholen, damit Sie für die Debatten der Zukunft ein bisschen schlauer werden.

   Zu einem weiteren Punkt will ich Ihnen noch etwas sagen. Selbstverständlich wird es, sollte dieses Gesetz - was ich sehr hoffe - endlich ins Bundesgesetzblatt kommen, immer noch möglich sein, dass Heiratsannoncen jeglicher Art veröffentlicht werden. Aber ich finde es richtig, dass es keine gewerbliche Heiratsvermittlung in Deutschland geben darf, die folgende Annonce aufgibt: Wir suchen für unsere Kundschaft junge Männer, aber Juden nehmen wir nicht. - Wer in einer deutschen Zeitung eine solche Annonce veröffentlicht, der diskriminiert. Ich finde, wir brauchen ein Gesetz, das so etwas fühlbar verbietet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Herr Senator, Sie hätten die Möglichkeit, zu antworten. - Wenn nicht, gebe ich das Wort der Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatten zu diesem Thema in der letzten Legislaturperiode haben sich immer durch einen Grundkonsens ausgezeichnet, nämlich den, dass wir uns hier alle einig waren, dass wir Diskriminierung gegenüber Behinderten, gegenüber Menschen mit einem etwas höheren Alter, gegenüber Menschen mit einer anderen Religion unerträglich finden.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Das finden wir alle!)

Lediglich im Bezug auf die Instrumente gingen die Positionen auseinander.

   Ich muss allerdings sagen, heute habe ich etwas erlebt, was dieser Erfahrung widerspricht.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schlechte Auswahl der Redner bei der CDU!)

Denn Herr Kusch hat hier vorgetragen, dass es ebenfalls eine Diskriminierung sei - diese vergleicht er offensichtlich mit den eben genannten -, wenn sich Menschen teure Autos nicht leisten können. Herr Kusch, wenn Sie sich einmal die Briefe von Eltern anschauen, die im Urlaub in Gaststätten oder auch in Hotels vom Wirt aufgefordert wurden, doch bitte das Lokal zu verlassen, weil sich die anderen Gäste durch ihr behindertes Kind gestört fühlen, und wenn Sie diese Form von Diskriminierung, von Verletzung, von menschenunwürdigem Verhalten damit gleichsetzen, dass Sie sich, ich mir oder viele andere Menschen in unserem Land sich ein ganz teures Auto nicht leisten können, dann halte ich das für eine unerträgliche Einstellung.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie macht deutlich, dass wir dieses Gesetz dringender denn je brauchen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben angesprochen, dass wir diesen Gesetzentwurf eingebracht hätten, um eine EU-Richtlinie umzusetzen. Das war auch ein Grund, aber der Hauptgrund ist, dass wir das, was ich vorhin als Grundkonsens bezeichnet habe, nicht als eine Worthülse für Sonntagsreden ansehen, sondern endlich handeln wollen, weil wir der Meinung sind, dass die vielen guten Ansätze, die wir in unserem Land sehen, nicht ausreichend sind und dass jetzt dringend gehandelt werden muss, damit sich solche Fälle, von denen ich einen ja beschrieben habe, in unserem Land nicht mehr ereignen.

   Deswegen ist Handlungsbedarf gegeben. Deswegen gehen wir auch über die EU-Richtlinie hinaus. All denjenigen, die das immer wieder sagen, gebe ich Recht. Jawohl, im zivilrechtlichen Bereich gehen wir über die EU-Richtlinie hinaus. Ich verstehe auch nicht, wie man aufseiten der EU zwei so unterschiedliche Richtlinien, die eigentlich den gleichen Sachverhalt betreffen, erlassen konnte. Ich kann niemandem vermitteln - selbst dann, wenn ich diese Einstellung hätte -, warum die Diskriminierung wegen Rasse verfolgt und geahndet würde, aber die Diskriminierung wegen Behinderung oder Alter nicht. Dafür gibt es keine logische Erklärung. Das ist eine Differenzierung ohne sachlichen Grund und die wollen wir nicht. Deswegen sind wir für eine Erweiterung. Wir wollen, dass auch Menschen mit Behinderung bewirtet werden, dass Schwule und Lesben einen Lebensversicherungsvertrag abschließen können sowie ältere Menschen einen Kreditvertrag vermittelt bekommen, wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Aus diesem Grunde erweitern wir die Merkmale um diese Punkte.

   Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die sachliche Ebene zurückkommen. Vielleicht kommen wir uns in den anstehenden Beratungen hier näher. Es geht nicht darum, dass sich der eine oder der andere durchsetzt, sondern darum, dass Menschen, die in unserem Land Diskriminierung erfahren, endlich sehen, dass vonseiten der Politik etwas dagegen getan wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin da sehr optimistisch, auch wenn einige Redebeiträge gezeigt haben, dass wir darüber noch mehr miteinander reden müssen. Herr Gehb, Ihre Rede insgesamt hat mich nicht optimistisch gemacht, nur die Tatsache, dass Sie mittlerweile wenigstens in einem Punkt offensichtlich einsichtig sind.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Das ist bei Ihnen eine Verständnisfrage!)

Sie haben nicht mehr von der Beweislastumkehr gesprochen - einer der ganz großen Punkte -,

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Doch! Beweiserleichterung habe ich gesagt!)

dass nämlich derjenige, der angeblich diskriminiert, alles offen legen muss. Sie haben endlich erkannt, dass in unserem Gesetzentwurf nur eine Beweiserleichterung geregelt ist. Das ist auch richtig und gut so. Ich sehe: Dort gibt es Bewegung. Ich hoffe, sie geht in die richtige Richtung. In diesem Sinne blicke ich den anstehenden Beratungen sehr optimistisch entgegen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Sie sind ja auch bescheiden in Ihren Ansprüchen!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Damit beende ich die Aussprache zu diesem Punkt.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/297 und 16/370 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 12. Sitzung - wird am
Montag, den 23. Januar 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/16012
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